Beitrag: Kinder als Versuchskaninchen Medikamententests in Heimen
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- Oswalda Waltz
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1 Manuskript Beitrag: Kinder als Versuchskaninchen Medikamententests in Heimen Sendung vom 2. Februar 2016 von Otto Langels und Daniela Schmidt-Langels Anmoderation: Es ist eine Geschichte aus der Vergangenheit, die erschreckend in die Gegenwart hineinragt. Bis in die 60er Jahre, womöglich sogar länger, haben Pharmafirmen Medikamente an Heimkindern testen lassen. Es ist eine Geschichte, die schwer zu ertragen ist und die schwer zu recherchieren war. Denn in den Archiven ist nicht viel übrig geblieben. Die Spuren sind verwischt. Die Täter, darunter auch Ärzte, die während der NS-Zeit Kinder als lebensunwert in den Tod schickten, blieben unbehelligt. Die Opfer aber, die der Willkür solcher Ärzte wehrlos ausgesetzt waren, leiden bis heute. Mit Daniela Schmidt-Langels und Otto Langels haben sie erstmals über ihre Kindheit gesprochen. Eine Kindheit als Versuchskaninchen. Text: Das Franz Sales Haus - ein Behindertenheim in Essen. Wolfgang Wagner kam als neunjähriger Junge hierher, ein uneheliches Kind, das als Baby seiner Mutter weggenommen und ins Säuglingsheim gesteckt wurde. Mit der Diagnose Schwachsinn wurde er 1968 ins Franz Sales Haus abgeschoben. O-Ton Wolfgang Wagner, ehemaliges Heimkind: Es waren mehrere, die nicht da rein gehörten. Dass ich dann da zu den Schwachsinnigen, in dieser Gruppe eingestuft wurde, ist nach wie vor für mich nicht erklärbar, es ist nicht zu ergründen. Wolfgang Wagner war nie schwachsinning. Für den aufgeweckten Jungen hatte die falsche Diagnose fatale Konsequenzen. Jahrelang wurde er im Franz Sales Haus mit Psychopharmaka sediert, ruhig gestellt mit Medikamenten. O-Ton Ton Wolfgang Wagner, ehemaliges Heimkind: Akute Müdigkeit, in der Schule vor allen Dingen habe ich das dann zu spüren bekommen, bis hin zum tatsächlichen
2 Einschlafen. Heute sage ich immer zu der gegenwärtigen Situation, dass ich im Grunde genommen vergiftet wurde, also medikamentös vergiftet wurde. Die Medikamentendosis ist in seiner Heimakte akribisch festgehalten: 1971 Die bisherige Sedierung mit Esucos scheint nicht ausreichend ( ), er soll auf 3 x 15 mg Truxal eingestellt werden W. [Wolfgang] bekommt schon sehr lange 3 x 15 mg Truxal und abends 1 Tabl. Esucos ( ), außerdem 3 x 1 Tabl. Polybion. Truxal wird abgesetzt, ebenso Polybion Wolfgang wird auf 3 x 15 mg Truxal eingestellt, das soll eventuell auf 3 x 30 mg gesteigert werden. Das Medikament Truxal, das Wolfgang Wagner nehmen musste, ist ein Neuroleptikum und nur für Erwachsene geeignet. Kinder entwickeln schon bei niedrigen Dosierungen Störungen des Bewegungsablaufs. Heiner Fangerau, Professor für Medizinethik, kritisiert: Jahrzehntelang hätten Erzieher und Ärzte Kindern und Jugendlichen Medikamente verabreicht ohne deren Einwilligung. O-Ton Prof. Heiner Fangerau, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Köln: Wenn sie nicht einwilligungsfähig waren, hätten wenigstens ihre Stellvertreter, beispielsweise die Eltern, aufgeklärt werden müssen und einwilligen müssen. Wenn man jemandem ein Medikament gibt ohne Einwilligung, ist das de facto eine Körperverletzung. Doch Heimkinder wurden nicht nur mit Psychopharmaka abgefüllt, um sie ruhig zu stellen. Möglicherweise wurden sie auch als Versuchskaninchen missbraucht. Wunstorf bei Hannover. Marion Greenaway besucht zum ersten Mal seit 40 Jahren die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ihre Kinder begleiten sie auf diesem Weg. Als Jugendliche wurde sie 1972 vom nahegelegenen Kinderheim Birkenhof mehrmals hierher verlegt. Schreckliche Erinnerungen werden wach. O-Ton Marion Greenaway, ehemaliges Heimkind: Ich weiß das nicht, warum ich hier gewesen bin. Ich weiß nur, als ich im Birkenhof war, kriegte ich mit einem Mal Medikamente. Ich hab die Tabletten bekommen, zwei Sorten, morgens und abends. Warum ich die kriegte, weiß ich nicht. Ich war nie krank in meinem Leben. Ich hatte noch nicht mal
