Vorlesung zum Sozialrecht WS 2006/2007
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- Alwin Reuter
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1 Vorlesung zum Sozialrecht WS 2006/2007 Claudia Rühs Lehrstuhl für Arbeits- und Sozialrecht Arbeitsmaterialien 1. Gesetzestext (aktuell) Sozialgesetzbuch, Beck-Texte im dtv (Nr. 5024), 33. Aufl., März 2006 (ISBN ) 2. Lehrbücher (möglichst aktuell) Waltermann, Sozialrecht, 6. Aufl., 2006 Kokemoor, Sozialrecht, 2. Aufl., 2006 Fuchs/Preis, Sozialversicherungsrecht, 2005 Schäfer/Senger-Sparenberg (Alpmann und Schmidt), Sozialrecht 1 und 2, jeweils 2. Aufl., 2005 Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., 2006 Sozialrecht - WS 2006/ Arbeitsmaterialien (Forts.) 3. Fachzeitschriften NZS - Neue Zeitschrift für Sozialrecht SGb - Die Sozialgerichtsbarkeit VSSR - Vierteljahresschrift für Sozialrecht ZIAS - Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht ZfS - Zeitschrift für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung ZfSH/SGB - Sozialrecht in Deutschland und Europa (früher: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch) 4. Entscheidungssammlungen Breithaupt: Sammlung von Entscheidungen aus dem Sozialrecht BSGE: Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BSG BVerwGE: Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BVerwG SozR: Loseblattsammlung der Entscheidungen des BSG Sozialrecht - WS 2006/
2 Arbeitsmaterialien (Forts.) 5. Sonstiges - Internetportal für Arbeits- und Sozialrecht - Datenbank und Informationssystem zu allen Rechtsgebieten - Datenbank zu verschiedenen Rechtsgebieten - Entscheidungen des BSG ab Entscheidungen des BVerfG ab ausgesuchte Entscheidungen des BVerwG ab für den Abruf sonstiger sozialrechtlicher Entscheidungen - Internetportal des Arbeits- und Sozialministeriums Sozialrecht - WS 2006/ Gliederung 1. Einführung in das Sozialrecht 1.1 Rechtliche Grundlagen 1.2 Aufgaben, Begriff und Bedeutung des Sozialrechts 1.3 Systemstrukturen 1.4 Historischer Überblick 1.5 Die Sozialgerichtsbarkeit 1.6 Das SGB I Sozialrecht - WS 2006/ Gliederung (Forts.) 2. Sozialversicherungsrecht (einschließlich Arbeitsförderung) 2.1 Grundlagen (SGB IV) 2.2 Krankenversicherung (SGB V) 2.3 Pflegeversicherung (SGB XI) 2.4 Unfallversicherung (SGB VII) 2.5 Rentenversicherung (SGB VI) 2.6 Arbeitsförderung (SGB III) Sozialrecht - WS 2006/
3 Gliederung (Forts.) 3. Soziale Entschädigung, Soziale Hilfe und Soziale Förderung 3.1 Grundsicherung für Arbeitssuchende und Sozialhilfe (SGB II und XII) 3.2 Soziale Förderung a) Ausbildungsförderung b) Wohngeld c) Leistungen für Familien d) Teilhabe behinderter Menschen 3.3 Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) Sozialrecht - WS 2006/ Teil 1 Einführung ins Sozialrecht Sozialrecht - WS 2006/ Rechtliche Grundlagen EG Verfassungsrecht (GG) Bundesrecht Landesrecht Satzungen, Gesamtverträge, Richtlinien der Selbstverwaltungskörperschaften und beteiligter Organisationen Sozialrecht - WS 2006/
4 Verfassungsrechtliche Grundlagen (I) Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) Staatszielbestimmung gerichtet auf den Ausgleich sozialer Gegensätze und die Schaffung einer gerechten Sozialordnung (soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit) Adressaten sind die Träger öffentlicher Gewalt (Verwaltung, Gesetzgebung, Rechtsprechung) unterliegt dem Bestandsschutz nach Art. 79 Abs. 3 GG Sozialrecht - WS 2006/ Verfassungsrechtliche Grundlagen (II) Art. 1 GG Unantastbarkeit der Menschenwürde Art. 14 GG Eigentumsgarantie & Sozialbindung des Eigentums Art. 3 GG Gleichbehandlungsgrundsatz Grundrechte Art. 2 GG Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie freie Entfaltung der Persönlichkeit Art. 12 GG Freiheit der Berufswahl Art. 6 GG Schutz von Ehe und Familie Sozialrecht - WS 2006/ Das Sozialgesetzbuch (SGB) Zentrale Rechtsgrundlage des Sozialrechts bestehend aus 12 selbstständigen Büchern (SGB I - XII) SGB I - Allgemeiner Teil des Sozialgesetzbuches SGB II - Grundsicherung für Arbeitslose SGB III - Arbeitsförderung SGB IV - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung SGB V - Gesetzliche Krankenversicherung SGB VI - Gesetzliche Rentenversicherung SGB VII - Gesetzliche Unfallversicherung SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen SGB X - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz SGB XI - Soziale Pflegeversicherung SGB XII - Sozialhilfe Sozialrecht - WS 2006/
