Demografischer Wandel

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1 Leitthema: Demografischer Wandel Bundesgesundheitsbl : DOI /s x Online publiziert: 1. April 2010 Springer-Verlag 2010 K. Fendrich N. van den Berg U. Siewert W. Hoffmann Institut für Community Medicine, Abt. Versorgungsepidemiologie und Community Health, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald Demografischer Wandel Anforderungen an das Versorgungssystem und Lösungsansätze am Beispiel Mecklenburg-Vorpommern Der demografische Wandel führt in den meisten europäischen Gesellschaften zu einer Zunahme der Anzahl älterer Menschen. Die daraus resultierenden erhöhten Fallzahlen für chronische Erkrankungen und Multimorbidität und sich daraus ergebende erhöhte Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen [1, 2, 3] stellt die Gesundheitssysteme vor neue Herausforderungen. Dies betrifft sowohl die Planung und Sicherstellung der medizinischen und pflegerischen Versorgung als auch die Evaluation von Behandlungsund Betreuungsmaßnahmen und die Zielsetzung der medizinischen Behandlung und Betreuung. Die demografische Entwicklung Mecklenburg-Vorpommerns ist im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands und Europas durch eine besonders schnell voranschreitende Alterung der Bevölkerung bei gleichzeitigem Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet [4]. Ursachen des Bevölkerungsrückgangs sind die starke Verringerung der Geburtenzahlen seit der Wiedervereinigung Deutschlands und ein negativer Wanderungssaldo mit Abwanderung vor allem der jüngeren Altersgruppen. Hinzu kommt eine Einwanderung älterer Personen (positiver Wanderungssaldo bei über 55-Jährigen) [5]. Im Zusammenhang mit einer zunehmenden Lebenserwartung bedingen diese Faktoren eine schnelle Alterung der regionalen Bevölkerung. Gleichzeitig weist die Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns bereits heute ein verglichen mit anderen deutschen Regionen ungünstiges Risikofaktoren- und Morbiditätsprofil auf. Ziel des Beitrages ist es daher, Konsequenzen der Veränderung der Bevölkerungsstruktur für den zukünftigen medizinischen Versorgungsbedarf und daraus entstehende Anforderungen an das medizinische Versorgungssystem vor dem Hintergrund der Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen und für möglichst alle Beteiligten zugänglichen medizinischen Versorgung darzustellen. Anhand konkreter Beispiele für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern werden Lösungsansätze und -modelle vorgestellt. Prognosen der Fallzahlen für altersassoziierte Erkrankungen Der Anstieg der Bevölkerungszahlen in den höheren Altersgruppen in Mecklenburg-Vorpommern bewirkt einen Anstieg der Fallzahlen altersassoziierter Erkrankungen, der durch die Abnahme der Bevölkerungs- und Fallzahlen in den jüngeren Altersgruppen nicht ausgeglichen wird. So wird beispielsweise ein Anstieg der Fallzahlen (Männer und Frauen) für bösartige Neubildungen des Dickdarms in Mecklenburg-Vorpommern von 787 Fällen im Jahr 2002 auf 979 Fälle 2012 beziehungsweise auf 1031 Fälle 2020 prognostiziert, was einem Anstieg um 24,4% im Jahr 2012 beziehungsweise um 30,9% im Jahr 2020 entspricht. Dies ist hauptsächlich auf den Anstieg der Fallzahlen im Altersbereich ab 75 Jahren zurückzuführen. In diesem Altersbereich wird die absolute Anzahl der Fälle 2020 gegenüber 2002 für Frauen um 46,2% und für Männer um 131,4% ansteigen. Die Fallzahlen für inzidente Myokardinfarkte werden 2012 gegenüber 2002 um 1661 Fälle beziehungsweise um 27,5% zunehmen. Die Anzahl der prävalenten Fälle mit Diabetes wird sich im Altersbereich von 40 bis 79 Jahren im Jahr 2012 gegenüber 2002 um Fälle beziehungsweise 13% erhöht haben, ebenso wird sich die Zahl der an Demenz Erkrankten im Jahr 2012 gegenüber 2002 um 40,4% beziehungsweise um 67,2% im Jahr 2020 erhöhen [1]. Auf Basis regionaler Bevölkerungsprognosen, bevölkerungsbezogener Prävalenz- und Inzidenzdaten der Study of Health in Pomerania (SHIP) zu häufigen Erkrankungen in Vorpommern [6, 7, 8], des Gemeinsamen Krebsregisters der Neuen Bundesländer [9] sowie der Studie von Bickel [10] zur Häufigkeit von Demenzerkrankungen wurden aktuell Prognosen zu den Fallzahlen für altersassoziierte Erkrankungen in Mecklenburg-Vorpommern bis 2020 berechnet. Auch diese aktuellen regionalen Prognosen mit dem Referenzjahr 2005 zeigen zusammengefasst für alle Altersgruppen die höchsten Anstiege für prävalente Demenzerkrankungen mit 91,1%, für überlebte Myokardinfarkte mit 28,3% sowie für inzidente Krebserkrankungen * Gemeinsame Erstautorenschaft: K. Fendrich und N. van den Berg Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz

2 Leitthema: Demografischer Wandel mit insgesamt 22,6% [11]. Diese Anstiege der Fallzahlen altersassoziierter Erkrankungen ergeben sich bei isolierter Betrachtung der Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur. Dabei wird dieser Anstieg möglicherweise unterschätzt, da bei den Hochrechnungen die Veränderungen der Risikofaktorenprävalenz im gleichen Zeitraum nicht berücksichtigt wurden. Es lassen sich auch Hochrechnungen zum Beispiel zur zu erwartenden Inanspruchnahme niedergelassener Ärzte, zur Anzahl stationärer Betten sowie zur Entwicklung der Versorgung mit Blut und Blutprodukten erstellen [12]. Diese zeigen, dass trotz des sich zukünftig fortsetzenden Bevölkerungsrückgangs in Mecklenburg-Vorpommern die Inanspruchnahme von Hausärzten und ausgewählten Fachärzten sowie die bestimmter stationärer Abteilungen deutlich ansteigen wird. Auch wird der Bedarf an Blut und Blutprodukten bei einem gleichzeitigen Rückgang der Zahl an potenziellen Blutspendern steigen, sodass mit einem Defizit in der Versorgung mit Blutprodukten zu rechnen ist [12]. Diese Hochrechnungen können genutzt werden, um die zukünftig für die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung benötigten medizinischen Versorgungskapazitäten sowie deren möglichst optimale regionale Verteilung zu ermitteln [13]. Für die Bedarfsplanung ist es somit erforderlich, die Veränderungen bei der Morbidität und Inanspruchnahme vor allem infolge der relativen und absoluten Zunahme der Zahl an älteren Menschen in der Bevölkerung mit einzubeziehen. Drohende Unterversorgung im ambulanten Bereich Dem erhöhten Versorgungsbedarf steht in Mecklenburg-Vorpommern ein hoher Wiederbesetzungsbedarf frei werdender Arztsitze im hausärztlichen und zukünftig auch im fachärztlichen Versorgungsbereich gegenüber. Dies gilt insbesondere für ländliche Regionen. Wie in allen neuen Bundesländern hat sich die Relation zwischen der Zahl der Hausärzte und der Zahl der Personen ab 65 Jahre zwischen 1999 und 2008 deutlich verschlechtert. Im Jahr 1999 wurden pro Hausarzt etwa Jährige und Ältere betreut. Im Jahr 2008 waren dies bereits etwa 280 [14]. Zudem zeigen die Hochrechnungen der Fallzahlen für Erkrankungen für Mecklenburg-Vorpommern, dass es diesbezüglich bedeutsame regionale Unterschiede gibt, die auf differierende demografische Entwicklungen (Rückgang der Einwohnerzahlen und Alterung der Bevölkerung) und damit auf Unterschiede in der voraussichtlichen Bevölkerungsstruktur der einzelnen Landkreise und kreisfreien Städte im Jahr 2020 zurückzuführen sind [11]. Das Wissen hierüber ist für die zukünftige kleinräumige Bedarfsplanung der ambulanten medizinischen Versorgung wichtig. Ergebnisse einer aktuellen Studie, in der 55-jährige und ältere Zuwanderer nach Mecklenburg-Vorpommern befragt wurden, zeigten, dass bereits jetzt in einigen Regionen von der Bevölkerung eine nicht optimale medizinische Versorgung wahrgenommen wird. So schätzten zahlreiche Befragte den Zugang zum medizinischen Versorgungssystem zum Beispiel aufgrund langer Wartezeiten oder des Fehlens von Angeboten als suboptimal ein [5]. Die Gewährleistung eines adäquaten zeit- und wohnortnahen Zugangs zum medizinischen Versorgungssystem stellt gerade ein dünn besiedeltes Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern vor große Herausforderungen. Die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur lassen sich in Mecklenburg-Vorpommern akzentuiert abbilden, betreffen jedoch auch die anderen neuen Bundesländer und, zeitlich um zirka zehn Jahre verzögert, vor allem die ländlichen Regionen der alten Bundesländer. Dieser Vorsprung Mecklenburg- Vorpommerns ermöglicht es, frühzeitig Lösungsansätze zur Sicherstellung einer flächendeckenden, qualitätsgesicherten medizinischen Versorgung in dieser Modellregion zu entwickeln und ergebnisbezogen sowie gesundheitsökonomisch zu evaluieren. Für die zukünftige Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung unter den oben genannten Bedingungen und vor dem Hintergrund eines weiterhin bestehenden Kostendrucks im medizinischen Versorgungsbereich ist ein besonders effektiver Einsatz bestehender Ressourcen und die Etablierung neuer flexibler, bedarfsorientierter, modularer Versorgungskonzepte notwendig. Anders als in der Vergangenheit wird zunehmend gefordert, diese hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und ihrer gesundheitsökonomischen Effizienz wissenschaftlich zu evaluieren [15]. Multimorbidität und Konsequenzen für die medizinische Versorgung Die Alterung der westlichen Gesellschaften und die damit verbundenen Veränderungen im Krankheitsspektrum hin zum vermehrten Auftreten chronischer Erkrankungen sowie zur Multimorbidität stellen auch das bisherige vorwiegend kurativ orientierte medizinische Paradigma infrage. Multimorbidität (das gleichzeitige Bestehen mehrerer Erkrankungen) oder Komorbidität (zusätzlich zur Grunderkrankung gibt es eine oder mehrere weitere Erkrankungen) ist insbesondere bei älteren Patienten sehr häufig [16]. In einer repräsentativen Studie unter Hausarztpatienten in den Niederlanden stieg die durchschnittliche Anzahl der Erkrankungen bei weiblichen Patienten von 0,46 bei Personen unter 20 Jahren auf 3,57 bei Patientinnen ab 80 Jahren an [17]. Die Ergebnisse einer aktuellen deutschen Studie, in der nur chronische Erkrankungen dokumentiert wurden, zeigen eine durchschnittliche Anzahl von 1,53 chronischen Erkrankungen bei weiblichen Patienten ab 80 Jahren [18]. In den AGnES-Projekten, in denen hausärztliche Hausbesuche an speziell qualifizierte PraxismitarbeiterInnen delegiert wurden, waren die teilnehmenden Patienten zu 91% immobil oder eingeschränkt mobil. Bei dieser Patientengruppe (Durchschnittsalter 78,6 Jahre) betrug die durchschnittliche Anzahl von Erkrankungen 6,0. Die häufigsten Diagnosen waren Hypertonie (bei 66% der Patienten), Diabetes mellitus (43%), koronare Herzkrankheit (24%), Erkrankungen des Bewegungsapparates (22%), Krebserkrankungen (14%), Herzinsuffizienz (13%) und Demenz (13%) [19]. Im Abschnitt Delegationsmodelle wird das AGnES- Konzept detailliert beschrieben. Diese Ergebnisse zeigen, dass die in der Vergangenheit vor allem auf die Heilung 480 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz

3 Zusammenfassung Abstract von Erkrankungen ausgerichtete Medizin (kurative Medizin) sich nun verstärkt auf die Betreuung multimorbider, chronisch Erkrankter fokussieren muss. Ihre Ziele sind der Erhalt der Kompetenz und Lebensqualität des Einzelnen sowie die Aufrechterhaltung einer selbstständigen Lebensführung und der gesellschaftlichen Teilhabe. Damit spielen bei der medizinischen und pflegerischen Betreuung Aspekte wie Assessment und Monitoring des Krankheitsverlaufs, Begleitung und Management, Linderung und Symptomkontrolle sowie die Stärkung individueller Ressourcen und die Prävention eine zentrale Rolle. Behandlungsansätze, die auf eine Erkrankung/ein Krankheitsbild zielen, stoßen bei multimorbiden Patienten schnell an ihre Grenzen. Therapieziele sowie -prioritäten müssen gemeinsam mit dem Patienten diskutiert und definiert werden. Die Anwendung mehrerer krankheitsspezifischer Leitlinien bei einem Patienten kann schnell zu einer Potenzierung der Medikation, der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sowie der Hinweise zur Lebensführung führen, die von ihm kaum umgesetzt werden können oder die Lebensqualität unzumutbar beeinträchtigen [20]. Innovative Versorgungskonzepte zur Sicherstellung einer regionalen Versorgung ambulante und klinikbasierte Modelle Um die ärztliche Versorgung, insbesondere in ländlichen Regionen, auf dem bisherigen hohen Niveau zu sichern, sind innovative, integrative und am Patienten orientierte Versorgungsmodelle unter Beteiligung aller Akteure des Gesundheitswesens notwendig. Mit Akteuren sind hier sowohl die unmittelbaren Leistungserbringer (zum Beispiel niedergelassene Ärzte, Pflegedienste, Krankenhäuser) als auch Institutionen der Selbstverwaltung (Krankenkassen, kassenärztliche Vereinigungen) und weitere Institutionen und Interessengruppen im Gesundheitswesen gemeint. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen weist im Sondergutachten 2009 auf die große Bedeutung einer gene- Bundesgesundheitsbl : Springer-Verlag 2010 DOI /s x K. Fendrich N. van den Berg U. Siewert W. Hoffmann Demografischer Wandel. Anforderungen an das Versorgungssystem und Lösungsansätze am Beispiel Mecklenburg-Vorpommern Zusammenfassung Die Zunahme der absoluten Anzahl älterer Menschen führt zu einem Anstieg der Patientenzahlen mit chronischen Erkrankungen und Multimorbidität sowie der Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems. In Mecklenburg-Vorpommern verläuft der demografische Wandel besonders rasch und ausgeprägt. Ziel des Beitrages ist es, Konsequenzen der Veränderung der Bevölkerungsstruktur für das medizinische Versorgungssystem darzustellen. Anhand konkreter Beispiele für Mecklenburg-Vorpommern werden innovative Lösungsmodelle zur Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung vorgestellt. Hierzu gehören die Eröffnung von Zweigpraxen, Medizinische Versorgungszentren, Delegationsmodelle, ambulante Betreuungsmanager, Telemedizin und eine stärkere sektorübergreifende Vernetzung. Im demografischen Wandel werden die begleitende Betreuung, eine adäquate Symptomkontrolle, der Kompetenzerhalt, die Bewahrung einer möglichst langen selbstständigen Lebensführung bei hoher Lebensqualität und die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe zu prioritären Zielen der medizinischen Versorgung. Neben der Effektivität und Ergebnisqualität in Bezug auf diese Ziele muss bei neuartigen Versorgungsmodellen gleichzeitig die gesundheitsökonomische Effizienz auf Bevölkerungsebene unter realen Versorgungsbedingungen nachgewiesen werden. Schlüsselwörter Demografischer Wandel Versorgungsepidemiologie Versorgungsmodelle Modellregion Versorgungsforschung Vorpommern Demographic change. Demands on the health care system and solutions using the example of Mecklenburg Western Pomerania Abstract The growing absolute number of the elderly causes an increase in the number of patients suffering from not only chronic diseases and multimorbidity, but also higher usage of the health care system. In the German Federal State of Mecklenburg Western Pomerania (MW), the effects of demographic change will be more pronounced than in other regions. The objective of this article is to show the consequences of the changing population structure for the health care system. Using examples from MW, innovative models to secure high quality health care at the population level are presented. Examples include the establishment of subsidiary practices, multidisciplinary ambulatory health care centers, delegation models, ambulatory health care managers, telemedicine, and intensified and improved interdisciplinary networking. In the context of the demographic change, assisted care, adequate symptom control, maintaining personnel competence, preservation of an independent lifestyle with a high quality of life, and stimulation of social participation become priority objectives of medical care. Besides the effectiveness and the quality of results with regard to these objectives, innovative health care models should be economically evaluated at the population level under real life practice conditions. Keywords Demographic change Epidemiology of health care Health care models Model region health care research Western Pomerania Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz

4 Leitthema: Demografischer Wandel rationenspezifischen integrierten Versorgung hin [15]. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um Versorgungsmodelle zu gestalten und in die (Regel-)Versorgung zu implementieren. Die Inhalte und Struktur der Modelle sowie die Rolle der beteiligten Akteure sollten dabei abhängig vom Bedarf der jeweiligen Region in Kooperation entwickelt werden. Nachfolgend werden beispielhaft einige Möglichkeiten zur Gestaltung flächenbezogener Versorgungsmodelle beschrieben. Vertragsarztrechtsänderungsgesetz Seit Januar 2007 ist das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz in Kraft, das die rechtlichen Rahmenbedingungen für Vertragsärzte in Deutschland regelt [21]. Dieses Gesetz beinhaltet einige Möglichkeiten zur Verbesserung der ambulanten Versorgung: 1. Gleichzeitige Tätigkeit als Krankenhausarzt und Vertragsarzt: Ein Arzt darf neben seiner Tätigkeit als Vertragsarzt auch als angestellter Arzt in einem Krankenhaus oder einer Rehabilitationseinrichtung tätig sein. Voraussetzung ist, dass die Tätigkeit im Krankenhaus nicht mehr als 13 Stunden pro Woche beträgt. 2. Zweigpraxen: In Regionen, in denen der hausärztliche Versorgungsbedarf nicht mehr durch ambulant niedergelassene Hausärzte abgedeckt werden kann, können Zweigpraxen eröffnet werden, die flexibel und wohnortnah auf die spezifischen Bedarfe der Bevölkerung, besonders im Hinblick auf ältere, chronisch kranke Personen, reagieren können. Die Zweigpraxen können zu bestimmten Tagen und Zeiten gezielt nach dem Bedarf der Bevölkerung geöffnet werden, zum Beispiel auch am Abend oder am Wochenende. Die Praxen können sowohl von niedergelassenen Ärzten als auch von angestellten Ärzten aus Hausarztpraxen oder medizinischen Versorgungszentren besetzt werden. Wo diese fehlen, können subsidiär Klinikumsärzte eingesetzt werden (siehe Punkt 1). Dies ist auch ein attraktives Arbeitsmodell für junge Ärzte, die hausärztlich tätig sein möchten, ohne sich selbst niederzulassen. Auch ist die flexible Anwendung von Teilzeitarbeitsmodellen möglich. 3. Aufhebung der Altersbeschränkung: In unterversorgten Regionen wurde die Altersbeschränkung für Kassenärzte von 68 Jahren aufgehoben. Gleichzeitig können hier auch Ärzte, die bei Antragstellung älter als 55 Jahre sind, eine Zulassung erhalten. Medizinische Versorgungszentren Ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) ist eine fachübergreifende, ärztlich geleitete Einrichtung, in der außer verschiedenen Haus- und Fachärzten auch weitere Gesundheitsdienstleister tätig sein können, zum Beispiel Apotheker, Physiotherapeuten, Sanitätsanbieter oder orthopädische Schuhmacher. Aufbauend auf den in der DDR etablierten Polikliniken, wurden die gesetzlichen Grundlagen für Gesundheitszentren (Arztgemeinschaften in Nachfolge einer DDR-Poliklinik) in der Bundesrepublik Deutschland seit 1999 verbessert. Im Rahmen des Modernisierungsgesetzes der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) wurde ab dem im gesamten Bundesgebiet die Gründung sogenannter Medizinischen Versorgungszentren erlaubt. Der Vorteil, insbesondere größerer MVZs, ist es, dass sie sich flexibel und orientiert am Bedarf der jeweiligen Region an Sicherstellungskonzepten beteiligen können. Ein Beispiel ist die Gründung von Zweigpraxen, in denen Haus- und Fachärzte aus dem Pool des MVZ an unterschiedlichen Tagen Sprechstunden durchführen. Delegationsmodelle In seinem Gutachten von 2007 befasste sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen mit einer notwendigen Neuverteilung der Aufgaben und Kompetenzen verschiedener Gesundheitsberufe [22]. Als Beispiel für ein erfolgreiches Delegationsmodell wird dort das AGnES- Konzept (AGnES: Arztentlastende, Gemeindenahe, E-Healthgestützte, Systemische Intervention) aufgeführt. Es basiert auf der Delegation ärztlicher Hausbesuche an speziell qualifizierte Praxismitarbeiter. In Gebieten mit drohender oder bereits manifester hausärztlicher Unterversorgung kann das AGnES-Konzept dazu beitragen, dem einzelnen Hausarzt die in diesen Regionen notwendige Versorgung eines größeren Patientenstammes und/oder einer größeren Region zu ermöglichen. Das Konzept wurde im Institut für Community Medicine der Universität Greifswald in Kooperation mit dem Ministerium für Soziales und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern entwickelt und in Projekten in vier Bundesländern erfolgreich implementiert und evaluiert [19, 23]. Innerhalb der Projekte wurden Hausbesuche bei 1430 immobilen oder eingeschränkt mobilen, mehrheitlich multimorbiden Patienten mit einem Durchschnittsalter von 78,6 Jahren durchgeführt. Dabei wurden etwa 300 unterschiedliche delegierte Tätigkeiten dokumentiert [19, 23]. Die Akzeptanz des Konzeptes bei den Patienten war sehr gut, ebenso die Qualität der medizinischen Versorgung: Alle beteiligten Ärzte vertraten die Auffassung, dass die Qualität der medizinischen Versorgung innerhalb des AGnES-Konzeptes für die große Mehrheit ihrer Patienten ebenso gut war, wie ihre eigene gewesen wäre. Die Mehrheit der beteiligten Ärzte war außerdem der Meinung, dass die Hausbesuche durch eine AGnES-Fachkraft eine positive Auswirkung auf die Compliance der Patienten hatten [19, 23]. Auf Basis der positiven Evaluierung des AGnES-Konzeptes trat im Rahmen des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes am die Gesetzesänderung in 87 Absatz 2b SGB V in Kraft. Danach ist die Delegation medizinischer Leistungen in der Häuslichkeit der Patienten in Abwesenheit des Arztes erlaubt. Seit dem können Hausärzte in unterversorgten oder von Unterversorgung bedrohten Regionen AGnES-Leistungen abrechnen. Voraussetzung ist, dass ihre Praxismitarbeiter ausreichend qualifiziert sind [24]. Weitere Beispiele für Delegationsmodelle sind medizinisch-technische Spezialisierungen im stationären Bereich wie die Ausbildung zum Operationstechnischen Assistenten oder die Weiterbildung von 482 Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz

5 Pflegefachkräften zum Anästhesietechnischen Assistenten [25]. Versorgungsmodelle mit telemedizinischem Anteil Telemedizin wurde bisher selten als Bestandteil flächenbezogener Versorgungsmodelle angewendet. Die Mehrheit der telemedizinischen Konzepte richtet sich vielmehr auf einzelne Indikationen für bestimmte Patientengruppen. Erste Erfahrungen zur Akzeptanz telemedizinischer Funktionalitäten in einer eingeschränkt mobilen, multimorbiden Population wurden in den AGnES-Projekten gesammelt. Die Ergebnisse waren hier mehrheitlich positiv [26, 27]. Auf dieser Basis wurde zur Erforschung der Möglichkeiten der Telemedizin für die Flächenversorgung im September 2008 vom Institut für Community Medicine mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Soziales und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern der Integrierte Funktionsbereich Telemedizin (IFT) gegründet. Der IFT ist integriert im Universitätsklinikum Greifswald. Primäres Ziel des IFT ist die Entwicklung, Implementation und Evaluation neuer Versorgungsmodelle und - strategien mit telemedizinischem Anteil in der bevölkerungsbezogenen Flächenversorgung. Dies umfasst sowohl telemedizinische Verbindungen zwischen Kliniken oder zwischen Kliniken und niedergelassen Ärzten als auch das telemedizinische Monitoring von Patienten in der Region in enger Kooperation mit den behandelnden Haus- und Fachärzten, zum Beispiel von Patienten mit Herzinsuffizienz, psychiatrischen Patienten, Palliativpatienten, Patienten mit einer Leberinsuffizienz und Adipositaspatienten. Speziell weitergebildete Pflegekräfte sind für die Schulung der Patienten in der Häuslichkeit sowie für die Prüfung der übermittelten Werte auf Plausibilität, Integrität und Vollständigkeit zuständig. Wichtig ist ein abgestuftes Interventionsschema, das für jede Indikation auf Basis internationaler Leitlinien erstellt wird und das für jeden Patienten individuell in Kooperation zwischen den behandelnden Klinikums- und niedergelassen Haus- und Fachärzte angepasst werden kann. Der IFT ermöglicht den Flächeneinsatz unterschiedlicher Verfahren und Technologien im Bereich Telecare und Telemonitoring bei dafür geeigneten Patienten. Das Klinikum übernimmt in Kooperation mit den behandelnden niedergelassenen Ärzten subsidiär Versorgungsaufgaben in der Region. Hierdurch werden neue regionale Versorgungsoptionen entwickelt, die es in kooperativen Konzepten mit den niedergelassenen Kollegen erlauben, den zu erwartenden regionalen Versorgungsengpässen gezielt entgegenzuwirken. Zur Überführung erfolgreich evaluierter Versorgungsmodelle in die Regelversorgung bilden in vielen Fällen Verträge zur integrierten Versorgung nach 140 a d SGB V eine gesetzliche Grundlage. Voraussetzung ist, dass die Leistungen entweder sektorenübergreifend oder interdisziplinär-fachübergreifend sind. Vertragspartner können Leistungserbringer sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich sein. Indikationsbezogene Versorgungsmodelle: das Beispiel Demenzerkrankte und deren Angehörige In Deutschland und anderen Industrieländern sind derzeit zwischen 6 und 9% der Bevölkerung über 65 Jahre an einer Demenz erkrankt. Dies bedeutet, dass in Deutschland gegenwärtig etwas mehr als eine Million Menschen an einer Demenz leiden. Schätzungen gehen davon aus, dass jährlich etwa Neuerkrankte hinzukommen [28]. Die Prävalenz- und Inzidenzraten steigen mit zunehmendem Alter steil an, Letztere von 0,4%/Jahr bei den 65- bis 70-Jährigen auf über 10% bei den über 90-Jährigen [28]. Das Vorliegen einer Demenzerkrankung ist eine Komplikation für die Behandlung der meisten anderen Erkrankungen. Zudem erhöhen sich sowohl Häufigkeit als auch Grad der Pflegebedürftigkeit und die Anzahl stationärer Krankenhausaufenthalte. Zusätzlich ergibt sich für die betreuenden Angehörigen, die häufig Ehepartner oder Töchter des Erkrankten sind, eine besondere Belastungssituation [29]. In dieser Situation treffen die Erkrankten auf ein stark sektoriertes Versorgungssystem mit vielfältigen Schnittstellenproblematiken, die durch wenig standardisierte Kommunikationswege und Informationsdefizite bei den jeweiligen Akteuren über das Angebot an medizinischer und pflegerischer Betreuung und Beratung außerhalb des eigenen Sektors gekennzeichnet ist. Dadurch wird den Betroffenen und deren häufig ebenfalls älteren Angehörigen die Suche nach und die Auswahl der jeweils individuell geeigneten Betreuung und Beratung erschwert. Eine Verbesserung dieser Situation kann durch eine verstärkte sektorübergreifende Vernetzung und den Einsatz ambulanter Betreuungsmanager erreicht werden [30, 31]. Die Vernetzung sollte dabei insbesondere die Standardisierung der Kommunikationswege, die Etablierung von Rückmeldealgorithmen und die Abstimmung und individuelle Anpassung von Diagnose- und Behandlungsleitlinien umfassen. Der Einsatz ambulanter Betreuungsmanager kann diesen Prozess und die Optimierung der Betreuung von Demenzerkrankten und ihren Angehörigen mit Blick auf individuell vorhandene Bedarfe und Ressourcen unterstützen. Dabei nehmen die Betreuungsmanager nach einer spezifischen Qualifizierung folgende Aufgaben wahr: F Analyse der individuellen sozialen, medizinisch-therapeutischen und pflegerischen Situation des Erkrankten, F individuelle Ermittlung spezifischer Ressourcen, Defizite, Bedarfe und Angebote, F Entwicklung des individuellen Betreuungsplans für den Patienten, seine Angehörigen und alle Betreuungsperson(en), F Koordination der Umsetzung des individuellen Betreuungsplans, F Ermittlung des Bedarfs an technischer Unterstützung zum Beispiel von Telemedizin oder Technologien aus dem Bereich des Ambient Assisted Living (AAL) und gegebenenfalls Implementierung dieser in der Häuslichkeit. Die Beratung soll dabei durch einen regelmäßigen Kontakt zwischen dem am- Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz

