Wie müssen Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern eingeleitet werden, um von ihnen akzeptiert zu werden?
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1 Wie müssen Hilfen für Kinder von psychisch kranken Eltern eingeleitet werden, um von ihnen akzeptiert zu werden? SGPP/SGKJPP Jahreskongress Marc Schmid, Basel, 17. August 2016 Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik 1
2 Einleitung «Kinder sind nur ein Segen für die Eltern, wenn die Eltern auch ein Segen für die Kinder sind.» Asiatisches Sprichwort 2
3 Gliederung 4 Gedanken in 15 Minuten Probleme bei der Einleitung und Inanspruchnahme von Hilfen Kinder von psychisch kranken Eltern in der Jugendhilfe Der Teufelskreis von elterlicher und kindlicher Belastung Der Teufelskreis aus Ausstossung und Bindung führt zu Abbrüchen Interaktionsorientierte Perspektive bei der Einleitung von Hilfen Zusammenfassung und Diskussion 3
4 Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Hilfen Resultate: Metaanalyse (Maybery & Reubert 2007) 1. Leitlinien, Ressourcen und Management 2. Zusammenarbeit zwischen Institutionen (unterschiedliche Kooperationspartner, Probleme in der Zusammenarbeit) 3. Haltung, Fertigkeiten und Wissen der Fachpersonen 4. Psychisch kranke Eltern selbst (Teilhabe, Symptomatik) 5. Familienmitglieder inklusive Kinder (Stigma, Motivation, Angst vor Nichtpartizipation/Sorgerechtsverlust) 4
5 Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Hilfen Resultate: Metaanalyse (Maybery & Reubert 2007) Analyse von über 100 Publikationen zur Inanspruchnahme von psychosozialen Hilfen von Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Viele Eltern (37%) werden gar nicht gefragt, wie ihre Kinder versorgt sind (Schmid et al. 2008). Probleme werden von den Eltern aus Selbstwertschutz und irrationalen Ängsten vor Eingriffen in das Sorgerecht selten von sich aus berichtet (Kölch & Schmid, 2009, 2015). 5
6 Kinder psychisch kranker Eltern in der Jugendhilfe Ein vernachlässigtes Feld Die Problematik von Kindern psychisch kranker Eltern ist ein klassisches Schnittstellenproblem, welches alle psychosozialen Versorgungssysteme betrifft (Schone & Wagenblass 2006, Kölch, Fegert & Ziegenhain 2015). Es gibt meines Wissens keine systematische epidemiologische Untersuchung zur Prävalenz von psychischen Erkrankungen bei fremdplatzierten Kindern. In Studien bei Pflegekindern geben über die Hälfte der Pflegeeltern an, dass die leiblichen Eltern bereits stationäre psychiatrische Behandlungen durchlaufen haben (Pérez et al. 2010). Die Ergebnisse von Jugendhilfemassnahmen sind schlechter, wenn die Eltern unter einer psychischen Erkrankung leiden (Büttner et al. 2011). Ein Hauptproblem ist aber, dass die psychische Erkrankung und Bindungsproblematik der Eltern die langfristige Hilfeplanung und niederschwellige Inanspruchnahme von Hilfen verunmöglicht. 6
7 Destruktive Parentifizierung René Magritte Der Geist der Geometrie, 1936/37 Die Bedeutung, die die Kinder für die alltägliche und emotionale Versorgung ihrer Eltern erlangen, erschwert oder unterbindet die Einleitung von langfristigen, kindzentrierten Hilfen. Viele Eltern sind alleinerziehend, Paarbeziehung sind deutlich belasteter als in der Allgemeinbevölkerung (Locher et al. in press). 7
8 Auswirkungen der Bindungsrepräsentationen der Eltern Verstärkung von Anspannung in Interaktionen «Haifischmusik» Powell et al Anspannung Kind Anspannung Bezugsperson «Wer in sich selbst beruhigt ist, der beunruhigt auch den Anderen nicht.» Epikur 8