5 Entwicklung des SGB SGB IV SGB X / SGB V SGB XII SGB I SGB II SGB VIII SGB VI SGB SGB XI SGB VII SGB IX SGB III Sozialrecht - WS 2006/ Besondere Teile des SGB Bis zu ihrer Einordnung in das SGB gelten die nachfolgenden Gesetze als besondere Teile des SGB (vgl. 68 SGB I): 1. Bundesausbildungsförderungsgesetz (BaföG), 2. Reichsversicherungsordnung (RVO), 3. Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte, 4. Gesetz und Zweites Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte, 5. Bundesversorgungsgesetz (BVG) und darauf verweisende Vorschriften, z.b. Soldatenversorgungs-, Zivildienst- und Opferentschädigungsgesetz Sozialrecht - WS 2006/ Besondere Teile des SGB (Forts.) 6. Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung 7. Bundeskindergeldgesetz (BKGG) 8. Wohngeldgesetz (WoGG) 9. Adoptionsvermittlungsgesetz 10. Unterhaltsvorschussgesetz 11. Erster Abschnitt des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) 12. Altersteilzeitgesetz 13. Schwangerenhilfegesetz Sozialrecht - WS 2006/
6 1.2 Aufgaben des Sozialrechts 1 Abs. 1 Satz 1 SGB I: Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I: Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen. Sozialrecht - WS 2006/ Soziale Gerechtigkeit: Jeder soll die Chance haben, die seinen individuellen Fähigkeiten entsprechende Stellung in Staat und Gesellschaft zu erlangen und zu halten. Die geschieht v.a. durch soziale Umverteilung, die Herstellung von Chancengleichheit und die Gewährung sozialer Entschädigungen. Soziale Sicherheit: Die Möglichkeit des Einzelnen, sein Leben in einer der menschlichen Würde entsprechenden Art und Weise zu gestalten, insbesondere aufgrund einer gesicherten, ökonomischen Basis leben zu können. Sozialrecht - WS 2006/ Begriff des Sozialrechts Formeller (pragmatischer) Sozialrechtsbegriff: Alle Rechtsbereiche, die direkt oder über 68 SGB I im Sozialgesetzbuch zusammengefasst sind. Materieller (inhaltlicher) Sozialrechtsbegriff: Sozialrecht ist der Teil der Rechtsordnung, der primär und im Einzelfall das Sozialstaatsprinzip, d.h. im Wesentlichen soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, realisiert, indem mittels gezielter Leistungen eines Trägers öffentlicher Verwaltung individuelle Güterdefizite und darauf beruhende Bedarfssituationen verhindert oder beseitigt werden. Sozialrecht - WS 2006/
7 Ökonomische Bedeutung des Sozialrechts Sozialbudget: Summe aller direkten und indirekten Ausgaben für Zwecke der sozialen Sicherung. Sozialleistungsquote: Verhältnis des Sozialbudgets zum Bruttoinlandsprodukt. Sozialbudget (in Mrd. EUR) Sozialleistungsquote (in %) Euro pro Einwohner ,0 30, ,2 31, ,7 31, Sozialrecht - WS 2006/ Finanzierung der sozialen Sicherung Primärverteilung Finanzierung Sozialleistungen Gewinn- und Vermögenseinkommen Sozialversicherungsfreie Arbeitseinkommen Sozialversicherungspflichtige Arbeitseinkommen Steuern Beiträge Öffentliche Haushalte Zuschüsse Sozialversicherungshaushalte z.b. Pensionen, Wohngeld, Sozialhilfe, Kindergeld z.b. Krankengeld, Pflegegeld, Renten, Arbeitslosengeld Sozialrecht - WS 2006/ Systemstrukturen Soziale Sicherung Soziale Vorsorge (Sozialversicherung) Soziale Entschädigung Soziale Hilfe und Förderung (Fürsorge) Kranken-, Pflege-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung z.b. Kriegsopfer-, Wehr- und Zivildienstentschädigung z.b. Kindergeld, Erziehungs- bzw. Elterngeld, SGB II, SGB VIII, SGB IX, SGB XII Sozialrecht - WS 2006/