3 Kinderkrankheiten. Als 14-Jährige sei sie mit Medikamenten vollgepumpt worden. In ihrer Heimakte findet Marion Greenaway nichts darüber - allerdings Notizen über die regelmäßigen Verlegungen in die Jugendpsychiatrie Wunstorf. Dort werden bei ihr Gehirnströme gemessen und Hirnwasser entnommen. O-Ton Marion Greenaway, ehemaliges Heimkind: Warum? Da habe ich nie nachgefragt, das hat mir auch keiner erklärt. Wir haben das alle so hingenommen. Das war eben so, und weil wir das ja auch von anderen wussten, ich komm nach Wunstorf nächste Woche. Warum wurden Heimkinder zu Untersuchungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Wunstorf verlegt? Wurden an ihnen Medikamente getestet? Und wenn ja - hatte das System auch anderswo in Deutschland? Die Pharmazeutin Sylvia Wagner geht diesem schweren Verdacht in einer wissenschaftlichen Studie nach. O-Ton Sylvia Wagner, Pharmazeutin Universität Düsseldorf: Ich habe mehrfach in Dokumenten gefunden, dass Ärzte dann berichtet haben, wir haben das Medikament jetzt in Tierversuchen getestet und wir müssen das jetzt aber am Menschen testen, und dann hat man das eben an Heimkindern getestet. Bis in die 60er Jahren ist Professor Hans Heinze Chef der Kinderund Jugendpsychiatrie Wunstorf. Heinze war während der NS- Zeit Gutachter des Euthansie-Mordprogramms. Er bezeichnete unzählige Kinder als lebensunwert und schickte sie damit in den Tod. Unter der Leitung des früheren Nazi-Arztes wurden 1962 in Wunstorf Medikamente getestet. In Kooperation mit der Pharmafirma Merck mussten Kinder das Anti-Demenzmittel Encephabol einnehmen. Die Ergebnisse listet Heinze detailliert auf: Fall 1 Das Kind erhielt täglich mg Encephabol. Diese ambulante Dauerbehandlung wurde von Oktober 1962 bis Februar 1964 ununterbrochen fortgesetzt. Fall 2 Da mit zunehmender Dauer der Encephabol-Gabe das Kind im Antrieb verarmte, (.), wurde das Präparat am abgesetzt. Das Medikament Encephabol wurde 1963 von Merck auf dem deutschen Markt eingeführt. Der Historiker Uwe Kaminsky forscht seit Jahren zu Kinderheimen in der Nachkriegszeit. Vielen Heimkindern sei die
4 Menschenwürde genommen worden. O-Ton Uwe Kaminsky, Historiker, Ruhr-Universität Bochum: Es ist dieser Blick auf Menschen, auf Patienten, auf Heimkinder, die eben nicht in ihrer Personeneigenschaft wahrgenommen werden, sondern die sozusagen in ihrer Funktion - sei es für einen medizinischen Versuch oder sei es als zu behandelnde Objekte im Sinne der Medizin - wahrgenommen werden. Und von daher denke ich, dass die Kinder und Jugendlichen dann durchaus als so eine Art Versuchskaninchen auch hergehalten haben. Der Nazi-Arzt Hans Heinze ist längst verstorben. Deshalb fragen wir den damaligen Kooperationspartner, die Firma Merck. Ein Interview lehnt die Firma ab. Zu den geschilderten Fällen lägen keine konkreten Informationen vor. Schriftlich räumt der Pharmakonzern aber ein, Zitat: Merck hat in den 60er-Jahren Studien zu Encephabol in Auftrag gegeben ( ). Aus den archivierten Aktennotizen geht dabei hervor, dass auch Kinder in Heimen mit jugendpsychiatrischer Ausrichtung behandelt wurden. Merck verweist auf die damals andere Gesetzeslage zur Dokumentation von Medikamententests. Und eine Entschuldigung bei den Betroffenen? Zitat: Wir können uns nicht für etwas entschuldigen, was nicht in unserer Verantwortung lag. Sollten sich Dritte nicht entsprechend Gesetzeslage verhalten haben, bedauern wir das selbstverständlich. Das Heim Neu-Düsselthal bei Düsseldorf. Auch hier wurden 1966 Medikamente an Kindern getestet. 40 Versuchspersonen wurde regelmäßig das Neuroleptikum Truxal verabreicht. Beteiligt waren auch die Troponwerke Köln - eine Pharmafirma. Den Medikamententest leitete damals Professor Friedrich Panse. Auch er war vor 1945 Gutachter des Euthansie-Mordprogramms der Nazis. Nach dem Krieg konnte Panse unbehelligt weiterarbeiten. Unter Panses Aufsicht mussten die Kinder innerhalb eines Dreivierteljahres über Pillen schlucken, darunter Tabletten Truxal. O-Ton Uwe Kaminsky, Historiker, Ruhr-Universität Bochum: Panse hat gegenüber dem Leiter des Landesjugendamtes gesagt, dass es sich um völlig übliche Medikamente im Rahmen der Heimerziehung handeln würde, mit denen hier operiert würde, und es von daher kein Medikamentenversuch im engeren Sinne sei.
