Sehr geehrter Herr Pötzsch, sehr geehrter Herr Wilkoszewski, sehr geehrte Frau von Oppeln-Bronikowski, sehr geehrte Frau Bünning,

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1 Wie leben Kinder in Deutschland? Pressekonferenz zum Datenreport 2018 Mittwoch, 14. November 2018, 10 Uhr Grußwort Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung Sehr geehrter Herr Pötzsch, sehr geehrter Herr Wilkoszewski, sehr geehrte Frau von Oppeln-Bronikowski, sehr geehrte Frau Bünning, sehr geehrte Damen und Herren. Wie leben Kinder in Deutschland die Leitfrage dieser heutigen Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung des Datenreports 2018 ist für mich in doppelter Hinsicht ein zentrales Thema. Als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung stehe ich einer Institution vor, für die das Wissen über die Lage von Kindern und Jugendlichen in 1

2 Deutschland zentral für heutige und künftige Fragen politischer Bildung, des demokratischen Zusammenhalts und der Adressierung von Bildungsangeboten ist. Als Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks gehört sozusagen die Lobbyarbeit für Kinderrechte, für die Beseitigung von Kinderarmut oder für die Stärkung der Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zum Kerngeschäft. Die Zahlen im Datenreport 2018 der neusten Auflage des gemeinsam mit unseren Partnern erstellten Standardwerks der Sozialberichterstattung liefern essenzielle Informationen, Statistiken und Einordnungen zu zahlreichen Aspekten der deutschen Gesellschaft. In diesem Jahr haben wir einen besonderen Fokus auf die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen gelegt. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben hier schon zentrale Punkte angesprochen. 2

3 Ich möchte hier nochmal Aspekte der sozioökonomischen Lage von Kindern speziell der Gefährdung durch Kinderarmut, der Situation von Kindern mit Migrationshintergrund und auf Faktoren der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen eingehen. Kinderarmut und Armutsgefährdung Im Jahr 2016 waren wie Sie im aktuellen Datenreport nachlesen können 14,3% der Kinder unter sechs Jahren armutsgefährdet. Für Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren lag dieser Anteil bei 14,1%. Kinder und Jugendliche von 12 bis 17 Jahren waren mit 17,9% überdurchschnittlich armutsgefährdet. Wir sprechen von 15,4% aller Menschen unter 18 Jahren also von fast jeder sechsten/ jedem sechsten Minderjährigen. Was bedeutet armutsgefährdet? Den Zahlen im Datenreport werden die Daten aus der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen der 3

4 Bevölkerung zu Grunde gelegt. Nach Definition der EU gelten Personen als»verarmt«,»wenn sie über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist«. Ausgehend davon gilt eine Person als armutsgefährdet, wenn ihr Nettoeinkommen weniger als 60% des mittleren Einkommens ihres Landes beträgt. Erhebungen, die nicht nur das Einkommen, sondern auch weitere soziookönomische Faktoren zu Grunde legen, kommen teilweise zu noch höheren Zahlen bei der Armutsgefährdung. Gerade für eine reiche Volkswirtschaft wie Deutschland, deren wirtschaftliche Performance immer wieder gepriesen wird, ist das ein mehr als beschämender Befund. In den vergangenen Jahren sind hier in Deutschland kaum Fortschritte gemacht worden. Im Gegenteil: Im Vergleich zu 2008 stagniert der Anteil von Armut 4

5 gefährdeter Kinder trotz guten Wirtschaftsdaten und medialer Aufmerksamkeit für das Thema. Kinder und Jugendliche in Haushalten mit alleinerziehenden Müttern oder Vätern sind dabei am stärksten von Armut gefährdet. Armut bei Kindern und Jugendlichen bedeutet materielle Entbehrung. Armut und Armutsgefährdung führen aber auch zu sozialer Ausgrenzung, zu schlechterer Gesundheit, zu schlechteren Bildungschancen und zu insgesamt weniger Teilhabe an der Gesellschaft. Die materiellen Grundlagen sind der eine wichtige Aspekt, der in der Debatte eine Rolle spielen muss. Der statistisch messbare ökonomische Mangel ist die Grundlage einer dringend gebotenen Diskussion über politische Maßnahmen. Es stellt sich zudem auch von Seiten der politischen Bildung die Frage, wie die sozialen Problemlagen, gerade an den vermeintlichen Rändern unserer Gesellschaft, beschrieben und adressiert werden können. 5

6 Aber Kinderarmut ist nicht ausschließlich materielle Armut und somit auch nicht ausschließlich mithilfe finanzieller Leistungen zu lösen. In Armut lebende und von Armut gefährdete Kinder und Jugendliche entbehren teils essenzielle Dinge: ausreichende und angemessene Ernährung, gute Gesundheitsvorsorge, angemessene Wohnverhältnisse, passende Kleidung oder die Möglichkeit zur Teilnahme an Kultur- und Freizeitaktivitäten. Gleichzeitig führt die materielle Entbehrung oftmals auch zu sozialer Stigmatisierung, die den Ausweg aus Armut zusätzlich erschwert oder sogar in einen Dauerzustand verwandelt. Ein anderer wesentlicher Aspekt ist nämlich die Frage nach kultureller, sozialer, aber auch politischer Teilhabe, die für in Armut lebende und von Armut gefährdete Kinder und Jugendliche besonders erschwert wird. Armut wirkt in alle Bereiche des Lebens, sie beeinflusst Bildungs- und Lebenschancen und wirkt sich auf Selbstverständnis und Habitus aus. 6

