Strassenverkehrsrechtstagung. 21. Juni /06/18. Qualifizierte grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 3 / 4 SVG)
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- Matilde Gerber
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1 Strassenverkehrsrechtstagung 21. Juni 2018 Wichtige Urteile aus dem Strafrecht Wichtige Urteile aus dem Strafrecht Qualifizierte grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 3 / 4 SVG) BGer 1C_397/2014 Die frühere Rechtsprechung Art. 90 Abs. 4 SVG stellt die unwiderlegbare gesetzliche Vermutung auf, dass besonders krasse Geschwindigkeitsübertretungen nach Massgabe der lit. a bis d qualifiziert schwere Verkehrsregelverletzungen im Sinn von Abs. 3 darstellen [ ]. Fällt somit eine Geschwindigkeitsüberschreitung unter den Rasertatbestand von Art. 90 Abs. 4 SVG, so ist kraft gesetzlicher Vermutung zwingend davon auszugehen, dass sie vorsätzlich begangen wurde und das hohe Risiko eines schweren Verkehrsunfalls mit Schwerverletzten und Toten geschaffen hat (E ). 1
2 BGE 142 IV 137 (1. Lockerung) X. fuhr mit seinem Fahrzeug an einem Sonntag mittags mit einer Geschwindigkeit von 110 km/h in Richtung Genf, wobei auf diesem Strassenabschnitt die Geschwindigkeit auf 50 km/h beschränkt war, so dass er die erlaubte Geschwindigkeit nach einem Sicherheitsabzug von 6 km/h um 54 km/h überschritten hatte. Die Genfer Justiz sprach X. deshalb der qualifiziert groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG schuldig. BGE 142 IV 137 (1. Lockerung) Rüge n Verletzung des Schuldprinzips und der Unschuldsvermutung: Man habe allein aufgrund seines objektiven Verhaltens befunden, er habe auch den subjektiven Tatbestand von Art. 90 Abs. 3 SVG erfüllt. BGE 142 IV 137 (1. Lockerung) n Geschwindigkeitsüberschreitungen gemäss Abs. 4 begründen keine unwiderlegbare gesetzliche Vermutung zu Gunsten der Erfüllung der subjektiven Tatbestandselemente von Abs. 3 n Der Richter muss überprüfen, ob der subjektive Tatbestand erfüllt ist n Hier lagen keine besonderen Umstände vor, welche die Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes verhindert hätten Bestätigung des Schuldspruchs 2
3 BGE 143 IV 508 (2. Lockerung) X. fuhr am 29. September 2014 um Uhr mit seinem Motorrad mit einer Geschwindigkeit von 114 km/h, obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der fraglichen Strasse 50 km/h betrug. Er hatte also die zulässige Höchstgeschwindigkeit (unter Berücksichtigung eines Sicherheitsabzuges von 6 km/h) um 58 km/h überschritten. Deshalb wurde X. von den zuständigen Genfer Gerichten wegen qualifizierter grober Verkehrsregelverletzung verurteilt. BGE 143 IV 508 (2. Lockerung) Rüge n Verletzung von Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG: Er habe mit seinem Verhalten kein hohes Risiko für einen Unfall mit Schwerverletzten oder Todesopfern geschaffen. BGE 143 IV 508 (2. Lockerung) n Wer das Tempolimit um einen der in Art. 90 Abs. 4 SVG festgelegten Richtwerte überschreitet, begeht in jedem Fall eine Verletzung elementarer Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 3 SVG. n Eine entsprechende Tempoüberschreitung genügt grundsätzlich auch, um im Sinne der fraglichen Bestimmung ein hohes Risiko für einen Unfall mit Schwerverletzten oder Todesopfern zu schaffen. n Aber: Dabei handelt es sich um eine Vermutung, die beim Vorliegen ausserordentlicher Umstände widerlegt werden kann. 3
