Aylin Senel, BGY W 13 DL 2. Montagmorgen

Transkript

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2 Aylin Senel, BGY W 13 DL 2 Montagmorgen Es geht weiter! Ich habe doch vorhin gesagt, ich werde kommen, sobald ich fertig bin! Ich ließ mir den zweiten Lidstrich ziehen, puderte mich etwas ab, stand auf und ging zufrieden ins Rampenlicht. Was? Aber warum? Weil es besser ist. Besser für wen? Für uns beide! Für dich, Liam. Es ist besser für dich! Ich wurde lauter und fing an zu weinen. Reglos blieb er vor mir stehen. Er nahm mich nicht, wie ich erwartet hatte, in den Arm. Er stand einfach nur da. Du wirst damit klarkommen. Ich bin mir sicher. Und du musst. Es tut mir wirklich leid, Amy. Es tut dir leid? Was tut dir leid? Dass du jedes Mal, wenn wir uns näherkommen, wenn wir nur einen Moment lang glücklich sind, wieder einen Schritt zurückgehst? Dass du keine Ahnung hast, wie du mit mir umgehen sollst? Dass du nicht weißt, was du für mich empfindest? Dass du nicht realisierst, wie weh du mir damit tust? Oder einfach, dass du nicht einmal weißt, was Liebe ist? Was tut dir leid, Liam? Die Wut stieg in mir hoch. Ich ballte langsam meine Faust. Liam nahm mich nicht in den Arm. Er stand noch genauso wie am Anfang da. Doch ich sah, dass er seine Tränen unterdrückte. Er wollte meine Nähe nicht spüren, er wollte Abstand halten oder er musste. Alles. Ich wollte wirklich, aber es geht nicht. Ich kann nicht. Bitte akzeptiere das. Er trete sich um und ging. Uuuuund Cut!!, rief Gustav, unser Regisseur, wir machen morgen weiter. Ihr wart super. Zieht euch um, wir treffen uns in 15 Minuten noch einmal hier. Ich wischte mir meine Tränen weg und ging mich umziehen. Meine beste Freundin Miri, gleichzeitig Make-Up-Artist, kam in die Kabine: Ich freue mich schon auf die Serie. Es ist so romantisch. Du bist eine tolle Schauspielerin, Sam. Ich lächelte. Nachdem ich wieder meine Alltagsklamotten anhatte, eilte ich aus meiner Kabine zu meinem Team. 2

3 Wir haben einen langen und anstrengenden Tag hinter uns, ihr habt das super gemeistert. Ich bin echt stolz auf euch. Und ich bin mir sicher, dass die Episode großartig wird. Doch jetzt dürft ihr euch nicht hängen lassen. Morgen treffen wir uns oben auf der Burg. Punkt 09:00 Uhr beginnt der Dreh. Maske Uhr. Seid pünktlich. Wir spielen die Ball- und die Regenszene. Geht euren Text noch einmal durch. Ich will morgen keine Fehler sehen! Danke. Jetzt könnt ihr gehen. Der Regisseur klang wie immer ernst, wenn er die Disposition des nächsten Drehtags durchging. Ich packte meine Sachen zusammen, umarmte meine beste Freundin: Bis morgen, Süße, und lief zum Ausgang. Dort stand er. Er hatte unseren kleinen Sohn auf dem Arm. Je mehr ich mich den beiden näherte, desto breiter wurde das Grinsen auf meinem Gesicht. Ich hab euch so vermisst! Ich umarmte meine Lieblinge und gab beiden einen Kuss. Ich nahm Fynn, meinen 2-jährigen Sohn, auf den Arm und ging Hand in Hand mit Leo, meinem Mann, den ich in meinem BWL-Studium kennengelernt hatte, an unser Auto. Ich liebte es, von ihm abgeholt zu werden. Fynn wurde in seinen Sitz gehievt und angeschnallt. Leo und ich setzten uns nach vorne und fuhren los. Wie war euer Dreh, Schatz?, fragte Leo interessiert. Es war sehr anstrengend, aber es hat Spaß gemacht. Ich bin so froh, etwas gefunden zu haben, was mir Spaß macht. Ich will nur noch schauspielern. Ich möchte nie wieder etwas anderes in meinem Leben machen. Jeden Drehtag in aller Herrgottsfrühe aufzustehen ist zwar echt schlimm, aber sobald ich bei meinem Team bin, sobald ich vor der Kamera stehe, weiß ich, dass es sich gelohnt hat aufzustehen. Ja, Gustav kann echt manchmal streng sein. Aber er möchte auch nur, dass jede Episode gut wird. Und ich bin mir sicher, es wird eine tolle Serie. Vor allem nach dem Horrorjob im Büro. Bachelor Marketing und dann megalangweilige Aufgaben nach einem festen Plan abhaken, den ganzen Tag am PC sitzen, nichts entscheiden dürfen, Null-Anerkennung vom Chef, aber: Präsenz über die normale Arbeitszeit hinaus zeigen! Sie wollen doch Karriere machen! Bla, bla, bla! Ey, die Arbeit lähmte mich dermaßen und ich stumpfte total ab. Aber das weißt du ja! Und jetzt: Ich bin ich echt glücklich, bei Gustav zu sein. Schauspielerin zu sein. Das war immer mein Traum, schon als kleines Kind zog ich meine schönsten Kleider an und spielte meiner Mutter irgendein Stück vor, das ich mir gerade ausgedacht hatte. Ich bin unbeschreiblich glücklich, Leo, ich kann es nicht oft genug sagen. Leo lächelte. Er war schließlich derjenige gewesen, der mich damals zum Vorsprechen eingeschrieben hatte, obwohl ich es nicht wollte, da ich nicht gerade überzeugt von meinen 3

