Wissenschaftsthema Vitanews 2/2003 Funktionelle Lebensmittel - Mittel zum besseren Leben?

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1 Wissenschaftsthema Vitanews 2/2003 Funktionelle Lebensmittel - Mittel zum besseren Leben? Kaugummis mit prebiotischen Ballaststoffen sollen Karies verhindern. Brot mit Grüntee-Extrakt oder Quark mit Johanniskraut könnten zu mehr Gesundheit verhelfen. "Eure Nahrung soll euer Heilmittel sein. Eure Heilmittel sollen eure Nahrung sein." Dies forderte der Arzt Hippokrates vor ca Jahren. Erfüllen die Neuentwicklungen im heutigen Lebensmittelmarkt seinen Anspruch? Funktionelle Lebensmittel sind Produkte, die zusätzlich zu ihren ernährungsphysiologischen oder sensorischen Eigenschaften noch andere positive Wirkung auf den Stoffwechsel haben. Der Begriff "Functional Food" bezieht sich zunächst erst einmal ausschließlich auf Lebensmittel, nicht etwa Pillen oder Kapseln. Darin sind sich Lebensmittelrechtler und Wissenschaftler einig. Funktionelle Lebensmittel sollen definitionsgemäß Teil einer normalen Ernährung sein und ihre Wirkung in üblichen Verzehrsmengen entfalten. Die Werbung verspricht, dass sie den allgemeinen Gesundheitsstatus Menschen verbessern, das Wohlbefinden steigern oder Krankheitsrisiken reduzieren. Entwicklungstendenzen und Marktpotenzial Seite 1 Das Weltmarktvolumen für funktionelle Lebensmittel liegt heute Schätzungen zufolge bei Mrd. Euro. Dies sind lediglich ca. 1/10 des gesamten Lebensmittelmarktes. Aber kaum einem anderen Marktsegment werden derart günstige Entwicklungschancen prognostiziert. Pro- und Prebiotische Milchprodukte haben beispielsweise ein derzeitiges Marktvolumen in Europa ca. 2 Mrd. Euro. Experten sagen bis 2006 eine Steigerung auf ca. 5 Mrd. Euro vorher. In Deutschland begann der Siegeszug funktioneller Lebensmittel mit der Einführung probiotischer Lebensmittel Mitte der 90-er Jahre. Laut einer aktuellen Marktanalyse der CMA unter Beteiligung 8 Länderministerien ersetzen derzeit bereits 58 % der deutschen Anbieter funktioneller Milch- und Molkereiprodukte die funktionellen Wirkstoffe der ersten Generation durch Neuentwicklungen. 2/3 der Hersteller stehen mit Neuentwicklungen für den Einstieg in den Markt funktioneller Lebensmittel bereit.

2 Der Großteil der Hersteller wird dabei sekundäre Pflanzenstoffe 1 oder Omega-3- Fettsäuren 2 einsetzen. Auch neue Produktfelder werden erschlossen, so z.b. funktionelle Fleisch- und Wurstwaren. 41,4 % der Hersteller sehen für den deutschen Absatzmarkt grundsätzlich Möglichkeiten, Fleisch- und Wurstwaren pre- oder probiotische Wirkstoffe in zuzufügen. Was wird angeboten? Den Großteil des Angebotes machen die probiotischen Lebensmittel aus. Sie enthalten aktive Milchsäurebakterien mit nachgewiesener positiver Wirkung auf den menschlichen Organismus. Bei ihnen verfügen Wissenschaftler und Mediziner über lange Erfahrung. Probiotika haben ihren Ursprung in Japan und einzelne Vertreter der verwendeten Bakterienkulturen kommen bereits mehr als 100 Jahre zum Einsatz. Wichtig ist, dass probiotische Lebensmittel aktive Keime noch in ausreichender Menge enthalten. Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat für die probiotischen Milchsäurebakterien eine Mindestkeimzahl bestimmt (Wirkkeimzahl) bis 10 9 Keime (also bis zu einer Milliarde. Keime) müssen pro g Lebensmittel enthalten sein, damit Konsumenten eine günstige Wirkung erwarten können. Die Produkte sind nur dann wirksam, wenn sie täglich gegessen oder getrunken werden. Je näher das Mindesthaltbarkeitsdatum des Milchproduktes rückt, desto weniger ist es wirksam. Seite 2 1 Siehe hierzu Vitanews 3/2003: Sekundäre Pflanzenstoffe: Auf das Ganze kommt es an, zum Download auf 2 Omega-3-Fettsäuren: Mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die den LDL und Gesamtcholesterinspiegel senken.