9 Der Teufelskreis Zusammenhang zwischen elterlichem Stress und psychischer Belastung der Kinder Psychisch kranke Eltern Vergleichsgruppe Gesamtproblemwert.584**.253** Emotionale Probleme.406**.259** Verhaltensprobleme.557**.260** Hyperaktivität.432**.038 Probleme mit Gleichaltrigen.443**.204* Prosoziales Verhalten -.461** -.321** Stadelmann, S., Perren, S., Kölch, M., Groeben, M., & Schmid, M. (2010). Psychisch kranke und unbelastete Eltern. Kindheit und Entwicklung 9
10 Teufelskreis zwischen elterlicher und kindlicher Belastung Behandlung der Eltern Verbesserung der Interaktion Verstärkung der psychischen Erkrankung Erziehungsprobleme Kindliche Bedürfnisse bleiben unbefriedigt (Grenzen, Förderung) Im Rahmen von: Psychotherapie und Hilfeplanung Elterlicher Stress Psychische Belastung / Symptomatik der Kinder Entlastung wird nicht erreicht Behandlung der Kinder 10
11 Teufelskreis aus Bindung und Ausstossung (Stierlin 1980, Schweitzer 2002) Ziele für die gesamte Familie definieren Familie drängt auf Entlassung nach Hause, für langfristige Platzierung nicht zu motivieren Starke Entlastung durch stationäre Behandlung Konkurrenz um bessere «Elternschaft» Familie ist überfordert Massive Konflikte drängen auf stationäre Aufnahme Eltern müssen in der Verantwortung gehalten werden Stationäre Behandlung als Übergang definieren 11
12 Beachtung der Loyalitätsbindung eines Kindes im Rahmen der Fremdplatzierung Wir sind gegen das Heim Starke Loyalitätsbindung der Kinder an die Eltern Conen 2007 Eltern Ich werte Euch auf, indem das Heim scheitert Sicher nicht - auch wenn es auf meine Kosten geht Kind Wir sind Profis, wir können Ihr Kind besser erziehen Heim Wir werden die besseren Eltern für Dich sein 12
13 Loyalitätsbindungen Arbeit mit fremdplatzierten Kindern und ihren Familien «Wir können Kinder aus Familien nehmen, aber die Familie nicht aus den Kindern.» Ried Portengen 13
14 Biographiearbeit Elternschaft umfasst drei Aspekte Biologische Elternschaft Viele Eigenschaften, Loyalität, natürliche Zuneigung Soziale Elternschaft Versorgung und Unterstützung Juristische Elternschaft Behördengänge, Entscheide, Verantwortung Ryan & Walker
15 Beachtung der Loyalitätsbindung eines Kindes im Rahmen der Fremdplatzierung Starke Loyalitätsbindung der Kinder an die Eltern Conen 2007 Eltern Kind Wertschätzung der Eltern Betonung der elterlichen Kompetenzen Heim Beachtung der Loyalitätsbindungen im pädagogischen Prozess 15
16 Rückführungsoptionen beinhalten somit mindestens drei Prozesse Prozess des fremdplatzierten Kindes Prozess der Eltern-Kind- Interaktion Prozess der Eltern Veränderungen Veränderungen Prozess der Interaktion mit nicht platzierten Geschwistern Veränderungen 16
17 Coverstory Was können Kinder erzählen? Meine Eltern haben sich scheiden lassen, was alle in der Familie sehr traurig gemacht hat. Meiner Mutter fehlte dann oft die Kraft, sich um den Haushalt, die Arbeit und mich zu kümmern. Ich habe danach viel Ärger in der Schule mit meiner Lehrerein und anderen Kindern gehabt. Meine Mutter konnte sich nicht mehr so um mich kümmern, wie sie es selbst gerne wollte - wir haben auch zu Hause viel gestritten. Weil mich meine Mutter sehr lieb hat und möchte, dass es mir gut geht, lebe ich jetzt im Kinderdorf. Dort kümmert man sich um mich, hilft mir in der Schule und ich lerne, besser mit anderen Kindern auszukommen und bin nicht mehr so traurig, auch wenn mir meine Mutter manchmal fehlt. Meine Mutter kommt mich im Kinderdorf oft besuchen. Sie sucht nun eine Arbeit. 17
