1 Einleitung Was also ist die Zeit?
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- Edith Roth
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1 LESEPROBE
2 1 Einleitung Was also ist die Zeit? Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. (Augustin von Hippo) Nicht erst der Kirchenvater Augustin ist in seinen Confessiones der Frage nach dem Wesen der Zeit nachgegangen, schon die Begründer der antiken Philosophie beschäftigten sich mit dieser Frage, die hier als Einstieg in die nachfolgende Untersuchung zur Darstellung der Zeit und Zeitwahrnehmung im skandinavischen Großstadtroman des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch einmal aufgeworfen werden soll, um damit einen Beitrag zum Zeitdiskurs zu leisten: So also wird die Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts wahrgenommen! Dabei geht die Analyse davon aus, dass auch die Zeit als Wirklichkeit stiftender Wert Veränderungen unterliegt, wenn sich die Lebenswirklichkeit der Menschen radikal wandelt. Durch einschneidende Erneuerungen wird die Zeit erst als Phänomen des menschlichen Wirklichkeitsbezuges wahrgenommen, weil wie schon bei Augustin gilt: Erst die Frage nach der Zeit wirft das Problem der Zeit überhaupt auf. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wird der klassische Zeitbegriff zur Disposition gestellt, als durch die Industrialisierung und die Entstehung der Großstädte ein neues Zeiterleben geschaffen und erfahren wird. Doch von welcher Art ist diese Zeitwahrnehmung, was macht sie so grundsätzlich anders, dass die Zeit zum Thema in Wissenschaft, Philosophie und Kunst wird? Welchen gesellschaftlichen, ökonomischen und geistigen Einflüssen ist die Zeitvorstellung der Menschen zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgesetzt? Um diese Fragen ausführlich und erhellend beantworten zu können, wird im anschließenden Theoriekapitel zunächst die Zeitvorstellung in Kategorien aufgeteilt, die den jeweiligen, oben genannten Einflusssphären zugeordnet werden. Damit wird nicht nur der Zugang zur Zeitthematik in der Analyse erleichtert, sondern auch dem Wirklichkeitsverfall der Dekadenz als Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts und dem daraus abgeleiteten Zerfall der Zeit in Zeitfragemente, der in der Dekadenz als Sieg der Teile über das Ganze gefeiert wird, auch formal Ausdruck verliehen. Die Zeitfragmente werden im Folgenden der Einfachheit halber Zeiten genannt ohne dabei einen Anspruch auf Objektivität oder Vollständigkeit zu haben. Danach werden diese Zeitkategorien erläutert, indem ihre Entstehung und Entwicklung dargestellt wird. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Aspekten der Zeitvorstellung, die in den für die Analyse ausgewählten Texten eine besondere Relevanz für die inhaltliche und formale Darstellung der Zeit haben. 13
3 Trotz der Fokussierung auf einzelne Zeitkategorien und ihre Beziehungen zueinander muss der Komplexität der zeitlichen Zusammenhänge in den Texten durch eine gründliche theoretische Vorarbeit Rechnung getragen werden. Dabei wird jedoch stets auf den Rückbezug der Kategorien auf die eigentliche Arbeitshypothese geachtet: Die Veränderungen der Lebensbezüge bewirken einen Wandel in der Zeitwahrnehmung und somit ein neues Zeitverständnis. Die textlichen Nachweise hierfür liefern drei der wichtigsten skandinavischen Großstadtromane des 19. Jahrhunderts. August Strindbergs Röda Rummet, Herman Bangs Stuk und Knut Hamsuns Sult werden in der Reihenfolge ihres Erscheinens einzeln analysiert, wobei die Ergebnisse zum schwedischen Roman als Referenzwerte für die beiden folgenden Untersuchungen genutzt werden, so dass sowohl eine innerskandinavische als auch literaturhistorisch vergleichende Analyse möglich wird. Werden die Resultate der Textbetrachtungen vornehmlich das Zeitverständnis des 19. Jahrhunderts betreffen, so soll doch auch am Ende dieser Arbeit ein aktueller Bezug zum gegenwärtigen Zeitgeist hergestellt werden. Denn erst durch die Feststellung, wie wir heute unsere Zeit im Vergleich zu den Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wahrnehmen, können Leser und Verfasser gleichermaßen auf Augustins Frage antworten: Scimus! 14