4 BGE 143 IV 508 (2. Lockerung) n Insbesondere wenn die Beschränkung der Geschwindigkeit zu einem anderen Zweck als der Verkehrssicherheit angeordnet wurde etwa bloss vorübergehend aus ökologischen Gründen ist es möglich, dass der Tempoexzess nicht zu einer qualifizierten Gefahr im Sinne von Artikel 90 Absatz 3 SVG geführt hat. n Vorliegend bestehen keine solchen ausserordentlichen Umstände. Bestätigung des Schuldspruchs Rasen de lege ferenda Der Gesetzgeber n Motion Via sicura. Anpassungen vom der Verkehrskommission des Ständerates ( ): Auftrag an den Bundesrat die Regelung über die Raserdelikte dahingehend zu ändern, dass bei Fahrlässigkeit ein Ermessensspielraum für den Richter vorgesehen, die Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr gestrichen und die Mindestdauer für den Führerausweisentzug reduziert wird. In beiden Räten angenommen Rasen de lege la-ferenda und die Gewaltentrennung n 5. September 2017: Brief der Verkehrskommission des Ständerates an das Bundesgericht: ^ Die Kommission möchte [ ], dass bereits vor dem Inkrafttreten der Anpassungen an Via sicura bei Raserdelikten Härtefälle möglichst vermieden und dem richterlichen Ermessen und der Berücksichtigung des Einzelfalls mehr Gewicht geschenkt werden können. ^ Man dankt im Namen der Kommission im Voraus für die Berücksichtigung des Anliegens 4
5 Anordnung von Blutproben (Art. 241 StPO), Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Art. 91a SVG) und Wildschweine BGE 143 IV 313 X. wurde am 26. Juli 2015 um Uhr als Lenker eines Personenwagens von der Polizei angehalten und kontrolliert. Ein Drogenschnelltest lieferte ein positives Ergebnis auf Altund Frischkonsum von Cannabis. In der Folge wurde eine Blutprobe entnommen. Im Blut konnte kein aktiver Cannabiswirkstoff (THC), sondern nur THC-Carbonsäure (ein inaktives Cannabis-Abbauprodukt) nachgewiesen werden. Das Strafverfahren wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand wurde eingestellt, wegen des vorangegangenen Drogenkonsums wurde ein Strafbefehl erlassen. BGE 143 IV 313 Rüge Rechtswidrigkeit der Blutentnahme, da diese nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern von der Polizei angeordnet worden war. Ergo: Unverwertbarkeit des erlangen Beweises Evtl. Anspruch auf Genugtuung (Art. 431 StPO) 5
6 BGE 143 IV 313 n Im Rahmen von Art. 55 SVG angeordnete Blutproben sind Zwangsmassnahmen und Beweisabnahmen im Sinne der StPO. n Die Zuständigkeit für die Durchführung und Anordnung solcher Massnahmen richtet sich nach StPO. n Für die Anordnung der Blutentnahme ist nach Art. 198 Abs. 1 lit. a StPO die Staatsanwaltschaft zuständig. n Das gilt auch dann, wenn der Betroffene in diese einwilligt. n Für abweichende kantonale Vorschriften besteht kein Raum. BGer 6B_307/2017 X. wurde einer Atemalkoholkontrolle unterzogen und anerkannte den Messwert. Gegen die Durchführung der angeordneten Blutprobe setzte er sich dann aber zur Wehr. Deshalb wurde X. wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Art. 91a SVG) schuldig gesprochen. BGer 6B_307/2017 Rügen (Auszug) Die Blutprobe sei durch die Polizei angeordnet worden. Jedenfalls fehle ein zeitaktueller Beleg dafür, dass die Staatsanwaltschaft eine Blutentnahme rechtmässig im Sinne von Art. 251 i.v.m. Art. 241 StPO, ob telefonisch oder schriftlich, angeordnet oder dass die Polizei mit ihr Rücksprache genommen habe. 6
