Staatsrecht I: Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit
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- Dominic Kramer
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1 Staatsrecht I: Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit Vorlesung vom 27. September 2011 Prof. Christine Kaufmann Herbstsemester Page 1 Verhältnis Staat Individuum - Gesellschaft Keine allgemein gültige Formel Politisches System als Grundlage Menschenbild Raum für individuelle Freiheiten Resultat: Unterschiedliche Lösungen in unterschiedlichen politischen Systemen Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 2
2 Individuum und Staat Bedeutung des Menschenbildes: Zwei Hauptrichtungen Aufklärung (Immanuel Kant) Starke Betonung der Eigenverantwortung Liberaler Staat Kommunistische Lehren Betonung des Kollektivs Beispiele Kommunismus und Nationalsozialismus Verschiedene asiatische Staaten Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 3 Stellung von Minderheiten Schutz von Minderheiten Demokratie darf nicht zur Tyrannei der Mehrheit werden Spannungsverhältnis Demokratie/Rechtsstaatlichkeit Fünf Gruppen von Minderheitsrechten Gebrauch der Sprache Schutz der Kultur Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung Schutz von kulturellen Beziehungen über die Landesgrenze hinaus Recht auf Auswanderung Bedeutung für die Schweiz Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 4
3 Staat und Gesellschaft (1/3) Verhältnis von Staat und Gesellschaft Ursprung der Unterscheidung: Gesellschaftsvertrag (Hobbes) Liberaler Staat: strikte Trennung Staat/Gesellschaft Totalitärer Staat: keine Trennung Heutige westeuropäische Staaten Vielfältige Wechselwirkungen zwischen Staat und Gesellschaft Deshalb keine strikte Trennung Staat und Kultur Freiheitliche Staaten: Schutz und Förderung, nicht aber Schaffung Spannungsfeld nationale Identität Schutz der Vielfalt Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 5 Staat und Gesellschaft (2/3) Staat und Religion Staaten mit Staatsreligion Staat bekennt sich formell zu einer Religion Teilweise mit Religionsfreiheit für Minderheiten, teilweise ohne Beispiele: Irland, Saudi-Arabien Laizistische Staaten Strikte Trennung von Staat und Religion Beispiele: Frankreich, Türkei Mischform Staat bevorzugt bestimmte Religion(en), schützt aber auch die Freiheit von anderen Religionen Beispiele: Schweiz, Marokko Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 6
4 Staat und Gesellschaft (3/3) Staat und Öffentlichkeit Zivilgesellschaft Entwicklung des Begriffs in der Aufklärung Heute: Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Bürgerbewegungen Marketplace of ideas Öffentlichkeit als Forum für Diskussion und Meinungsbildung Beispiel: Gemeindeversammlungen Rolle der politischen Parteien Bindeglied zwischen Staat und Öffentlichkeit In der Schweiz Schutz durch Meinungs- und Versammlungsfreiheit Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 7 Neue Entwicklungen Internet Entwicklung einer digitalen Informationsgesellschaft Einfluss auf politische Prozesse Medienkontrolle und -konzentration Eine freie Demokratie braucht freie Medien Gefahr der Medienkonzentration (Beispiel: Italien) In einzelnen Staaten: Tendenz zu Zensur (Beispiel: Ungarn) Expertengruppen Komplexe Probleme erfordern Expertenwissen Übertragung von Entscheiden an Expertengruppen: Transparenz und demokratische Legitimation? Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 8