7 Es wurde bereits angesprochen, dass Bildungschancen in Deutschland erheblich von der sozialen Herkunft abhängen. Die Zahlen im Datenreport zeigen auch, dass Klassenpositionen immer noch quasi vererbt werden, was gerade Menschen am unteren Rand der sozioökonomischen Leiter im schlimmsten Fall lebenslang auf eine bestimmte soziale Klasse festlegt. Kinder und Migrationshintergrund Wenn man auf die Lebenswelten und Lebensrealitäten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland blickt, zeigt sich auch hier der Trend zu einer immer vielfältigeren Gesellschaft. Mehr als jeder fünfte Mensch in Deutschland hat seine Wurzeln im Ausland. 36 % aller Kinder in Deutschland verfügen über einen Migrationshintergrund. Von den 13,4 Millionen Kindern sind das 4,9 Millionen diese Zahlen alleine machen deutlich, dass Diskussionen, ob 7

8 Deutschland nun ein Einwanderungsland ist oder nicht, vollkommen an der gesellschaftlichen Realität vorbeigehen. Es gilt, diese Pluralität und Heterogenität anzuerkennen und ernst zu nehmen es gilt aber auch, soziale Schieflagen, etwa im Bildungsbereich, bei den Wohnverhältnissen oder bei Einkommensverhältnissen nachhaltig zu adressieren und Änderungen anzustoßen. Gerade bei Kindern werden die Missverhältnisse sehr deutlich, wenn man in den neuen Datenreport blickt: So ist bei Kindern mit Migrationshintergrund das Risiko, von Armut gefährdet zu sein, fast dreimal höher als bei Kindern ohne Migrationshintergrund. Bei den in Deutschland lebenden Kindern ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind sogar über die Hälfte armutsgefährdet. Insgesamt leben Kinder mit Migrationshintergrund in Haushalten mit schlechterer finanzieller Ausstattung, auf weniger Wohnraum und sie besuchen seltener ein Gymnasium. 8

9 Als wir vor zweieinhalb Jahren den Datenreport 2016 hier vorgestellt haben, habe ich deutlich gemacht, dass die durch Zuwanderung bedingte gesellschaftliche Transformation ausgehandelt und gestaltet werden muss. Hier wird es in Zukunft weiterhin wichtig sein, über soziale Durchlässigkeit und über die gleichberechtigte Teilhabe aller Mitglieder unserer Gesellschaft zu sprechen. Gerade wenn wir wollen, dass die beschriebenen relativen Unterschiede nachhaltig eingeebnet werden, ist es notwendig, Integration als Aufgabe zu sehen, die auch die Mehrheitsgesellschaft in die Pflicht nimmt und ebendiese soziale Durchlässigkeit gewährleistet. So sind die Erkenntnisse zu sozialen Lagen von Kindern und Jugendlichen, die auch unmittelbar ihre gesellschaftlichen Aufstiegschancen berühren, mit der Frage nach einem gesellschaftlichen WIR verbunden. Gerade die Situation von vermeintlich oder real schwachen Mitgliedern einer Gesellschaft sind ein wichtiger Gradmesser dafür, ob ein Land 9

10 wie Deutschland, das sich nach wie vor als soziale Marktwirtschaft begreift, seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird. Zumal es offensichtlich nicht gelingt, den oft beschworenen ökonomischen Erfolg Deutschlands in eine nachhaltige Verbesserung der Lebensverhältnisse großer Gruppen der Gesellschaft umzuwandeln. Partizipation von Kindern und Jugendlichen Kinder haben einen besonderen Anspruch auf Fürsorge und Unterstützung. So formuliert es auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die UN-Kinderrechtskonvention. In dieser Konvention sind die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen verankert. Ihr Wille ist in Angelegenheiten, die sie betreffen, entsprechend zu berücksichtigen. Die politische Bildung hat die Aufgabe, die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen abzubilden und adäquate und zielgruppengerechte Angebote zu finden. Auch hier geben die 10

11 Erkenntnisse aus dem Datenreport was die sozioökonomischen Verhältnisse, aber auch das Freizeitverhalten, das Mediennutzungsverhalten usw. betrifft Aufschlüsse für unsere weitere Arbeit. Angebote, die sich beispielsweise über soziale Medien oder Webvideo-Formate dezidiert an jugendliche Zielgruppen richten, spielen eine immer größere Rolle in der politischen Bildungsarbeit. Auch hier gilt es, die Bandbreite der Lebensrealitäten zu erfassen und anzusprechen, um das Verständnis für demokratische Prozesse bereits früh einzuüben. Hierfür benötigt es aber einer Stärkung der demokratischen Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Das vertreten eines eigenen Standpunktes, die Diskussion und das Aushandeln von Kompromissen sind Eckpfeiler eines demokratischen Bewusstseins und diese Fähigkeiten können nicht früh genug gefördert und gestärkt werden. Und natürlich hängen die Möglichkeiten der Teilhabe 11

12 wiederum von sozioökonomischen Faktoren ab, vor denen wir nicht die Augen verschließen können. Die Sozialberichterstattung des Datenreports kann dabei helfen, die Sachverhalte faktenbasiert und in der notwendigen Differenzierung aufzunehmen und zu diskutieren. In Zeiten, in denen Gruppen mit völkischer Agenda Stimmungen, subjektive Wahrnehmungen und diffuse Gefühle partikularer Gruppen zum Gradmesser politischer Willensbildung erklären wollen, scheint eine Publikation wie der Datenreport wichtiger denn je. 12