3 Aber noch viele andere Substanzen werden als funktionell beworben: Beispiele für das Angebot funktioneller Lebensmittel in Deutschland Substanzen Propagierte Wirkungen Beispiele Probiotische Verbessern die Darmflora, Sauermilchprodukte, Milchsäurebakterien bessere Verträglichkeit bei Personen mit Drinks auf Milchbasis, Milchzuckerunverträglichkeit, verkürzen Häufigkeit und Dauer Milchmischerzeugnisse, Müslis Durchfallerkrankungen Präbiotisch wirkende Fördern die Verdauung und Milchmischerzeugnisse, Ballststoffe beeinflussen die Darmflora Müsli, Brot / Brötchen, Erfrischungsgetränke Omega-3-Fettsäuren Schützen vor Herz-Kreislauf- Eier, Erkrankungen, entzündungshemmend, Brot / Brötchen, günstige Wirkung auf das Immunsystem und Margarine Pflanzliche Sterine antikanzerogen Senken den Cholesterinspiegel Diät-Margarine Seite 3 Funktionell, angereichert oder nahrungsergänzt - Wo ist der Unterschied? Bis heute ist es noch nicht gelungen, funktionelle Lebensmittel rechtlich und physiologisch anderen Lebensmitteln abzugrenzen, die ebenfalls spezielle gesundheitliche Wirkung versprechen. Wirtschaft, Recht und Wissenschaft orientieren sich zumeist an Anwendungszweck und Angebotsform des entsprechenden Produktes. Nahrungsergänzungsmittel - wie im Glas auflösbare Sprudeltabletten mit Mineralstoffen - zählen z.b. nicht zu den funktionellen Lebensmitteln. Sie sind zwar rechtlich auch Lebensmittel, werden aber in dosierter, konzentrierter Form in den Verkehr gebracht. Funktionelle Lebensmittel gibt es hingegen nicht in Tabletten- oder

4 Kapselform. Angereicherte vitaminierte Lebensmittel sind ebenso nicht klar den funktionellen Lebensmitteln abzugrenzen. Einziger allgemeiner Unterschied: Lebensmittel mit Vitaminzusatz zielen auf den Ausgleich eines Mangels oder wollen ihm vorbeugen. Funktionelle Lebensmittel sollen hingegen Wirkungen entfalten, die über die physiologische Wirkung des traditionellen Lebensmittels hinausgehen. Wirkung fragwürdig? Ob ein funktionelles Lebensmittel tatsächlich "funktioniert", muß nachweisbar sein. Seine Gesundheitswirkung muss der Hersteller eindeutig wissenschaftlich belegen. Eben hierin liegt die Schwierigkeit. Für die wenigsten funktionell beworbenen Lebensmittel liegen gesicherte Wirkungsnachweise bisher vor. Produktentwickler sind gleichzeitig immer neuen Inhaltsstoffkombinationen und Kreationen auf der Spur. Beim Wirkungsnachweis wird dann oft zu einfach vorgegangen. Der Verzehr einzelner Inhaltsstoffe wird durch Fragebögen ermittelt und mit einem verbesserten Gesundheitszustand in einen statistischen Zusammenhang gebracht. Die Stoffwechselvorgänge, die hinter den funktionellen Lebensmitteln stehen, bleiben so für viele Inhaltsstoffe weitgehend verborgen. Um jedoch einen anspruchsvolleren Wirkunsgnachweis zu erhalten, veröffentlichen Fachinstitutionen nun einheitliche Kriterien. Diese beinhalten auch die Verarbeitungsschritte des Produktes, weil die Wirkung der Inhaltsstoffe damit maßgeblich beeinflusst wird. Damit der Schein nicht trügt Seite 4 17 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes - ein Grundlagengesetz des deutschen Lebensmittelrechts - verbietet es, Lebensmittel in Verkehr zu bringen, die einen besseren Anschein als den der tatsächlichen Beschaffenheit erwecken. Wäre die Gesundheitswirkung eines als funktionell beworbenen Lebensmittels nicht nachweisbar, wäre der Tatbestand der Verbrauchertäuschung oder Irrefühhrung erfüllt. Der 17 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes (LMBG) verbietet dies schon seit fast 30 Jahren. Grundsätzlich sind die gesetzlichen Anforderungen für funktionelle und traditionelle Lebensmittel gleich. Die Werbung mit den Positivwirkungen ist streng gesetzlich reglementiert. In Deutschland und Europa gibt es ein Verbot der krankheitsbezogenen Werbung ( 18 LMBG bzw. Art. 2 1b Richtlinien 2000/13 EG). Demnach sind alle Aussagen, die einem Lebensmittel vorbeugende, behandelnde oder heilende Wirkung zuschreiben, verboten. Auch nur den Eindruck zu erwecken, ist untersagt. Die Regelungen stammen aus einer Zeit, in denen die separate, positive physiologische Wirkung einzelner Stoffe wissenschaftlich noch nicht gesichert war. Aussagen wie "fördert die Gesundheit" oder "fördert die natürlichen