5 Staat Recht Gerechtigkeit: Staat zwischen Macht und Recht Immanuel Kant Staat als Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen Staat als Herrschaftsverband des Rechts, nicht nur faktische Herrschaftsordnung Thomas Hobbes Leviathan Politische Struktur steht nicht unter Rechtsgesetzen, sondern sie schafft diese erst: Recht kann praktisch beliebig gestaltet werden Carl Schmitt Faktische Durchsetzungsgewalt als Inbegriff der Staatlichkeit Normative Fundierung des Rechts weitgehend irrelevant Verbindung von Gerechtigkeit und Staatlichkeit Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 9 Staat als Ordnung der Gerechtigkeit (1/4) Frühe Beispiele Platon (Politeia) Idealer Staat: Jeder leistet und erhält das Seine Demnach befassen sich alle mit dem, was sie am besten können zum Beispiel Handel, Krieg oder Philosophie Aristoteles Unterscheidung zwischen verschiedenen Gerechtigkeiten (austeilende, ausgleichende, im Befolgen gegebener Gesetze liegende) Idealvorstellung: Monarchie Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 10
6 Staat als Ordnung der Gerechtigkeit (2/4) Bedeutung Erstmals Verbindung von Diskussion über Staatsformen mit dem Begriff der Gerechtigkeit Problematik dieser frühen Ideen Fazit Ausschluss mancher Bevölkerungsgruppen (insbesondere Frauen) Auch Sklaverei konnte durch diese Gerechtigkeitskonzeptionen begründet werden Diese Konzepte bringen für sich allein keine Gerechtigkeit Sie ersetzen also nicht die Diskussion darüber, was gerecht ist und was nicht: Offener politischer Prozess ist nötig Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 11 Staat als Ordnung der Gerechtigkeit (3/4) Modernes Beispiel: John Rawls Ausgangslage Entscheid über die Form der Gesellschaftsorganisation muss in Unkenntnis der eigenen persönlichen Situation erfolgen (Schleier des Nichtwissens) Wer die eigene Position in einer Gesellschaft nicht kennt, entscheidet sich für Lösungen, die möglichst allen zu Gute kommen Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 12
7 Staat als Ordnung der Gerechtigkeit (4/4) Zwei fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien Erstens: Jede Person soll ein gleiches Recht auf die weitestgehende grundlegende Freiheit haben [ ] Zweitens: Soziale und ökonomische Ungleichheiten sollen so eingerichtet werden, dass sowohl o von ihnen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie zum Vorteil von allen dienen, und o sie verbunden sind mit Positionen und Ämtern, die allen offenstehen Konkrete Folgerungen von Rawls Freiheitsrechte, Rechtsgleichheit Gewisse Verteilgerechtigkeit, Chancengleichheit Internationale Kooperation, Entwicklungshilfe Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 13 Gerechtigkeit: Problemlagen der Gegenwart Sozialer Rechtsstaat Garantiert nicht nur Freiheitsrechte Sondern auch materielle Mindestbedingungen Wirtschaftspolitische Interventionen Können zu Umverteilung, Belastung Nichtbeteiligter führen Beispiele: Finanzkrise Intergenerationelle Gerechtigkeit Gegenüber gegenwärtigen und zukünftigen Generationen Nachhaltigkeit als Postulat der Gerechtigkeit Beispiele: Ausstieg aus der Atomenergie Internationale Gerechtigkeit Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 14
8 Staat im Spektrum der Wissenschaften (1/4) Staat als normative Ordnung Verfassung als Sollensordnung Staatsrecht befasst sich mit der Frage, was im Sinne der Rechtsordnung gilt ( seiendes Sollen ) Rechtsphilosophie erörtert demgegenüber das zu erstrebende Ideal ( ideelles Sollen ) Politologie und Soziologie fragen, wie die Verhältnisse tatsächlich sind (Frage nach dem Sein ) Unterschiedliche Ausprägungen Positivismus: Nicht-rechtliche Aspekte sollen von anderen Disziplinen erforscht werden (Hans Kelsen) Umfassendere Betrachtung: Einbezug aller gesellschaftlichen Facetten (Georg Jellinek). Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 15 Staat im Spektrum der Wissenschaften (2/4) Staat als material richtige Ordnung Legitimation der staatlichen Ordnung kann verschieden begründet werden Zum Beispiel metaphysisch, gesellschaftsvertragstheoretisch, vernunftrechtlich etc. Sie kann aber auch grundsätzlich in Frage gestellt werden (Anarchie) Staat als Produkt der Geschichte Vertikale Rechtsvergleichung Wichtig für das Staatsrecht ist vor allem die Verfassungsgeschichte Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 16
