Versorgungsforschung - ungeliebtes Kind in der Medizin?
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- Magdalena Melsbach
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1 Medizinkongress der BARMER GEK und des ZeS/SOCIUM am 29. September 2015 in Berlin Patientenorientierte Versorgungsforschung Gestern, Heute und Morgen Versorgungsforschung - ungeliebtes Kind in der Medizin? Prof. Dr. Gerd Glaeske Universität Bremen Zentrum für Sozialpolitik/SOCIUM - Kein Interessenkonflikt im Sinne der Uniform Requirements for Manuscripts submitted to Biomedical Journals der ICMJE
2 Perspektiven für die Versorgungsforschung (VF) Patientenorientierter Nutzen: Verringerung der Mortalitäts- und Morbiditätslast sowie unerwünschter Begleiterscheinungen, Verbesserung der Lebensqualität Forschung mit dem Charakter einer Gegenöffentlichkeit zu Gunsten der PatientInnen unabhängig von ökonomischen Interessen und evidenzbasiert Eine wesentliche Fragestellung: Wo funktioniert die Versorgung gut, wo gibt es Unter-, Über- und Fehlversorgung, wo Strukturmängel? Versorgungsforschung ergänzt die klinischevaluative Forschung, sie sollte daher Eingang finden in eine patientenorientierte Nutzenbewertung Glaeske G, Schicktanz C (2014): BARMER GEK Arzneimittelreport Asgard: Siegburg
3 Health-Care-Research-Cycle zwei Seiten der gleichen Forschungs-Medaille Ergebnisse klinischer Forschung (efficacy) Nachjustierung: Neue Fragestellungen (Hypothesengenerierung) Implementierung in das System (Barrieren, Akzeptanz, Leitlinien) Versorgungsforschung: Outcome, Nutzen für Patienten und System? (effectiveness)
4 Beispiele für die Versorgungsforschung aus der Pharmakotherapie
5 Glaeske G, Hoffmann F, Koller D, Tholen K, Windt R (2012): Faktencheck Gesundheit. Antibiotika-Verordnungen bei Kindern. Verfügbar unter: _Faktencheck_Gesundheit_Antibiotika- Verordnungen_bei_Kindern_01.pdf [Letzter Zugriff: ] In Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung Beratung: Dr. Trapp, Bremen, Profs. Kern und Kochen, Freiburg
6 Ergebnisse (n = Kinder bis 17 Jahre) Insgesamt bekamen ,2% der BARMER GEK- Versicherten mindestens eine Antibiotika-Verordnung Bei Kindern und Jugendlichen liegt die Verordnungsprävalenz bei 38,3% - höher als im Erwachsenenalter Mädchen/Frauen zeigen fast durchgängig eine höhere Prävalenz als Jungen/Männer Kinder im Vorschulalter bekommen häufiger Antibiotika verordnet als Kinder und Jugendliche insgesamt Die Verordnungsprävalenzen der einzelnen Bundesländer reichen von 31,1% bis 50,6% Verordnungs offensive Bundesländer: Sachsen-Anhalt, Saarland und Thüringen Verordnungs zurückhaltende Bundesländer: Schleswig-Holstein, Bremen, Baden-Württemberg
7 Behandlungsprävalenz mit Antibiotika bei nicht eitriger Otitis besser: Ibuprofen zwei bis drei Tage, Alter Facharzt ohne AB-VO Mit AB-VO Summe 1 bis 2 Allgemeinmediziner/Hausarzt 40 65,6% 21 34,4% 61 Pädiater ,3% ,7% 577 HNO ,1% 17 7,9% 216 Anderer Arzt 0 0,0% 2 100,0% 2 3 bis 6 Allgemeinmediziner/Hausarzt ,5% 73 31,5% 232 Pädiater ,2% ,8% HNO ,4% 127 6,6% Anderer Arzt 60 96,8% 2 3,2% 62 7 bis 10 Allgemeinmediziner/Hausarzt ,4% 73 29,6% 247 Pädiater ,2% ,8% 728 HNO ,7% 89 9,3% 953 Anderer Arzt 18 90,0% 2 10,0% bis 13 Allgemeinmediziner/Hausarzt ,4% 62 34,6% 179 Pädiater ,9% 47 17,1% 275 HNO ,9% 39 11,1% 350 Anderer Arzt ,0% 0 0,0% bis 17 Allgemeinmediziner/Hausarzt ,7% 82 36,3% 226 Pädiater ,8% 20 15,2% 132 HNO ,6% 58 20,4% 284 Anderer Arzt 4 66,6% 2 33,3% 6
8 Otitis media bei Kindern- I Aktuell wie nie
9 Otitis media bei Kindern- II Ergebnisse Kinder aus Amoxicillin-Gruppe hatten nach 3,5 Jahren auffällig häufiger erneute Otitis media (63% vs. 43%)! Antibiose kann zu Kolonisierung der Gehörgänge mit resistenten Keimen führen, die möglicherweise Rezidive begünstigen. Diese Studie ist ein wichtiges Argument dafür, Antibiotika bei Kindern mit akuter Otitis media zurückhaltend zu verschreiben!