8 a) Soziale Vorsorge (Sozialversicherung): Die Leistungen werden bei Eintritt eines bestimmten Lebensrisikos (Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit) unabhängig von der individuellen Bedürftigkeit gezahlt. Die Vorsorge wird durch Beiträge finanziert. Die Mitgliedschaft der Versicherten erfolgt regelmäßig zwangsweise. Sozialrecht - WS 2006/ b) Soziale Entschädigung: Dient dem Ausgleich besonderer Opfer, die im Rahmen des Einsatzes für die Allgemeinheit eingetreten sind bzw. für Schäden, für die die Allgemeinheit eine besondere Verantwortung trägt. Dazu gehören alle in 68 Nr. 7 SGB I genannten Gesetze. Die Finanzierung erfolgt über Steuermittel. Sozialrecht - WS 2006/ c) Soziale Hilfe und Förderung (früher auch Fürsorge genannt): Soziale Förderung soll als Entfaltungshilfe die soziale Chancengleichheit verbessern. Soziale Hilfe greift subsidiär, d.h. nach Ausschöpfung aller privaten und sonstigen öffentlichen Möglichkeiten sichert sie in konkreten Notlagen und bei individueller Bedürftigkeit ein Existenzminimum. Beide Formen sind steuerfinanziert und ergehen unabhängig von der Ursache der Hilfsbedürftigkeit. Sozialrecht - WS 2006/
9 1.4 Historischer Überblick 1883 Krankenversicherung (Arbeiter) 1884 Unfallversicherung 1889 Invaliditäts- und Alterssicherung (Arbeiter) 1881 Kaiserliche Botschaft Die Entwicklung der sozialer Sicherung 1911 RVO und Rentenversicherung für Angestellte seit Ende der 80er Jahre Reformbedarf & Reformbemühungen 1995 Pflegeversicherung 1920 Arbeitslosenversicherung Reichsversorgungsgesetz 1949 Sozialstaatsprinzip im GG verabschiedet 1927 Sozialrecht - WS 2006/ Auszug aus der kaiserlichen Botschaft vom : Schon im Februar d.j. haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von Neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hülfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen ( ) In diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die im Reichstage stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung unterzogen, um die erneute Beratung desselben vorzubereiten. Ergänzend wir ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Teil werden können (Zit. aus Waltermann, Sozialrecht, Rn 45) Sozialrecht - WS 2006/ Sozialgerichtsbarkeit eigenständiger Rechtsweg für (viele) Streitigkeiten des Sozialrechts ( 51 SGG) das Verfahren bestimmt sich nach Sozialgerichtsgesetz (SGG) 3 Instanzen: Bundessozialgericht (BSG) mit Sitz in Kassel Revisionsinstanz Revision Landessozialgericht (LSG) Sprungrevision Berufungsinstanz Sozialgerichte (SG) 1. Instanz Berufung Sozialrecht - WS 2006/
10 1.6 SGB I - Grundbegriffe 2-10 soziale Rechte 11 Sozialleistungen 16 Antragstellung Einweisungsvorschriften 36 Handlungsfähigkeit 37 Vorbehalt abweichender Regelungen 12 Leistungsträger Beratungs-, Auskunftsund Betreuungspflichten 30 Territorialitätsprinzip 35 Sozialgeheimnis Mitwirkung des Leistungsberechtigten 68 Besonderer Teil des SGB Sozialrecht - WS 2006/ Sozialleistungen (I) 11 SGB I Dienstleistungen Sachleistungen Geldleistungen Persönliche Betreuung und Hilfe, z.b. Hilfen nach dem SGB VIII, ärztliche Behandlung Überlassung von Sachen zeitweise oder auf Dauer, z.b. Arzneimittel, Rollstühle Zahlungsansprüche, z.b. Renten, Krankengeld Sozialrecht - WS 2006/ Sozialleistungen (II) Rechtsnatur Pflichtleistung ( 38 SGB I) Ermessensleistung ( 39 SGB I) Kausale Leistung Einmalige Leistung Struktur Häufigkeit Funktion Finale Leistung Wiederkehrende Leistung Präventionsleistung Restitutionsleistung Kompensationsleistung Sozialrecht - WS 2006/
11 Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch Inhalt: Bei falscher oder unzureichender Beratung bzw. Auskunft hat der Bürger einen Anspruch auf die Vornahme einer Amtshandlung, durch die er so gestellt wird, wie er stünde, wenn die Sozialbehörde ihn richtig und vollständig beraten hätte. Rechtsgrundlage: Richterliche Rechtsfortbildung des BSG Prüfungsreihenfolge: 1. Sozialrechtsverhältnis 2. Rechtswidriger Betreuungsfehler 3. Rechtsnachteil des Bürgers 4. Kausalität Sozialrecht - WS 2006/
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