5 Viele Heimkinder waren damals Ämtern, Erziehern und Ärzten hilflos ausgeliefert. In Neu-Düsselthal protestierte ein Mediziner gegen den Medikamentenversuch eine Seltenheit. O-Ton Uwe Kaminsky, Historiker, Ruhr-Universität Bochum: Der Versuch in Neu-Düsselthal ist eigentlich deswegen aktenkundig geworden, weil der Heimarzt, der über zehn Jahre lang dieses Heim medizinisch betreut hat, sich geweigert hat, Medikamente in dieser hohen Dosis und in dieser Breite zu verschreiben. Der Arzt will mit den Tests an Kindern nichts mehr zu tun haben. Im Kündigungsschreiben erklärt er: Ich muss als Arzt eine Sedierung in dieser Form ablehnen. Die Ärzte der Truxal-Studie leben heute nicht mehr. Wir fragen die Troponwerke Köln, die sind inzwischen im Besitz der Firma MEDA. Kein Interview. Die Firma sieht sich nicht in der Verantwortung. Ihnen lägen keine Informationen vor. Eine Entschuldigung? - Fehlanzeige. O-Ton Prof. Heiner Fangerau, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Köln: Wenn es zum Beispiel zu Studien gekommen ist, bei denen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht gefragt worden sind und sie mussten dann an so einer Studie teilnehmen, vielleicht sogar ohne ihr Wissen, dann sind nicht nur die Arzneimittelfirmen moralisch verpflichtet, sich zu entschuldigen oder sogar eine Entschädigungsleistung zu übernehmen, sondern auch die teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte. Die psychischen Folgen des jahrelangen Medikamentenmissbrauchs spüren die ehemaligen Heimkinder bis heute. O-Ton Ton Wolfgang Wagner, ehemaliges Heimkind: Von dem Tag, als ich das Licht erblickte, von da an ist es ein Kampf. Mein Leben kommt bis heute noch nicht zur Ruhe. Mein größter Wunsch ist einfach mal zur Ruhe zu kommen. Die gravierenden gesundheitlichen Spätfolgen bei Heimkindern untersucht der Bochumer Neuropsychologe Burkard Wiebel in einer Studie. O-Ton Dr. Burkard Wiebel, Neuropsychologe: Es sind immer Herzkreislauferkrankungen und Diabetes mellitus, von dem gesprochen wird. Die Lebenserwartung ist eindeutig reduziert bei Heimkindern der damaligen Zeit, die Neuroleptika bekommen haben. Man spricht immer so von 15 bis 20 Jahren.
6 Marion Greenaway bewältigt ihren Lebensalltag nur mühsam. Sie leidet unter chronischen Kopf- und Rückenschmerzen, Depressionen und Albträumen. O-Ton Ton Marion Greenaway, ehemaliges Heimkind: Ich bin davon überzeugt, dass wir Testpersonen waren, weil diese Medikamente, die sie uns damals verschrieben haben, werden heute für Epilepsie und Demenz benutzt. Marion Greenaway kämpft bis heute vergeblich um eine staatliche Entschädigung. Zumindest hat sich die Klinikleitung in Wunstorf bei ihr offiziell entschuldigt. Das Franz Sales Haus in Essen lehnt ein Interview ab. Historiker hätten intensiv den damaligen Medikamenteneinsatz im Heim aufgearbeitet. Neue Erkenntnisse lägen nicht vor. Wolfgang Wagner war im Franz Sales Haus zuletzt als Gärtner beschäftigt. Wenige Tage nach unseren Dreharbeiten wurde sein Arbeitsvertrag nicht verlängert. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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