4 2 Die Zeiten ändern sich Das Zeitverständnis des 19. Jahrhunderts Die Frage ist: Wie ist deine Zeit? Weich oder hart? Mechanisch oder lebendig? Erbarmungslos oder gnädig? Leer oder gefüllt? (Alfonso Perceira) Wie Zeit wahrgenommen und bewertet wird, ist nicht nur eine neurologische Individualleistung, sondern hängt ebenso von den ökonomischen und sozialen Bedingungen ab, in denen die Menschen leben. Aber die Zeit ist eben nicht einfach eine Idee, die gleichsam aus dem Nichts im Kopfe des einzelnen Menschen auftaucht. Sie ist auch eine je nach dem Stand der sozialen Entwicklung verschiedene soziale Einrichtung. 1 Zeitwahrnehmung und Zeitgestaltung sind somit eng mit den spezifischen historischen Gegebenheiten eines Menschen sowie einer Gesellschaft verknüpft. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Sichtweise auf die Zeit. Hinter dieser Historizität des Zeitbegriffs lässt sich dennoch eine Art grundlegendes Zeitschema erkennen, das sich im Umgang mit der Zeit in allen Kulturen, Gesellschaften und Perioden wiederfinden lässt. Dieses Schema wird auch als tripolares Zeitgefüge 2 bezeichnet, in dem sich der Mensch in zeitlichen Bezug zu sich selbst, seiner Umwelt und einer übergeordneten Transzendenz stellt. 3 Transzendente Zeit Exogene Zeit Mensch (Abb. 1) Endogene Zeit Für eine detailliertere Analyse des Zeitbegriffes und der Zeitwahrnehmung einer bestimmten Epoche und ihrer Gesellschaftsordnung wie in dieser Arbeit 1 Elias, Norbert: Über die Zeit. Herausgegeben und übersetzt von Schröter, Michael, Frankfurt / M. 1988, S. XXI. 2 Achtner, W., Kunz, St. u. Walter, Th.: Dimensionen der Zeit. Die Zeitstruktur Gottes, der Welt und des Menschen. Darmstadt 1998, S Ibid. 15
5 über die Zeitvorstellung gegen Ende des 19. Jahrhunderts scheint es jedoch ratsam, die exogene und endogene Zeit dieses tripolaren Gefüges stärker zu differenzieren. Gerade in der Hochzeit der europäischen Industrialisierung kam es im Zuge der Verbreitung neuer, Zeit und Arbeit sparender Arbeitsweisen und Kommunikationstechniken zu einer bisher unbekannten Aufspaltung der Zeiterfahrungen und zur Herausbildung diamentraler Zeitdefinitionen in den verschiedenen Lebensbereichen des modernen Lebens. Hierbei, wie im Verlauf der Analysen noch gezeigt werden wird, manifestierte sich eine grundlegende Ambivalenz zwischen dem Zeitempfinden bzw. der Zeitwahrnehmung als Grundlagen der Ich-Zeit und der pluralistischen Zeitgestaltung in der industrialisierten Lebenswelt, die maßgeblich die Veränderungen im Umgang mit der exogenen Zeit beeinflusste. Um sowohl den erwähnten Gegensatz zwischen der endogenen und der exogenen Zeit aus den literarischen Texten herausarbeiten zu können, als auch der Vielzahl der neuen exogenen Zeitphänome in der textlichen Umsetzung gerecht zu werden, wurde das tripole Zeitgefüge erweitert, indem zusätzliche Unterkategorien eingeführt und diese Kategorien einander neu zugeordnet wurden. Transzendente Zeit Naturzeit Soziale Zeit Ich-Zeit Objektive Zeit Uhrzeit (Abb. 2) In diesem neuen Zeitgefüge wurde die exogene Zeit in Naturzeit und soziale Zeit unterteilt und die endogene Zeit in Ich-Zeit umbenannt. Die Ich-Zeit als Zentrum der individuellen Zeitwahrnehmung des Menschen beinhaltet zum ei- 16
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