6 Leitthema: Demografischer Wandel bulanten Betreuungsmanager und den Betroffenen in dessen Häuslichkeit, durch telefonische Beratung und gegebenenfalls weitere Funktionalitäten (zum Beispiel bidirektionale Videokonferenzen) sichergestellt werden. Dieses Konzept wird zurzeit im Partnerinstitut Rostock/ Greifswald des neu gegründeten Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) erprobt. Schlussfolgerung und Ausblick Folgende Aspekte sollten deutlich stärker als bisher bei der Planung und Umsetzung der medizinischen Betreuung insbesondere multimorbider Personen beachtet werden: F Definition und Festlegung der Therapieziele in partizipativer Entscheidungsfindung mit dem Patienten, F Festlegung der höchsten Therapiepriorität, sofern nicht alle vorliegenden Erkrankungen behandelt werden können zum Beispiel Diskussion medizinischer, präventiver und weiterer individueller Ziele, F Klärung der Belastung des Patienten durch Diagnose und Therapie, der komplexen Medikation, Darreichungsform oder Dauer der Behandlung, F Einschätzung der Compliance (Therapietreue) des Patienten, F Beurteilung der (kognitiven und physischen) Ressourcen eines Patienten zur Einhaltung des Therapieschemas. Gleichzeitig bestehen vielfältige, bisher noch weitgehend ungeklärte (versorgungs-)epidemiologische und klinische Fragestellungen, wie zum Beispiel: F Ist bekannt, ob der Therapienutzen/- gewinn bei älteren multimorbiden Patienten steigt oder sinkt? F Wie sind die Effektivität und Effizienz einer Maßnahme bei multimorbiden Patienten im Vergleich zu den bei den in Zulassungsstudien untersuchten Patientengruppen zu bewerten? F Sind ältere, multimorbide Patienten in (versorgungs-)epidemiologische Studien einbezogen worden? Inwieweit ist eine Einbeziehung möglich? Welche Methoden der Untersuchung/ Erfassung können bei multimorbiden Patienten angewendet werden (zum Beispiel Patienten mit Demenz)? Als direkte Folge dieser Fragen ergibt sich die Notwendigkeit, alle neuen Versorgungskonzepte und -modelle hinsichtlich ihrer Wirksamkeit ergebnisbezogen und unter realen Versorgungsbedingungen auf der Bevölkerungsebene zu evaluieren. Bei der Evaluation sollten sowohl objektive Parameter wie Qualitätsindikatoren für die Versorgungsgüte und gesundheitsökonomische Effizienzaspekte als auch patientenbezogene Variablen wie die subjektive gesundheits- und krankheitsbezogene Lebensqualität erfasst werden. Zur umfassenden wissenschaftlichen Analyse der Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Anforderungen an das Versorgungssystem werden sowohl demografische und (versorgungs-)epidemiologische als auch gesundheitsökonomische Modelle und Methoden angewendet. Hierfür werden sowohl Primär- als auch Sekundärdaten benötigt. Bedingt durch die Komplexität der Fragestellungen wird zudem in vielen Fällen eine Verknüpfung zwischen Primär- und Sekundärdaten notwendig sein [32]. Für eine qualitativ hochwertige Versorgungsforschung müssen jetzt die politischen Weichen gestellt werden. Der Koalitionsvertrag der 17. Legislaturperiode zeigt erste gute Ansätze. Auf Seite 64 heißt es: Neue Erkenntnisse der Forschung müssen den Menschen schneller zugute kommen. Dies muss einhergehen mit neuen Konzepten der Versorgungs- und Gesundheitssystemforschung. [33]. Korrespondenzadresse Prof. Dr. W. Hoffmann Institut für Community Medicine, Abt. Versorgungsepidemiologie und Community Health, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Ellernholzstr. 1-2, Greifswald wolfgang.hoffmann@uni-greifswald.de Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur 1. Fendrich K, Hoffmann W (2007) More than just aging societies: the demographic change has an impact on actual numbers of patients. J Public Health 15: Schulz E, Leidl R, Konig HH (2004) The impact of ageing on hospital care and long-term care the example of Germany. 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7 Buchbesprechung 17. Akker M van den, Buntinx F, Metsemakers JF et al (1998) Multimorbidity in general practice: prevalence, incidence, and determinants of co-occurring chronic and recurrent diseases. J Clin Epidemiol 51: Laux G, Kuehlein T, Rosemann T, Szecsenyi J (2008) Co- and multimorbidity patterns in primary care based on episodes of care: results from the German CONTENT project. BMC Health Serv Res 8: Berg N van den, Meinke C, Heymann R et al (2009) AGnES: Hausarztunterstützung durch qualifizierte Praxismitarbeiter Evaluation der Modellprojekte: Qualität und Akzeptanz. Dtsch Ärztebl 106: Boyd CM, Darer J, Boult C et al (2005) Clinical practice guidelines and quality of care for older patients with multiple comorbid diseases: implications for pay for performance. JAMA 294: Bundesministerium für Gesundheit (2006) Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vertragsarztrechtes und anderer Gesetze (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz VÄndG). Deutscher Bundestag, Drucksache 16/ Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007) Kooperation und Verantwortung Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Gutachten, Bonn 23. Berg N van den, Fiß T, Meinke C et al (2009) GPsupport by means of AGnES-practice assistants and the use of telecare devices in a sparsely populated region in Northern Germany proof of concept. BMC Fam Pract Berg N van den, Kleinke S, Heymann R et al (2010) Überführung des AGnES-Konzeptes in die Regelversorgung Juristische Bewertung, Vergütung, Qualifizierung. Gesundheitswesen (im Druck) 25. Wienke A, Janke K (2006) Nichtärztliche Assistenzberufe mit originär ärztlichen Tätigkeiten. GMS Mitteilungen aus der AWMF 3: Terschüren C, Fendrich K, Berg N van den, Hoffmann W (2007) Implementing telemonitoring in the daily routine of a GP practice in a rural setting in northern Germany. J Telemed Telecare 13: Berg N van den, Meinke C, Hoffmann W (2009) Möglichkeiten und Grenzen der Telemedizin in der Flächenversorgung. Ophthalmologe 106: Bickel H (2000) Demenzsyndrom und Alzheimer Krankheit: Eine Schätzung des Krankenbestandes und der jährlichen Neuerkrankungen in Deutschland. Gesundheitswesen 62: Schubert CC, Boustani M, Callahan CM et al (2008) Acute care utilization by dementia caregivers within urban primary care practices. J Gen Intern Med 23: Callahan CM, Boustani M, Sachs GA, Hendrie HC (2009) Integrating care for older adults with cognitive impairment. Curr Alzheimer Res 6: Fox C, Boustani M, Moniz-Cook E (2009) Treatment of dementia: where is it going? Br J Hosp Med (Lond) 70: Hoffmann W, Bobrowski C, Fendrich K (2008) Sekundärdatenanalyse in der Versorgungsepidemiologie. Potenzial und Limitationen [Secondary data analysis in the field of epidemiology of health care. Potential and limitations]. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 51: CDU, CSU, FDP (2009) Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode 1/ /132 Jochen Bauer, Thomas Neumann, Rüdiger Saekel Zahnmedizinische Versorgung in Deutschland Mundgesundheit und Versorgungsqualität Bern: Verlag Hans Huber 2009, 280 S., (ISBN ), EUR Die Entwicklung der Mundgesundheit in Deutschland ist eine der überzeugendsten Erfolgsstories im deutschen Gesundheitswesen. Sie macht deutlich, wie wichtig es ist, ein Konzept in der Gesundheitspolitik langfristig und beharrlich zu verfolgen. Und sie zeigt, dass Vorsorge ein unentbehrlicher Bestandteil eines Gesundheitswesens sein muss. Die vorliegende Bestandsaufnahme gibt einen umfassenden und ausgezeichneten Überblick über einen jahrzehntelangen Entwicklungsprozess, der dazu geführt hat, dass Deutschland heute in der Zahngesundheit eine Spitzenposition einnimmt. Zu verdanken ist dieser Fortschritt einem klaren Paradigmenwechsel in der deutschen Zahn-heilkunde: Prävention und Zahnerhaltung wurde Vorrang vor der Spätversorgung der Zähne mit Zahnersatz eingeräumt. Diese Umorientierung der gesamten Zahnheilkunde wurde mit nachhaltiger Unterstützung durch die Gesetzgebung über Jahrzehnte (!) hinweg gegen vielfältige Widerstände durchgesetzt. Die Verfasser, die maßgeblichen Anteil an diesem Paradigmenwechsel haben, ziehen eine kritische Bestandsaufnahme über die Entwicklung und den neuesten Stand der Mundgesundheit der Bevölkerung in Deutschland. Sie analysieren sorgfältig und gründlich die Entwicklung der Leistungsstrukturen, die Qualität der erbrachten zahnärztlichen Leistungen, die Personalkapazitäten sowie die Vorsorgeorientierung der Bevölkerung und die Effizienz des zahnmedizinischen Versorgungssystems. Internationale Vergleiche erlauben eine aktuelle Einordnung des Entwicklungsstandes in Deutschland. Eine solche Gesamtschau und Verknüpfung von Ergebnissen zur Mundgesundheit mit konk-reten Leistungs- und Qualitätsangaben zur zahnmedizinischen Versorgung dürfte in Deutschland wohl ihresgleichen suchen. Sie wird nicht nur die betroffene Fachöffentlichkeit interessieren. Ich halte sie für einen wertvollen Rat- und Ideengeber für Entscheidungsträger gerade im Gesundheitswesen, zumal sie trotz zahlreicher Erfolgsmeldungen neuere Entwicklungen in der Zahnheilkunde kritisch beleuchtet, z. B. in der Implantologie, bei der Wurzelkanal- und der Paradontalbehandlung. Die Verfasser verschweigen auch nicht, dass trotz dieses positiven Gesamtbildes der Mundgesundheit wichtige Aufgaben noch zu erledigen sind, z. B die Novellierung der zahnärztlichen Approbationsordnung von 1955 (!), die Aktualisierung von Richtlinien durch den Gemeinsamen Bundesausschuss oder die in Deutschland leider weitgehend vernachlässigte zahnmedizinische Forschung und schließlich die Novellierung der GOZ, wo sich der Rezensent zu möglichen Weiterentwicklungen noch etwas nähere Ausführungen gewünscht hätte. Allein schon die über 500 Quellenangaben im Literaturverzeichnis machen deutlich, dass die Verfasser die relevante in- und ausländische Literatur sorgfältig gesichtet und ausgewertet haben. Sehr hilfreich erweist sich das Abkürzungsverzeichnis und das Glossar, das dem zahnmedizinischen Laien verständlich das im Text recht sparsam verwendete Fachvokabular verdeutscht. Für die Diskussion um Bedeutung und Wirksamkeit von Prävention im deutschen Gesundheitswesen ist die Studie von Bauer/ Neumann/Saekel ein anschaulicher und überzeugender Beitrag. Am Beispiel der zahnmedizinischen Versorgung belegt sie, dass Präventionsorientierung die Gesundheit der Bevölkerung außerordentlich positiv beeinflussen sowie die medizinische Betreuung und Effizienz der Versorgung deutlich verbessern kann. Aus den in der lesenswerten Studie dargestellten Entwicklungen, Entscheidungen und Erfahrungen kann die Gesundheitspolitik lernen. Dr. Manfred Zipperer Ministerialdirektor a. D. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz

8 DISKURS 01 / 2016 Timo Blenk, Nora Knötig, Thomas Wüstrich DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN Erfahrungen aus Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz

9 WISO DISKURS 01/ 2016 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch Politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft Politikberatung Internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern Begabtenförderung das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft Analyse und Diskussion an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit, um Antworten auf aktuelle und grundsätzliche Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu geben. Wir bieten wirtschafts- und sozialpolitische Analysen und entwickeln Konzepte, die in einem von uns organisierten Dialog zwischen Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden. WISO Diskurs WISO Diskurse sind ausführlichere Expertisen und Studien, die Themen und politische Fragestellungen wissenschaftlich durchleuchten, fundierte politische Handlungsempfehlungen enthalten und einen Beitrag zur wissenschaftlich basierten Politikberatung leisten. Über die Autor_innen dieser Ausgabe Timo Blenk, M.A., M.IEP., B.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fakultät für Betriebswirtschaft, Universität der Bundeswehr München, Ph.D.-Candidate Doctoral School of International Affairs and Political Economy, Politikwissenschaftliches Departement, Universität St. Gallen, Dr. rer. pol. Nora Knötig Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fakultät für Betriebswirtschaft, Universität der Bundeswehr München, index.html Prof. Dr. rer. pol. Thomas Wüstrich Professor für Volkswirtschaftslehre Fakultät für Betriebswirtschaft, Universität der Bundeswehr München index.html Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Severin Schmidt ist in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verantwortlich für die Themen Gesundheits- und Pflegepolitik.

10 01 / 2016 WISO DISKURS Timo Blenk, Nora Knötig, Thomas Wüstrich DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN Erfahrungen aus Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz VORBEMERKUNG 1 EINLEITUNG 2 EXECUTIVE SUMMARY 3 WETTBEWERB IM SOLIDARISCHEN GESUNDHEITSSYSTEM 3.1 Motivation und Zielsetzung 3.2 Nebenbedingungen und Voraussetzungen 3.3 Wettbewerbsfelder 3.4 Wettbewerbsparameter 4 WETTBEWERBSPOLITISCHE SITUATION IN DEUTSCHLAND 4.1 Ausgangslage 4.2 Wettbewerbsvoraussetzungen 4.3 Behandlungsmarkt 4.4 Leistungsmarkt 4.5 Versicherungsmarkt 4.6 Wettbewerbspolitischer Reformbedarf 5 DAS GESUNDHEITSSYSTEM DER SCHWEIZ 5.1 Ausgangslage 5.2 Wettbewerbsvoraussetzungen 5.3 Behandlungsmarkt 5.4 Leistungsmarkt 5.5 Versicherungsmarkt 5.6 Reformoptionen für das deutsche Gesundheitswesen 6 DAS GESUNDHEITSSYSTEM DER NIEDERLANDE 6.1 Ausgangslage 6.2 Wettbewerbsvoraussetzungen 6.3 Behandlungsmarkt 6.4 Leistungsmarkt 6.5 Versicherungsmarkt 6.6 Reformoptionen für das deutsche Gesundheitswesen 7 FAZIT Abbildungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis

11 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 2 VORBEMERKUNG Es ist kein neues Thema. Die Frage nach dem richtigen Maß des Wettbewerbs im Gesundheitswesen ist ein Dauer brenner der politischen Debatte. Wettbewerb wurde in der Ver - gan genheit ideologisch positiv überhöht oder sehr kritisch gesehen. Doch Wettbewerb ist ein reines Instrument, um bestimmte gesundheitspolitische Ziele zu erreichen. Fraglich erscheint indes, ob die Ziele immer richtig formuliert wurden. Soll mehr Qualität erreicht werden, besserer Zugang, mehr Patientenorientierung, gute Arbeitsbedingungen oder sollen schlicht Kosten gesenkt werden? Nicht immer waren diese Ziele in der Vergangenheit klar. Wer soll überhaupt im Wettbewerb stehen: Kassen, Leistungserbringer_innen oder beide? Der Elephant in the room in der gesundheitspolitischen Debatte ist allerdings die Trennung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung und die Frage, ob diese Trennung überwunden werden muss. Vieles spricht dafür. Um uns der Beantwortung dieser Fragen zu nähern, lohnt ein Blick über den Tellerrand, beispielweise wie in dieser Studie in die Niederlande und die Schweiz. Die internationale Perspektive bietet keine exakten Blaupausen für das deutsche Gesundheitssystem. Allerdings können Denkanstöße gegeben und neue Ideen in die Arena der gesundheitspolitischen Auseinandersetzung geworfen werden. Die Debatte um mehr oder weniger Wettbewerb ist nicht beendet, sondern ist eher ein Grundrauschen im gesundheitspolitischen Diskurs. Die Autor_innen werfen einen genauen Blick in diese Länder, zeichnen die politischen Entwicklungen ab und geben darauf aufbauend konkrete Empfehlungen für das deutsche Gesundheitssystem. Diese Empfehlungen wurden am 9. November 2015 bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin mit maßgeblichen Akteuren des deutschen Gesundheitswesens diskutiert. Es lohnt sich, die Präsentation der Studie und die anschließende Diskussion anzusehen. Sie finden die Videos dazu unter der Seite im Internet. Wir möchten die Gelegenheit nutzen, um uns bei den Autor_innen der Studie sowie den Gästen der Diskussionsveranstaltung zu bedanken. Wir wünschen Ihnen eine informative Lektüre und freuen uns auf Ihr Feedback. SEVERIN SCHMIDT Leiter des Gesprächskreises Sozialpolitik