18 Coverstory Was können Eltern erzählen? Marcel ist ein Kind, das viel Struktur, klare Grenzen und viel Förderung in der Schule braucht. Wir haben uns schon immer viel um Alltagsdinge und die Schule gestritten. Nach der Scheidung habe ich gemerkt, dass mir alles zu viel wird. Ich konnte mich nicht mehr so um Marcel kümmern, wie er es für seine gute Entwicklung braucht, ich war selbst nur noch völlig erschöpft. Unsere Beziehung wäre kaputtgegangen, wir haben nur noch gestritten. Seit er im Kinderdorf ist, bin ich von mich überfordernden Erziehungsaufgaben entlastet, unsere Beziehung hat sich gebessert und ich kann versuchen, eine gute Arbeit zu finden. Wenn wir uns sehen, können wir etwas unternehmen, was uns beiden Spass macht. 18
19 Schlussfolgerungen und Diskussion Forderung für die Versorgung Effektiveres Screening und standardisierte Versorgungschecklisten für die Identifikation von Hochrisikokonstellationen in der Erwachsenenpsychiatrie (Sensibilisierung). Aufklärung und Partizipation der Kinder und Jugendlichen an der Behandlung ihrer Eltern (Gespräche, Besuchsmöglichkeiten). Gemeinsames, wertschätzendes Narrativ über den Hilfebedarf der Familie und die Erkrankung der Eltern. Partizipation der ganzen Familien bei der Einleitung von Hilfen Hindernisse bei der Einleitung von Hilfen werden ausgeräumt. Spezielle, überdauernde Betreuungs- und Unterstützungsangebote mit der Antizipation von Krisen und intensive Hilfen bei erneuten stationären Behandlungen (z.b. Modelle mit Patenfamilien). 19
20 Schlussfolgerungen und Diskussion Forderung für die Versorgung Ressourcen für die Schnittstelle zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Erwachsenenpsychiatrie - familienzentrierte Behandlungskonzepte, gemeinsame Sprechstunden/ entwicklungspsychopathologische Perspektive. Gruppenangebote für Kinder, Jugendliche und Eltern (Elterntrainings, insbesondere psychoedukative Angebote, resilienzfördernde erlebnispädagogische Angebote - nachhaltige Finanzierung solcher Angebote). Sprechstunde für kind- und interaktionszentrierte Hilfen in der Erwachsenenpsychiatrie, Werbung mit konkreten Angeboten, mehr Ressourcen für die nachgehende Betreuung dieser Familien (Komm- Struktur überfordert!). Ausfinanzierte stationäre Angebote für Eltern-Kind-Behandlung. Hoch intensive aufsuchende Hilfen für besonders belastete Familien, in denen Kinder, Eltern und die Eltern-Kind-Interaktion adressiert werden können -> MST-CAN. 20
21 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit «Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.» Franz Kafka Folien unter: 21
22 Kontakt Marc Schmid Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Schanzenstrasse Basel Tel
23 Destruktive Parentifizierung (Jurkovic 1997) Eltern geben Elternfunktion auf, um eigene Bedürfnisse zu stillen - dabei weisen sie dem Kind eine Rolle zu, die die Generationengrenzen überschreitet. Bedürfnisse des Kindes werden dabei vernachlässigt. Die an das Kind herangetragenen Aufgaben überfordern den Entwicklungsstand des Kindes. Das Kind akzeptiert die delegierte Rolle auf Kosten der eigenen Bedürfnisse. Das Kind wird für die ihm zugewiesene Rolle nicht adäquat anerkannt und verstärkt (mangelnde Reziprozität). 23
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