10 In vielen Ländern ähnliche Probleme
11 Zunahme von MPH-Verordnungen
12 Regionale Unterschiede als Herausforderung (Quelle: Der Spiegel 26/2013, 143; nach Barmer GEK Arztreport 2013)
13 Anstieg ca. 40%
14 Keine Zulassung, off-label-use, keine Langzeitstudien, UAW: Dyskinesien Neuroleptika bei Kindern warum?
15 Antidepressiva deutlich mehr Verordnungen (Max 10/2002)
16 Beispiel für Propaganda, Informationen und Werbung zum Antidepressivum Prozac Mitte der 80er Jahre öffentlicher Hype um Prozac (bei uns als Fluctin (Fluoxetin) seit 1990), nicht das erste, aber das bekannteste SSRI) Öffentliche Darstellung in allen Gazetten wie Stern, Bunte, Spiegel, Focus u.a. ( Sie könnten noch leben, wenn.es damals schon Prozac gegeben hätte. z.b. Romy Schneider, Marilyne Monroe) Peter Kramer als Psychotherapeut: Listening to Prozac (1993): Das Mittel macht langwierige Psychotherapien überflüssig, Psychopharmakologie: Aus einem hässlichen Entlein wird ein schöner Schwan. Das Glück geht über die Pillendose. UAW oft verharmlost: Übelkeit, Schlaflosigkeit, Nervosität, sexuelle Dysfunktionen, Anorexie u.a.; Absetzerscheinungen nach längerer hochdosierter Therapie, wahrscheinlich geringer als nach Seroxat ( die Pille gegen die Schüchternheit )
17 Verordnungen von Psychopharmaka (Quelle AVR 2014) Ausreichend fürca.3,7 Mio. Menschen ein Jahr gegenüber rund 540 Tsd. 1991
18 Übersicht der Kennzahlen der untersuchten Versichertengruppen 2007 und 2013 GEK BARMER GEK Anzahl Versicherte (18jahre und älter) Anzahl Versicherte mit Depressionsdiagnose (9,60%) (14,62%) Anzahl Versicherte mit Antidepressiva-Verordnung (5,69%) (9,89%)
19 DDD in Mio Verordnungsmengen (DDD) von Antidepressiva nach Facharztgruppen im Jahr 2014 mit den TOP 3 Wirkstoffen sonstige Psychologie/Neurologie Internist Hausarzt/Allgemeinmedizin Mirtazapin (43,4%) Venlafaxin (42,1 %) Duloxetin ( (14,5%) Citalopram 16,97 DDD in Mio (44,04 %) Sertralin 8,54 DDD in Mio (22,15 %) Fluoxetin 4,88 DDD in Mio (12,67 %) Citalopram 24,36 DDD in Mio (62,61%) Sertralin 5,26 DDD in Mio (13,53%) Fluoxetin 3,41 DDD in Mio ( 8,76%) Amitriptylin 3,40 DDD in Mio (27,77 %) Opipramol 3,19 DDD in Mio (26,08 %) Doxepin 2,02 DDD in Mio (16,51 %) Opipramol 7,81 DDD in Mio (37,15 %) Amitriptylin 6,88 DDD in Mio (32,72 %) Doxepin 3,34 DDD in Mio (15,91 %) Duloxetin (26,8%) Mirtazapin (39,5%) Venlafaxin (33,7%) 0 SSRI NSMRI Johanniskraut Andere
20 Verordnete Antidepressiva im Jahr 2013 Regionale Darstellung der DDD-Mengen pro 100 Versicherte der BARMER GEK nach Postleitregionen Die Gründe für derartige regionale Disparitäten sind noch immer zu wenig untersucht und geklärt. Morbidität, Therapeudichte, Alter, Geschlecht, soziodemographische Variablen? Forschung tut not!
21 Neuroleptika bei Demenzerkrankungen Risikobehafteter Einsatz von Neuroleptika (NL) bei Demenzerkrankten: Seit 2002: Studien zeigen ein erhöhtes Mortalitäts- und Schlaganfallrisiko für einzelne neuroleptische Arzneimittel (1,6-1,7fach)
22 Warnungen vor Neuroleptika bei PatientInnen mit Demenz (2005)
23 Führende Neuroleptika (Top 10) bei an Demenz erkrankten Versicherten nach DDD im Jahr 2009
24 Erweiterung der Warnungen für alle Neuroleptika 2008
25 Anteil prävalent Demenzerkrankter mit Neuroleptika-VO differenziert nach Pflegestufen 2004 bis 2009 (Schulze, 2011) 60% Keine Pflegestufe Pflegestufe 1 Pflegestufe 2 Pflegestufe 3 50% 40% 30% 20% 10% 0%
26 Wirksamkeit Nicht-medikamentöse Interventionen bei Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia (BPDS) Cluster-randomisierte multizentrische Studie,12 Pflegeheime, 10- monatiges Trainingsprogramm für Pflegepersonal: personenzentrierte Pflege Heime wurden randomisiert: Interventionsarm (personenzentrierte Pflege) vs. Kontrollarm (herkömmliche Pflege) Nach 12 Monaten Anteil NL-Verordnungen: 23% vs. 42% Reduktion der NL-Vo um ca. 20% im Interventionsarm BPSD: keine Unterschiede zwischen den beiden Behandlungsarmen (Fossey et al., 2006) Personenzentrierte (aktivierende) Pflege als (personalintensive) Alternative zu NL Gebt uns mehr Pflegerinnen und Pfleger, dann brauchen wir weniger Haldol!
27 Fazit Ungeliebte Kinder haben es ohne Zweifel schwer: Sie müssen sich durchsetzen und Akzeptanz finden das gilt auch für die Versorgungsforschung Sie ist eine aufdeckende Forschung, sie schafft Transparenz und Hinweise für eine qualitätsgesicherte Versorgung, aber auch für Unter-, Über und Fehlversorgung Damit bietet sie Interventionsansätze für die Ärzteschaft, für die Krankenkassen und für die Politik. Daten für Taten Sie ist aber ungeliebt von jenen, die von einer verbes-serten Transparenz Nachteile für ihre Interessen befürchten Sie ist aber ein Beitrag zur Verbesserung von Qualität und Effizienz in der Versorgung von Patientinnen und Patienten - und das ist m.e. das wichtigste Ziel!
28 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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