12 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 3 1 EINLEITUNG Gesundheitssysteme unterliegen wie kaum ein anderes politisches Handlungsfeld einem beständigen Reformdruck. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in den meisten westlichen Industriestaaten, eines ausgabenintensiven medizinisch-technischen Fortschritts sowie der Integration von Migrant_innen in die bestehenden Wohlfahrtssysteme, stoßen sie in ihrer Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit häufig an Grenzen. So sind die politischen Entscheidungsträger_innen gefordert, systemische Anpassungen im Gesundheitswesen vorzunehmen, um Antworten auf diese veränderten Rahmenbedingungen zu finden. Sie handeln dabei stets im Spannungsverhältnis zwischen einer solidarischen Gesundheitsversorgung für alle Versicherten und einer kostenef fizienten Nutzung medizinischer Ressourcen. Erschwerend kommt bei allen Reformbemühungen im Gesundheitswesen der Einfluss gut organisierter Verbände hinzu. Reformprozesse vollziehen sich im Gesundheitswesen daher im Regelfall nicht als einmalige, umfassende systemische Reformen, sondern evolutorisch-inkrementell. Um eine bestmögliche und nachhaltige Gesundheitsversorgung der Bevölkerung bei gleichzeitig kosteneffizienter Nutzung medizinischer Güter sicherzustellen, stehen sich aus ökonomischer Sicht zwei idealtypische Ordnungsmodelle gegenüber: marktwirtschaftliche oder staatliche Steuerung. Obwohl in allen westlichen Volkswirtschaften Elemente beider Steuerungsmodelle gefunden werden können, nehmen zunehmend wettbewerbliche Prinzipien eine wichtige Steuerungsfunktion im Gesundheitswesen ein. Ziel ist dabei eine effizientere Allokation von Ressourcen. Die vorliegende Studie greift diesen Aspekt auf und untersucht, inwiefern ein regulierter Wettbewerb im Gesundheitswesen bei Wahrung des Solidarprinzips zu einer effizienteren Allokation gesundheitsökonomischer Güter führen kann. Die Analyse differenziert Wettbewerb im Gesundheitswesen nach den drei Teilmärkten Behandlungs-, Leistungs-, und Versicherungsmarkt. Während auf dem Behandlungsmarkt Leistungsanbieter um die Gunst der Patient_innen konkurrieren, stehen auf dem Leistungsmarkt die Erbringer von Leistungen im Wettbewerb um Kassenverträge. Der Versicherungsmarkt umfasst hingegen den Wettbewerb der Krankenversicherungen um Vertragsabschlüsse mit den Versicherten. Während sich in Deutschland die gesundheitsund verbandspolitische Diskussion primär auf den Versicherungsmarkt konzentriert, überwiegt in der Schweiz und in den Niederlanden eine integrative Gesamtbetrachtung der interdependent eng miteinander verflochtenen Teilmärkte. Um politische Handlungsempfehlungen hinsichtlich der möglichen Stärkung des Wettbewerbs im deutschen Gesundheitswesen ableiten zu können, vergleicht die vorliegende Studie im Rahmen eines Most Similar Case Designs das Gesundheitssystem Deutschlands mit denjenigen der Schweiz und der Niederlande. Alle drei Länder ähneln sich in einer Vielzahl von Variablen, u.a. der Versichertenstruktur, den Anforderungsprofilen an Leistungserbringer_innen, einem ver gleichbaren Versorgungsniveau und den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Allerdings unterscheiden sich die Länder hinsichtlich der Ausprägung von Wettbewerb im Gesundheitswesen. Während in Deutschland diesbezüglich noch erhebliches Potenzial besteht, kommen in den Niederlanden, mehr noch in der Schweiz wettbewerbliche Steuerungsmechanismen bereits heute stärker zur Anwendung. Im Rahmen dieses Vergleichs konzentriert sich die vorliegende Studie auf die Ermittlung von Wettbewerbsfeldern und -parametern, die möglicherweise eine Vorbildfunktion für das deutsche Gesundheitswesen einnehmen (Best Practices). Darüber hinaus wird analysiert, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um ihre Übernahme zu ermöglichen. Die Operationalisierung erfolgt hauptsächlich anhand leitfadengestützter Expert_inneninterviews. Alle Befragten zeichnen sich durch langjährige Erfahrungen und fundierte Kenntnisse in den Gesundheitssystemen der jeweiligen Länder aus. Die Interviewpartner_innen repräsentieren dabei für die Studie relevante Bereiche des Gesundheitswesens: Gesundheitsexpert_innen, Wissenschaftler_innen und Vertreter_innen von Verbänden und der Versicherungswirtschaft. Zusätzlich zu den geführten qualitativen Interviews stützt sich die vor - liegende Studie auf OECD-Daten und eine Literaturanalyse. Die wesentlichen Ergebnisse der Studie zeigen, dass in Deutschland noch ein erhebliches Potenzial für mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen besteht. Die Erfahrungsbeispiele aus den Niederlanden und der Schweiz machen deutlich, dass

13 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 4 Wettbewerb zu einer verbesserten Allokation von Ressourcen und zu einer Verbesserung der Versorgung führen kann. Voraussetzungen hierfür sind eine freie Kassenwahl, ein ausdifferenzierter Risikostrukturausgleich, ein umfassender Mindestleistungskatalog und ein hohes Maß an Transparenz für alle Beteiligten. Darüber hinaus müssen selektive Vertragsbeziehungen zwischen Kassen und Leistungsanbietern sowie ein freier Marktzutritt- und austritt für alle Marktak teure möglich sein. Anders als in der Schweiz und in den Niederlanden wird es für das deutsche Gesundheitssystem aus politischen Gründen unabdingbar sein, den bisherigen systemimmanenten Solidarausgleich über einkommensbezogene Beiträge beizubehalten. Sowohl die Schweiz als auch die Niederlande haben erfolgreich die Dualität von gesetzlichen und privaten Krankenkassen überwunden und ihren Gesundheitsmarkt in eine umfassende allgemeine Grundversorgung mit darauf aufbauendem privatem Zusatzversicherungsmarkt überführt. Auch in dieser Hinsicht sind Reformoptionen für Deutschland erwägenswert. Des Weiteren zeigen die Niederlande und die Schweiz, dass sich die Öffnung des Gesundheitsmarktes für Managed Care Wahltarife 1, spezielle Selektivund Gruppenverträge und eine größere Wahlfreiheit der Versicherten bei Prämientarifen als sinnvoll und innovationsfördernd erweisen. Letztlich können jedoch die Erfahrungswerte der Vergleichsländer nicht unreflektiert auf das deutsche Gesundheitswesen übertragen werden. Im Folgenden wird zunächst das gewählte Wettbewerbsmodell der Studie einschließlich seiner Differenzierung in den Behandlungs-, Leistungs- und Versicherungsmarkt vorgestellt. Das nachfolgende Kapitel analysiert die Wettbewerbssituation im deutschen Gesundheitswesen und weist auf bestehende Reformdefizite hin. Die anschließenden empirischen Untersuchungen des schweizerischen und niederländischen Gesundheitswesens enden in der Benennung von Best Practices der Vergleichsländer und zeigen damit mögliche Reformoptionen für Deutschland auf. Ein abschließendes Fazit reflektiert die wesentlichen Studienergebnisse und fasst mögliche politische Handlungsempfehlungen zusammen. 1 Unter Managed Care wird im weitesten Sinne gesteuerte Versorgung verstanden. Dabei werden die freie Arztwahl und die Marktmechanismen zugunsten von geplanten, vertraglich geregelten Abläufen eingeschränkt.

14 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 5 2 EXECUTIVE SUMMARY Die vorliegende Vergleichsstudie untersucht, inwiefern Wettbewerb eine geeignete Steuerungsalternative im Gesundheitswesen ist. Ziel der Studie ist es, einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Reform des deutschen Gesundheitssystems zu leisten und politische Handlungsoptionen aufzuzeigen. In einem empirischen Vergleich werden Wettbewerbserfahrungen in den Niederlanden und der Schweiz analysiert und auf ihre Übertragbarkeit auf das deutsche Gesundheitssystem geprüft. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass eine weitere Stärkung wettbewerblicher Elemente auch in Deutschland zu größerer Effizienz und besserer Versorgung im Gesundheitssystem beitragen kann. Bedingung dafür ist jedoch die Implementierung der hierfür notwendigen Wettbewerbsvoraussetzungen. Sowohl die Schweiz als auch die Niederlande haben die Dualität gesetzlicher und privater Krankenkassen überwunden und ihre Gesundheitssysteme in eine umfassende Basisversorgung mit einem privaten Zusatzversicherungsmarkt überführt. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich die Öffnung des Gesundheitsmarktes für Managed Care Wahltarife, Gruppen- und Selektivverträge und eine größere Wahlfreiheit der Versicherten durch verschiedene Vertragsoptionen als innovationsfördernd erweist. Hinsichtlich der Finanzierung des Gesundheitswesens stellt es sich für Deutschland als sinnvoll heraus, den bestehenden Solidarausgleich über eine einkommensabhängige Beitragserhebung beizubehalten.

15 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 6 3 WETTBEWERB IM SOLIDARISCHEN GESUNDHEITSSYSTEM 3.1 MOTIVATION UND ZIELSETZUNG Die Reformversuche des deutschen Gesundheitswesens sind Legende. Seit dem ersten Kostendämpfungsgesetz 1977 versuchen Gesundheitspolitiker_innen unterschiedlicher politischer Couleur, in immer dichter werdender Folge mit begrenztem Erfolg eine nachhaltige Reform des deutschen Gesundheitssystems zu verwirklichen. Die langfristige Sicherung und nachhaltige Finanzierung einer innovativen, qualitativ hochwertigen, bedarfsgerechten, ökonomisch effizienten Versorgung mit Gesundheitsgütern und -dienstleistungen wurde bisher nicht erreicht. Trotz kurzfristiger Reformerfolge und scheinbarer Systemstabilisierung steigen die Gesundheitsausgaben mit ungebremster Dynamik schneller als die Einnahmen. Es scheint, als werde nur an den Symptomen kuriert, ohne dass sich der grundlegenden Ursachen der unübersehbaren Steuerungsdefizite angenommen wird. Der medizinisch-technische Fortschritt, die problematische demografische Entwicklung sowie die stetige Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsbiographien mit zum Teil prekären Einkommensverhältnissen stellen Gesundheitspolitiker_innen und -ökonom_innen auch in Zukunft vor große Herausforderungen. Diese Entwicklung betrifft nicht nur Deutschland, sondern ist in nahezu allen westlichen Industrienationen zu beobachten (Marx/Rahmel 2008: 523; OECD 2015f.: 20). Der begrenzte Erfolg der Gesundheitspolitik, das Gesundheitssystem langfristig finanziell zu stabilisieren, kann auf zwei Ursachen zurückgeführt werden. Zum einen gibt es kaum einen gesellschaftlichen Bereich, in dem es gut organisierten Interessensgruppen und Lobbyismen so erfolgreich gelingt, den Entscheidungsprozess im politisch und vor allem finanziell gewünschten eigenen Interesse zu beeinflussen. So verhindern in Verbänden organisierte Leistungsanbieter, Politiker_innen, Industrievertreter_innen, Patientenvertreter_ innen und Kassenfunktionär_innen im Wettstreit konkur - rierender Interessen die Umsetzung eines kohärenten ökonomischen Ordnungsrahmens. Zum anderen finden die zur Problemlösung häufig dogmatisch vorgetragenen Vorschläge alternativer Ordnungsparadigmen, wie z. B. Markt oder Staat, ihre Grenzen in den besonderen Eigenschaften, sozialpoli- tischen Notwendigkeiten und zahlreichen Rationalitätenfallen des Gesundheitsmarktes. 2 Auch die in der jüngsten Vergangenheit als Erfolg bundesdeutscher Gesundheitspolitik gefeierten, derzeit aber bereits dahinschmelzenden Milliardenüberschüsse im Gesundheitsfonds können nur kurzfristig darüber hinwegtäuschen, dass mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG), dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) und dem aktuellsten Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der GKV (GKV-VSG) die strukturellen Probleme des Gesundheitswesens nach wie vor ungelöst bleiben. Keines der Gesetzeswerke ist geeignet, zu einer grundsätzlichen Lösung der gegenwärtigen und zukünftigen Probleme beizutragen. Allerdings wäre es angesichts der Komplexität der Herausforderungen auch vermessen zu glauben, die Strukturdefizite des Gesundheitssystems könnten in einem großen gesetzgeberischen Wurf gelöst werden: Gesundheitspolitische Reformen werden sich auch in Zukunft pfadabhängig in einem evolutorisch-inkrementellen Prozess vollziehen und damit weiterhin die gesundheitspolitische und wissenschaftliche Diskussion begleiten. Wenn jedoch die dringend gebotene große Reform des Gesundheitswesens aufgrund der vielfältigen widerstreitenden Interessen und polit-ökonomischen Zwänge nicht zu erwarten ist, so müssen doch Wege und Lösungen gefunden werden, die das System neu ausrichten, ordnungs- und sozialpolitisch verträglich und zukunftsfest machen. Auch wenn Gesundheit in mehrfacher Hinsicht unbezahlbar ist und sich das Denken in ökonomischen Kategorien daher eigentlich verbietet, so geht es letztlich doch immer um die Überwindung eines Knappheitsproblems: Einer begrenzten Anzahl der zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesund- 2 Eine Rationalitätenfalle liegt vor, wenn die individuelle und die gesellschaftliche Rationalität einer Handlungsweise auseinanderfallen: So kann es individuell durchaus rational sein, im möglichst großen Umfang Gesundheitsleistungen zu konsumieren, für das zahlende Versichertenkollektiv ist diese Form der Leistungsinanspruchnahme dagegen nicht vorteilhaft.

