20 Die deutsche Sprache in Raum und Zeit
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- Anton Maurer
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2 melbezeichnung für verwandte und ähnliche Dialekte als für eine einheitliche Sprache. In der althochdeutschen Zeit entstand etwas für die deutsche Sprachgeschichte bahnbrechend Neues, denn zum ersten Mal wurden längere und zusammenhängende Texte in der Volkssprache geschrieben. Bis dahin war der Bereich der Schriftlichkeit der Gelehrtensprache Latein vorbehalten. Wer lesen konnte, der beherrschte auch Latein. Ein Großteil der Bevölkerung kam mit Schriftlichkeit jedoch nie in Berührung. So ist ein Ne- 20 Die deutsche Sprache in Raum und Zeit
3 beneinander von gesprochenen althochdeutschen Dialekten und geschriebenem Latein anzunehmen. Für die Verschriftlichung der Volkssprache gab es keine Regeln und zunächst nicht einmal ein geeignetes Alphabet. Den ersten Schriftzeugnissen ist deutlich anzusehen, mit welchen massiven Schwierigkeiten die Schreiber zu kämpfen hatten. So enthielt etwa das lateinische Alphabet kein -w-. Blickt man nur auf die schriftliche Überlieferung des Althochdeutschen, dann wird damit lediglich ein geringer Anteil dessen erfasst, was in dieser Sprache insgesamt ausgedrückt wurde. Auch thematisch bleibt ein großer Teil des kommunikativen Spektrums ausgeblendet. Denn statt allgemeiner Äußerungen über alltägliche Dinge wie Kindererziehung, Haushalt oder Ackerbau sind aus althochdeutscher Zeit vor allem Texte aus dem Bereich des religiösen Lebens überliefert. Diese Texte entstanden in der Regel in Klöstern, denn nur dort gab es Lese- und Schreibkundige sowie das nötige Material. Insgesamt umfasst die althochdeutsche Überlieferung weniger als 100 Texte in etwas mehr als 100 Handschriften. Eine Sammlung aller althochdeutschen Texte findet in einem relativ kleinen Bücherregal Platz. Zu Beginn der althochdeutschen Schriftlichkeit ging es den Schreibern vor allen Dingen um einen Zugang zum Latein bzw. zu den Texten in lateinischer Sprache. Charakteristisch für diese Zeit sind die sogenannten Glossen, volkssprachliche Eintragungen zwischen den Zeilen (interlinear), im Text (Kontextglossen) oder am Rand (marginal). So findet sich etwa im Codex Sancti Galli (Anfang 9. Jahrhundert) die althochdeutsche Eintragung allero selono Allerseelen über der lateinischen Passage omnium animarum. Der nächste Schritt war die systematische Erschließung des Wortschatzes in Wörtersammlungen, den sogenannten Glossaren. Das älteste deutsche Wörterbuch, zugleich das älteste Buch in deutscher Sprache überhaupt, steht ganz im Wie teilt man die deutsche Sprachgeschichte ein? 21
4 Dienste des Lateins und setzt selbstverständlich seine Stichwörter in lateinischer Sprache an. Es ist nach seinem ersten Stichwort Abrogans benannt, was mit althochdeutsch dheomodi demütig übersetzt wird. Die Klöster waren Orte der Gelehrsamkeit und der (zunächst überwiegend lateinischen) Schriftkultur. Hier waren die Voraussetzungen dafür gegeben, dass auch althochdeutsche Texte entstehen konnten. Zugleich boten die Klöster mit ihren Bibliotheken und Sammlungen die Bedingungen dafür, dass der Handschriftenbestand über Jahrhunderte hinweg erhalten blieb. Die Klöster waren also für die volkssprachliche Überlieferung in doppelter Hinsicht unverzichtbar. Ihre Gründungen standen im Zusammenhang mit der Missionierung des Fränkischen Reichs. Dabei lassen sich drei Missionswellen unterscheiden: Ungefähr ab dem Jahr 600 zogen irische Mönche in den oberdeutschen Raum (zum Beispiel Emmeram in Regensburg, Kilian in Würzburg oder Gallus im nach ihm benannten St. Gallen). Etwa 100 bis 150 Jahre später kam mit Bonifatius die angelsächsische Mission in den mitteldeutschen und fränkischen Raum (vor allem nach Mainz, Fulda und Würzburg). Ebenfalls im achten Jahrhundert