7 BGer 6B_307/2017 n In den Akten befindet sich kein Beleg dafür, dass die Staatsanwaltschaft die Abgabe einer Blutprobe angeordnet hätte und es kann nicht angehen, das Fehlen einer schriftlichen Anordnung resp. Dokumentation damit zu rechtfertigen, dass die Staatsanwaltschaft dies schlicht vergessen habe [ ]. n Kein Beleg keine Anordnung n Die Anordnung einer sachlich oder funktionell unzuständigen Behörde ist nichtig und kann somit nicht verletzt werden [ ]. Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen [ ] Art. 91a Abs. 1 SVG verletzt Bundesrecht und ist aufzuheben. n BGE 142 IV 324 X. fuhr gegen Uhr mit einer Geschwindigkeit von annähernd 60 km/h, als er von einem Wildschwein überrascht wurde, das die Strasse überquerte. Es kam zur Kollision das Fahrzeug wurde beschädigt. Da X. wusste, zur Avisierung der Polizei verpflichtet zu sein, trank er nun ca. 20 ml Carmol mit 64 % Alkohol, um damit das Ergebnis eines allfälligen Alkoholtests zu verfälschen. Erst dann rief er die Polizei. X. wurde von der waadtländischen Justiz wegen dieses Verhaltens der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit schuldig gesprochen. BGE 142 IV 324 Erläuterung des s 7
8 BGE 142 IV 324 Rüge n Verletzung von Art. 91a SVG: Die objektiven und die subjektiven Elemente des Tatbestandes seien nicht erfüllt. BGE 142 IV 324 n Klar: Der Zweck eines Alkoholtests wurde vereitelt (sog. Nachtrunk) n Aber: Musste mit einer solchen Massnahme zur Feststellung der Fahrunfähigkeit gerechnet werden? n Im Falle eines Unfalles muss grundsätzlich mit einer Kontrolle des Blutalkoholgehalts gerechnet werden, ausser wenn dieser unzweifelhaft auf eine völlig vom Fahrzeugführer unabhängige Ursache zurückzuführen ist. BGE 142 IV 324 n Die Umstände des von X. verursachten Unfalles konnten nicht als banal betrachtet werden, weil dieser auf ein Wildschwein aufgeprallt ist, ohne dass irgendein besonderer Umstand den Zusammenstoss erklärt (im Original: sans qu'aucun élément particulier n'explique la collision [sic!]. n Unter diesen Umständen erschien der Befehl, sich einer Kontrolle des Blutalkoholgehaltes zu unterziehen, als sehr wahrscheinlich, was dem Beschwerdeführer nicht entgehen konnte, so dass die objektiven und subjektiven Elemente der Straftat erfüllt sind. Bestätigung des Schuldspruchs 8
9 Strafbefehlsverfahren (Art. 352 ff. StPO) und Zustellung (Art. 85 ff. StPO) BGE 142 IV 286 n Am 22. Mai 2014 verurteilte die Staatsanwaltschaft X. mit Strafbefehl wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand. n Am 23. Mai 2014 konnte der eingeschriebene Strafbefehl nicht zugestellt werden, deshalb wurde er bei der Post zur Abholung hinterlegt. X. holte ihn nicht ab. n Am 13. Juni 2014 spedierte die Staatsanwaltschaft den Strafbefehl nochmals per A-Post mit dem Hinweis, er sei mit dem Vermerk nicht abgeholt zurückgeschickt worden. Zudem machte die Staatsanwaltschaft X. darauf aufmerksam, dass der Fristenlauf mit der neuerlichen Zustellung nicht neu beginne. n Am 14. Juni 2014 erhob X. Einsprache. BGE 142 IV 286 Rüge n Keine gehörige (und damit fristauslösende) Zustellung: Es sei für ihn nicht erkennbar gewesen, dass es sich um eine Sendung der Staatsanwaltschaft gehandelt habe. Auf dem Abholschein seien lediglich die Sendungsnummer und die Aufgabestelle ersichtlich gewesen. 9
10 BGE 142 IV 286 n Für die Annahme der Zustellfiktion ist vorauszusetzen, dass der Empfänger diejenige Behörde als Absender erkennen kann, mit deren Sendung er rechnen muss. n Der Absender muss eindeutig identifizierbar sein. n Auf dem Briefumschlag war die Staatsanwaltschaft als Absender aufgeführt. n Das konnte X. zwar nicht lesen (denn er hat ja die Sendung nicht abgeholt), das hat er sich aber selber zuzuschreiben. Gehörige Zustellung; Einsprachefrist verpasst Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit, Diskussion 10
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