16 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 7 heit zur Verfügung stehenden Ressourcen steht eine unendliche Menge an gesundheitsbezogenen Bedürfnissen entgegen. Vor einer unreflektierten Übernahme ökonomischer (Marktund Wettbewerbs-)Paradigmen sei jedoch ebenso gewarnt wie vor dogmatischen Denkverboten, dass sich das Gesundheitswesen aus sozialpolitischen oder meritorischen Erwägungen grundsätzlich ökonomischen Kategorien entziehe. Viele Pharmaunternehmen sind durchaus ebenso wie große Krankenhäuser mit Industrieunternehmen vergleichbar. Dennoch sind sie, auch wenn der volkswirtschaftliche Anteil ihres Sektors in den vergangenen Jahren dynamisch gewachsen ist, für das Gesundheitswesen als Ganzes nur begrenzt aussagekräftig. In weiten Teilen können marktwirtschaftliche und industrieökonomische Prinzipien nur bedingt zum Tragen kommen. Die zuletzt genannte Problemstellung, die Auswahl eines geeigneten Ordnungstyps, ist Gegenstand einer Vielzahl gesundheitsökonomischer Untersuchungen. 3 Angesichts der auch im Gesundheitswesen bestehenden Knappheit soll durch eine möglichst effiziente Allokation von Ressourcen eine qualitativ hochwertige, bedarfs- und präferenzgerechte, aber auch wirtschaftlich medizinische Versorgung sichergestellt werden. Zur Beantwortung der Fragen, welche Gesundheitsgüter wie produziert werden sollen und nach welchen Kriterien das Produktionsergebnis dann verteilt werden soll, stehen sich aus idealtypischer Perspektive zwei Ordnungstypen gegenüber: Markt und Staat. In ihrer realtypischen Ausprägung bewegen sich beide Ordnungsmodelle jedoch auf einem Kontinuum. So können in allen real existierenden Gesundheitssystemen je nach gesundheitspolitischer Ausrichtung und in Pfadabhängigkeit sowohl marktwirtschaftliche als auch staatliche Ordnungselemente im Sinne eines staatlich regulierten Wettbewerbs oder Managed Competition gefunden werden (Enthoven 1993: 24). Generell kann daher in allen westlichen Volkswirtschaften eine Konvergenz der Ordnungsmodelle beobachtet werden. 3.2 NEBENBEDINGUNGEN UND VORAUSSETZUNGEN Die im Gesundheitswesen zahlreich vorhandenen wettbewerblichen Ausnahmebereiche sind nicht nur sozial- und gesundheitspolitisch, sondern auch ökonomisch begründbar: Nach dem ersten Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomie kommt es auf Märkten nur dann zu einer pareto-optimalen Allokation, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden. 4 Hierzu gehören vollkommene Konkurrenz, die Abwesenheit öffentlicher Güter und externer Effekte sowie die Erfüllung der sogenannten Homogenitätsbedingungen. 5 Ein kurzer Blick auf den Gesundheitsmarkt zeigt, dass diese Voraussetzungen zur Herstellung allokativer Effizienz in weiten Teilen des Gesundheitssystems nicht oder nur zum Teil gegeben sind. So ist die Produktion von Gesundheitsgütern sehr oft mit externen Effekten, ruinöser Konkurrenz und zunehmenden Skalenerträgen verbunden. Ferner weisen viele Gesundheitsgüter Eigenschaften öffentlicher Güter auf (z. B. bei Schutzimpfungen und bei der Bereitstellung von Notfalleinrichtungen). Auch die Konsumentensouveränität ist im Krankheitsfall, nicht nur in lebensbedrohlichen Situationen, eingeschränkt. Patient_innen wollen rasch wieder gesund werden und begeben sich daher in die Hände medizinischer Leistungsanbieter ihres Vertrauens. Ihnen selbst fehlen auch aufgrund des vorherrschenden unoactu-prinzips also dem Zusammenfallen von Produktion und Konsum einer Dienstleistung die Möglichkeiten zur Erhebung von Stichproben zur Qualitätsbeurteilung. Zudem sind sie selbst kaum in der Lage, die Qualität einer medizinischen Dienstleistung oder Information sachgerecht zu bewerten. Im Vertrauen darauf, dass ihnen bedarfsgerecht geholfen wird, übertragen sie ihre Nachfrageentscheidungen nach medizinischen Dienstleistungen auf deren Anbieter (sog. angebotsinduzierte Nachfrage). Aus diesem institutionenökonomisch als principal-agent-beziehung bezeichneten Verhältnis ergeben sich eine Reihe von Rationalitätenfallen und moral hazards 6, und zwar sowohl auf der Anbieter- als auch auf der Nachfragerseite (Cassel/Wasem 2014: 22). Auch auf den Krankenversicherungsmärkten gibt es eine Reihe wettbewerblicher Ausnahmetatbestände, die Steuerungsprobleme zur Folge haben können. So besteht bei fehlender Versicherungspflicht die Gefahr einer Unterversicherung breiter Bevölkerungskreise, da der/die Einzelne damit rechnet, im Krankheitsfall auf die Solidarität der Gesellschaft zählen zu können. Ferner sind die Informationen über den Gesundheitszustand zwischen Krankenversicherung und Versicherten asymmetrisch verteilt 7, was bei fehlendem Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot zur adversen Selektion und damit tendenziell zu einer Unterversicherung guter Risiken führt. Auf diese Weise werden tendenziell gute durch schlechte Risiken verdrängt (Akerlof 1970: ). Es gibt also eine Reihe ökonomisch durchaus nachvollziehbarer Gründe dafür, dass eine Steuerung ökonomischer Ressourcen durch Markt und Wettbewerb im Gesundheitswesen zu suboptimalen Ergebnissen führen kann. Der bisher nur begrenzte Erfolg mit marktwirtschaftlichen Steuerungsinstrumenten zur nachhaltigen Überwindung von Dysfunktionalitäten im Gesundheitssystem bestätigt dies. Nichtsdestotrotz wirft dies die Frage auf, ob nicht doch trotz der vielen Besonderheiten eines auf solidarischen Prinzipien auf- 3 Auf die Vor- und Nachteile verschiedener Ordnungstypen im Gesundheitswesen machten bereits Herder-Dorneich (1994) sowie Neubauer (1984) aufmerksam. 4 Vgl. Befürworter einer marktwirtschaftlichen Steuerung im Gesundheitswesen Breyer et al. 2005: sowie Blankart et al. 2009: Zu den Homogenitätsbedingungen zählen das Fehlen sachlicher, persönlicher, räumlicher und zeitlicher Präferenzen sowie vollkommene Markttransparenz. 6 Moralische Gefährdungen, moralische Risiken: Für einen Leistungsanbieter ist es rational, das Leistungsniveau über das medizinisch gebotene Maß hinaus auszudehnen, da er hierdurch seine Einkommenssituation verbessern kann. Da der/die Patient_in/Versicherte nur indirekt, ggf. über Zusatzbeiträge, an den hieraus entstehenden Kosten beteiligt wird, hat auch er ein Interesse an einer möglichst umfangreichen Leistungsinanspruchnahme, glaubt er doch meist, dass mehr Leistungen per se auch eine qualitativ hochwertigere medizinische Versorgung implizieren. 7 Der Versicherte ist über seinen Gesundheitszustand i.d.r. besser informiert als seine Krankenversicherungen.