wurden im Zuge der westgotisch-fränkischen Mission durch Pirmin die Klöster auf der Reichenau und in Murbach gegründet. Bei den Bemühungen der Missionare, den Althochdeutsch sprechenden Heiden den christlichen Glauben zu vermitteln, waren lateinische Texte keine große Hilfe. Es mussten Übersetzungen in die Volkssprache angefertigt werden. So entstand (vor 800) eine althochdeutsche Übersetzung aus theologischen Schriften Isidors von Sevilla ( ) oder (zwischen 863 und 871) das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg. Otfrids Evangelienbuch allerdings ist so selbstständig, dass hier besser von einer Umdichtung als von einer Übersetzung gesprochen 22 Die deutsche Sprache in Raum und Zeit
5 Im Anfang war... ein Wörterbuch Der Abrogans das älteste Werk in deutscher Sprache Wörterbücher stehen am Anfang der Geschichte der deutschen Schriftsprache. Das älteste erhaltene Textzeugnis in deutscher Sprache ist ein Wörterbuch. Um das Jahr 770 entstand der sogenannte Abrogans, ein lateinisch-althochdeutsches Wörter - verzeichnis. Es handelt sich dabei um eine Wort-für-Wort-Übersetzung einer alphabetisch geordneten lateinischen Sammlung von Wörtern mit gleicher oder zumindest sehr ähnlicher Bedeutung. Das erste lateinische Stichwort dieses Wörter - ver zeichnisses lautet Abrogans. Nach diesem ersten Stichwort hat das Wörterverzeichnis seinen Namen erhalten. Die erste Zeile gibt in lateinischer Sprache eine kurze Inhaltsangabe: Incipiunt closas ex uetere testamento ( Hier beginnen die Glos sie rungen aus dem Alten Testament ). Den Anfang bildet das erste Stich wort, Abrogans, mit Zierinitiale, dem das deutsche Wort folgt: dheomodi ( demütig ), die althoch deutsche Übersetzung des lateinischen abrogans. Der Abrogans befindet sich heute in der Stiftsbib liothek des Klosters St. Gallen. Wie teilt man die deutsche Sprachgeschichte ein? 23
6 werden kann. Sehr deutlich spricht der Verfasser aus, welchen Stellenwert er seiner Muttersprache zumisst und mit welchem Anspruch er seine literarische Arbeit versieht. Er schreibt in der (lateinischen) Widmungsvorrede an den Abt Liutbert von Mainz: In der Tat habe ich... die Teile der Evangelien auf Fränkisch zusammengestellt, damit derjenige die heiligen Worte in seiner eigenen Sprache aufnehmen kann, den die Unverständlichkeit der fremden Sprache abschreckt. Zwar sei die deutsche Sprache unkultiviert und... ungeeignet, durch grammatische Regularien gezügelt zu werden und außerdem durch ihre Lautgestalt schwierig zu schreiben. Doch wolle er in seiner Muttersprache eine würdige und der Bedeutung der Franken angemessene Dichtung schaffen. Um im Zuge der Missionierung den Sprechern der althoch - deutschen Dialekte die ihnen völlig unbekannten und fremdartigen christlichen Ideen und Sitten zu vermitteln, wurden nicht nur (in der mündlichen Vermittlung eingesetzte) Texte in der Volkssprache benötigt. Damit überhaupt Texte in der Volkssprache entstehen konnten, mussten zunächst zahlreiche neue Ausdrücke gefunden werden. Dafür gab es (wie auch heute noch) verschiedene Möglichkeiten. Grundsätzlich besteht der einfachste Weg in der Übernahme neuer Wörter aus der fremden Sprache, in der es bereits einen ausgebauten Wortschatz zum Thema gibt. Für die Missionierungsarbeit war dieses Verfahren nur bedingt geeignet. Denn mit dem neuen Wort war häufig eine abstrakte Vorstellung verbunden, die keinen Platz in der bisherigen Lebenswelt derjenigen hatte, die missioniert werden sollten. Deshalb wurden vor allem Bezeichnungen für konkrete Gegenstände oder Personen auf diesem Wege als Lehnwörter aus dem Lateinischen oder aus dem Griechischen übernommen: althochdeutsch pater Pater (aus lateinisch pater) für den Geistlichen, althochdeutsch kelih Kelch (aus lateinisch calix) 24 Die deutsche Sprache in Raum und Zeit
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