5 Abwehrkräfte" zeigen die Bemühungen der Hersteller, nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Die Deutsche Lebensmittelwirtschaft, aber auch die Codex-Alimetarius-Kommission der Vereinten Nationen, sind heute der Ansicht, dass die Aussagen, die sich auf die Verminderung eines Krankheitsrisikos beziehen, dem Verbot ausgenommen werden sollten. Feste Formulierungen - die sogenannten Health Claims - werden derzeit formuliert. Die Europäische Kommission bereitet gleichzeitig einen Verordnungsvorschlag vor, der in diese Richtung geht. Er soll noch 2003 verabschiedet werden. Darin werden u. a. Anforderungen an die Zulässigkeit wirkungsbezogenen Angaben formuliert. So soll ein Hinweis auf die Bedeutung einer ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise erfolgen und es werden Angaben zu den nötigen Verzehrsmengen, auf Verzehrshöchstmengen und zu besonderen Zielgruppen gefordert. Funktionelle Lebensmittel - Kein Ersatz für ausgewogene Ernährung Auch warnende Stimmen sind bereits laut geworden in der allgemeinen Euphorie, die Marktforscher, Produktentwickler und Technologen ergriffen hat. Denn die Spanne zwischen Wirkungslosigkeit und unerwünschten Nebenwirkungen funktioneller Inhaltsstoffe sei in vielen Fällen wissenschaftlich ungeklärt. Seite 5 Noch nie in der Geschichte der Menschheit gab es so viele Möglichkeiten, dem Körper lebenswichtige Inhaltsstoffe zuzuleiten wie heute. In vielen Fällen können Experten gar nicht mehr feststellen, welchen Anteil ein traditionelles Lebensmittel an der Gesamtaufnahme eines Inhaltsstoffes hat. Beispielsweise kann man das Provitamin Beta-Carotin einfach essen oder es durch angereicherte Fruchtsäfte trinken. Eine moderne ACE-Limonade ist eine andere Möglichkeit, ebenso wie die Pille aus der Apotheke oder ein anderes ACE-Produkt aus dem Reformhaus. Welcher Wissenschaftler könnte in einer solchen unübersichtlichen Situation noch Risikogruppen der Über- oder Unterversorgung identifizieren? Eine unbemerktes "Zuviel" mit einzelnen Stoffen ist möglich und wird bisher nicht ausreichend berücksichtigt. Durch die weitere Ausdifferenzierung des Marktangebotes und der vielfältigen Lebensstile ist diese Überversorgung nicht mehr zu erfassen. Dem einzelnen Verbraucher bleibt in der unübersichtlichen Marktsituation nur, sehr bewusst mit den funktionellen Lebensmitteln umzugehen und vor allem angereicherte, vitaminisierte Lebensmittel nur selten einzusetzen. Auf der sicheren Seite sind Verbraucher beim Verzehr Probiotika. Denn die Milchsäurebakterien, die der Körper nicht braucht, werden wieder ausgeschieden. Der Verbraucher kann hier die erwünschte Wirkung der positiven Wirkung auf die Darmaktivität jederzeit an

6 sich selbst kontrollieren. Bei vielen Vitaminen, Antioxidanzien, sekundären Pflanzenstoffen ist dies ganz anders. Grundsätzlich sind funktionelle Lebensmittel keine Garantie für eine ausgewogene und bedarfsgerechte Ernährung. Auch traditionelle Lebensmittel boten nie bessere Gelegenheit, gesund zu essen und zu trinken. Gerade diese Jahreszeit lädt dazu ein, möglichst viele und unterschiedliche pflanzliche Lebensmittel in frischer Form zu essen. Denn gerade diese Vielfalt an Obst und Gemüse ist es, die ein "Zuviel" für einzelne Nährstoffe verhindert. Aber Obst und Gemüse wachsen immer noch am Boden - mag es auch noch so verlockend klingen, wenn Lebensmittel Flügel verleihen. Dr. Karin Bergmann, Diplom-Ökotrophologin Quellen: Seite 6 CMA - Centrale Marketing-Gesllschaft der deutschen Agrarwirtschaft mbh - Marktanalyse Functional Food - ein Regionalvergleich (8/2002) Diplock et.al.: Scientific Concepts of Functional Foods in Europe: Consensus Document,. British J. Nutr. Supplement, No. 1, 81 (199)1-27. DGE-info 10/2002: DGE-Sympoosium Moderne Lebensmittel: In Zukunft nur noch mit Zusatznutzen? DGE-Info: 3/2003: Funktionelle Lebensmittel - Eine aktuelle Standortbestimmung.