9 Staat im Spektrum der Wissenschaften (3/4) Staat als Gegenstand der Politik Der Staat und seine Verfassung sind Produkte der Politik Auch die weitere Ausgestaltung des Staates erfolgt durch die Politik Staat als soziales Faktum Soziologie untersucht die gesellschaftliche Realität Sie prüft also die faktische Wirksamkeit der normativen Strukturen Staat als Element der Wirtschaft Ökonomische Analyse des Rechts untersucht die ökonomische Effizienz des Staates und seiner Handlungen Grenzen des Effizienzansatzes Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 17 Staat im Spektrum der Wissenschaften (4/4) Rechtswissenschaftliche Integration der Perspektiven Vorbereitung und kritische Reflexion staatlicher Entscheidungen als Kerngeschäft der Rechtswissenschaft: Dogmatik Integration anderer Perspektiven notwendig Beispiele Auswirkungen wirtschaftlicher Interventionen auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen müssen mit ökonomischen Methoden geprüft werden Politische Dimension des Rechts Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 18
10 Rechtsquellen des Staatsrechts (1/2) Nationales Recht und Völkerrecht Zunehmende Bedeutung des Völkerrechts Verträge; Rechtsetzung durch internationale Organisationen Beispiele: EMRK, Bilaterale Verfassung, Gesetz, Verordnung Materielles Gesetzesrecht: Jede Rechtsnorm Formelles Gesetzesrecht: Rechtsnorm in der Form des Gesetzes Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 19 Rechtsquellen des Staatsrechts (2/2) Geschriebenes Recht Wichtigste Rechtsquelle Enthält aber Lücken (echte und unechte) Gewohnheitsrecht Voraussetzungen Langandauernde, ununterbrochene und einheitliche Praxis Rechtsüberzeugung von Behörden und betroffenen Personen Lücke im geschriebenen Recht Richterrecht Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 20
11 Staatsformen: Kriterien für Unterteilung (1/2) Traditionelle Staatsformen (nach Aristoteles) Anzahl Herrscher Gute Form Entartete Form einer Monarchie Tyrannis mehrere/wenige Aristokratie Oligarchie Volk (freie Bürger) Politie Demokratie Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 21 Staatsformen: Kriterien für Unterteilung (2/2) Constitutio mixta (nach Cicero) Mischung der drei guten Staatsformen nach Aristoteles Ziel: Schutz vor Entartung Erste Form des Konstitutionalismus Unterscheidung zwischen Monarchie und Republik Republiken: Alle Staaten ohne monarchisches Staatsoberhaupt Monarchien: Staaten mit einem auf Lebenszeit bestellten und vererblichen Oberhaupt Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 22
12 Moderne Staatsformen (1/2) Kriterien für Unterscheidung Sieyès: Pouvoir constituant als Verfassungshoheit Pernthaler: Demokratie, wenn Verfassungshoheit bei Volk oder Parlament Demokratien und Monarchien Eine Monarchie kann demnach materiell eine Demokratie sein Umgekehrt sind nicht alle Republiken Demokratien Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 23 Moderne Staatsformen (2/2) Verschiedene Arten heutiger Monarchien Parlamentarische Monarchie Staatsgewalt bei Volk und Parlament Monarch hat primär repräsentative Aufgaben Nach Pernthaler handelt es sich materiell um eine Demokratie Absolute Monarchie Monarch hat vollständige Verfassungshoheit Keine wirklichen Kompetenzen für andere Organe Konstitutionelle Monarchie im engeren Sinn Zwischenform Verfassungshoheit liegt grundsätzlich bei Volk oder Parlament Doch hat der Monarch wesentliche Kompetenzen wie beispielsweise ein Vetorecht Staatsrecht I Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit - Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2011 Seite 24
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