4 Schauspielkünsten war. Doch Leo hatte schon immer an mich geglaubt. Er hatte mich zum Vorsprechen gebracht, meine zittrige Hand gehalten und sich dann auch mit mir gefreut, als ich den Anruf bekam, dass ich die Hauptdarstellerin spielen durfte. Ohne Leo wäre ich jetzt nicht hier, wo ich heute bin. Ich würde immer noch im Büro sitzen, Präsenz zeigen und darauf warten, dass es endlich Uhr ist, damit ich Feierabend machen kann. Aber ich muss heute Abend wieder meinen Text durchgehen, morgen muss ich um 7.00 Uhr am Set sein. Diesmal geht es oben auf die Burg, wir spielen meine Lieblingsszene, die Ballszene, ich bin so aufgeregt. Ich schaute Leo an: Tut mir leid, dass wir momentan nicht mehr abends zusammen auf der Couch sitzen und einfach einen Film schauen können, ich vermisse es. Aber nächste Woche habe ich zwei Tage hintereinander frei, diese Zeit gehört ganz euch, wir machen alles, was ihr wollt, versprochen! Das ist schon okay, Schatz, ich verstehe, dass du viel zu tun hast. Ich freue mich auch schon sehr auf deine Serie, beruhigte Leo mich, dabei bog er in eine schmale Straße ein. Hier sah man keine Häuser eng nebeneinander stehen, sondern nur Ahornbäume, die unseren Fahrweg säumten. Es sah wunderschön aus. Am Ende der Straße waren wir dann endlich an einem Haus angekommen, an unserem Haus. Unser Haus war groß und einfach traumhaft. Selbst unsere Garage, in die Leo hineinfuhr, war riesig. Ich stieg aus, holte Fynn aus seinem Sitz und ging zur Haustür. Leo kam hinterher und schloss die Tür auf. Bevor ich das Haus betreten konnte, klingelte es. Das Klingeln wurde schrill und immer lauter. Es war kaum zu ertragen. Ich versuchte, Fynn die Ohren zuzuhalten, alles wurde langsam hässlich. Ich kniff mir sofort meine Augen zu. Plötzlich riss ich sie auf. Wo bin ich? Was ist passiert? Fynn? Leo? Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo ich war. Ein kleiner Raum. An den Wänden befanden sich Bilder von mir mit meinen Freunden, meinem Hund und meiner Familie. Von meinem Bett aus sah ich meinen alten Fernseher, auf dessen Mattscheibe gerade eine Mutter mit ihrem Kind stritt. Scheinbar hatte ich vergessen, den Sleep-Modus einzuschalten, und der Fernseher war die ganze Nacht gelaufen. Ich wollte zurück in meinen Traum, schloss die Augen zu, aber es passierte nichts. Alles, was ich jetzt sah, war mein Zimmer. Und genau jetzt beginnt mein Albtraum. Ich muss sofort aufstehen. Ich muss mir die Zähne putzen, meine Haare waschen und mich anziehen. In genau zwei Stunden muss ich fertig 4

5 sein. Ich darf meinen Bus nicht verpassen. Hoffentlich kommt die blöde Bahn nicht wieder zu spät. Und in drei Stunden ist es so weit. In drei Stunden schreibe ich Mathe. Schauspielerin kann ich erst einmal vergessen, mein Beruf zurzeit: Schülerin. 5