17 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 8 gebauten Gesundheitssystems, die Anwendung wettbewerblicher Steuerungsmechanismen zu einer Erhöhung der Systemeffizienz und Verbesserung der Qualität beitragen kann. Auch ein verbessertes Transparenz- und Informationsniveau für alle beteiligten Systemakteure sowie eine bessere Koordination der unüberschaubar vielen, individuelldezentralen Pläne, Entscheidungen und Interessen aller Beteiligten ist gewollte Auswirkung einer möglichen Wettbewerbsreform. Die auf das Gesundheitsstrukturgesetz (1993) folgenden vielfältigen, teilweise aber wenig kohärenten Aktivitäten, mehr Wettbewerb und Markt im Gesundheitswesen zu implementieren, scheinen diesen Ansatz eindrucksvoll zu unterstreichen. Das Spannungsfeld aus den Begriffen Wettbewerb und soziale Krankenversicherung ergibt sich aus der grundsätzlich anderen Semantik beider Begriffe. Wettbewerb ist ein Prozess, bei dem Marktparteien unabhängig voneinander und damit in Rivalität, in Konkurrenz untereinander, bestrebt sind, mit der Marktgegenseite zum Abschluss zu kommen. Das heißt, seine Wesensmerkmale sind antagonistisch: Rivalität, Konkurrenz und Leistungsgerechtigkeit sind seine tragenden Prinzipien. Konstituierend für eine soziale Krankenversicherung ist dagegen der soziale Ausgleich: Die Leistungsgewährung erfolgt einkommensunabhängig ausschließlich nach dem Bedarf der Versicherten/Patient_innen und nicht nach deren Zahlungsbereitschaft bzw. -fähigkeit. Die Beitragsbemessung orientiert sich dagegen am Einkommen, als Indikator für die Leistungsfähigkeit des Beitragszahlers bzw. der Beitragzahlerin. Die Wesensmerkmale der sozialen Krankenversicherung sind also kooperativ: sozialer Ausgleich, Solidarität, Verteilungs- bzw. Bedarfsgerechtigkeit. Wird dieses systemimmanente Prinzip eines Solidarausgleichs aufgrund eines breiten gesellschafts- und gesundheitspolitischen Konsenses als harte Nebenbedingung gesetzt, so hat dies zwangsläufig eine umfassende Versicherungspflicht der gesamten Bevölkerung zur Folge. Nur so kann verhindert werden, dass sich privilegierte, häufig einkommensstarke Teile der Bevölkerung diesem Solidarausgleich durch gesellschaftspolitisches Rosinenpicken entziehen. Vor diesem Hintergrund ist die weltweit in dieser Form einmalige Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung in Deutschland im bisherigen Ordnungsrahmen diskussionswürdig. Zu den unbestrittenen Funktionsvoraussetzungen einer wettbewerblichen Steuerung zählen auch im Gesundheitswesen das Vorhandensein von Alternativ- und Substitutionsmöglichkeiten. Die 1996 erfolgte Abschaffung des Pflichtversicherungsprinzips zugunsten einer freien Kassenwahl für alle Versicherten war ein erster Schritt in diese Richtung. Ferner darf es trotz aller wettbewerbsimmanenten Rivalität zu keinen darüber hinausgehenden Behinderungen der Akteure kommen. Dies wirft die Frage nach einer systemadäquaten Anwendung des Wettbewerbs- und Kartellrechts im Gesundheitswesen auf. Die Märkte sollten bestreitbar (contestable) im Sinne eines jederzeitigen freien Marktzutritts, aber auch Ausscheidens vom Markt sein. Soll der Wettbewerb ökonomisch relevant, also ein Wettstreit um die beste Lösung (Preis-Leistungsverhältnis) sein, müssen sowohl geeignete Wettbewerbsfelder, auf denen die Rivalität um die beste Lösung ausgetragen werden kann, als auch über den Preis hinausgehende Wettbewerbsparameter/-instrumente ausgewiesen werden. Eine ausschließliche Fokussierung auf den niedrigsten Zusatzbeitragssatz als alleinigem Wettbewerbsparameter entspringt einer empirisch obsoleten, preistheoretischen Vorstellung der Neoklassik. Neben einem Mindestmaß an Homogenität der betrachteten Güter und Dienstleistungen, an Transparenz, Informiertheit der Akteure und Vergleichbarkeit muss unverzichtbar der unbedingte Wille alle Akteure zum Wettbewerb gegeben sein. Dabei darf sich der notwendige spirit of competition allerdings nicht in der Forderung nach einem Wettbewerb für alle anderen Beteiligten erschöpfen, um gleichzeitig für sich selbst einen wettbewerblichen Naturschutzpark (Interview 2015a) einzufordern. 3.3 WETTBEWERBSFELDER Ausgangspunkt der weiteren wettbewerblichen Überlegungen ist das nachfolgend dargestellte, einfache Drei-Ebenen- Modell des Wettbewerbs im Gesundheitswesen. Soll sich der angestrebte Wettbewerb nicht in einem Zusatzbeitragsatzvermeidungswettbewerb erschöpfen, sondern seine gesamte ihm zugeschriebene ökonomische Funktionalität eröffnen, so sind zunächst geeignete Wettbewerbsfelder auszuweisen. Zielführend ist diesbezüglich eine Differenzie rung des Gesundheitsmarktes in die drei Teilmärkte: Behandlungsmarkt, Leistungsmarkt und Versicherungsmarkt. Die drei Teilbereiche stehen jedoch nicht unabhängig nebeneinander, sondern sind in einem interdependenten Zusammenhang zu betrachten.

18 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 9 Abbildung 1 Wettbewerbsfelder im Gesundheitswesen Versicherte/Patient_innen Versicherungsmarkt (Wettbewerb um Versicherte) Behandlungsmarkt (Wettbewerb um Patient_innen) Krankenkassen Leistungsmarkt (Wettbewerb um Selektivverträge) Leistungsanbieter Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Cassel/Wasem 2014: 25. Behandlungsmarkt/Versorgungsmarkt: Auf dem Behandlungsmarkt konkurriert eine ausreichend große Zahl an Leistungsanbietern um die Gunst der Patient_ innen. Voraussetzung hierfür ist die freie Wahl des jeweiligen Leistungsanbieters (freie Arzt- und/oder Krankenhauswahl). Die Honorare werden nicht budgetiert, sondern hängen von der Fallzahl und der Qualität ab. Zur Stärkung der Konsumentensouveränität und zum Abbau von Informationsasym - metrien sind zumindest bei planbaren medizinischen Eingriffen geeignete Maßnahmen zur Förderung und Stärkung der Markttransparenz flankierend vorzusehen. Sie sollen es dem Patienten oder der Patientin ermöglichen, Qualitätsvergleiche anzustellen (wie z. B. das künftige Institut zur Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen; Gesundheits-TÜV, Internet-Rankings o. ä.). Neben dem vorherrschenden Prinzip des niedergelassenen Arztes oder der Ärztin als Einzelunternehmer_in ermöglichen andere Rechtsformen, eine gesteuerte Versorgung, sogenannte Managed-Care Modelle [Gatekeeping, Health Maintenance Organizations 8 (HMO), Preferred Provider Organizations 9 (PPO)], Netzwerke und Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Sie konkurrieren dann primär mit ihrer Qualität, mit Vertrauen und mit ihrem Service um die Gunst der Patient_innen. Erwartet wird eine Tendenz zu Qualitätswettbewerb ; der Preiswettbewerb wird nachrangig, da der/die Leistungsempfänger_in in der Regel nicht der Kostenträger ist. Dies birgt allerdings die Gefahr eines doppelten moral hazards, da Leistungsanbieter und -empfän ger_innen in einem Boot sitzen. Wünscht Letztere_r eine möglichst umfassende medizinische Versorgung zur Herstellung seiner/ihrer Gesundheit, so liegt dies auch im Interesse des Leistungsanbieters: Im Sinne einer typischen principal-agent-beziehung ist er aufgrund seines Informationsvorsprungs in der Lage, durch eine angebotsinduzierte Nachfrage auch sein Einkommen zu maximieren. 8 Siehe Seite PPO: Verträge zwischen Kassen und bestimmten Leistungsanbietern, welche Leistungen zu reduzierten Preisen für Versicherte der Kasse erbringen. Leistungsmarkt/Vertragsmarkt: Wird die wettbewerbliche Perspektive nicht primär auf den Preis (Zusatzbeitragssatz), sondern vor allem auf die Quali tät und eine gute Versorgung akzentuiert, so birgt der Leistungsmarkt derzeit das größte Wettbewerbspotenzial. Auf dem Leistungs- oder Vertragsmarkt konkurrieren die diversen Leistungsanbieter wie niedergelassene Ärzt_innen, Zahn - ärzt_innen, Psycho- und Physiotherapeut_innen, Krankenhäuser, Anbieter von Heil- und Hilfsmitteln u. ä. oder ihre Verbände um Vertragsabschlüsse mit den Krankenkassen. Ein Kontrahierungszwang besteht für diese nicht. Im Ge - genteil selektivvertragliches Kontrahieren ermöglicht es den Kassen im Sinne eines Einkaufsmodells, die jeweils besten Anbieter unter Vertrag zu nehmen und sich bei Nicht- oder Minderleistung auch wieder vom Vertragspartner zu lösen. Selektivvertragliche Abschlüsse treten an die Stelle der im Rahmen der gemeinsamen Selbstverwaltung durch Gruppenverhandlungen geschlossenen Kollektivverträge. Die Verantwortung für eine flächendeckende Versorgung obliegt den Krankenkassen durch den ihnen übertragenen Sicherstellungsauftrag. Durch eine adäquate Anwendung des Wettbewerbs- und Kartellrechts wird eine allfällige Marktmacht mitgliederstarker Krankenkassen durch eine konsequente kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht kontrolliert und ggf. begrenzt. Gegenstand des Wettbewerbs ist neben individuell ausgehandelten Preisen vor allem die Qualität der Gesundheitsdienstleistung. Der Perspektivenwechsel vom Versicherungsmarkt zum Leistungsmarkt fördert tendenziell den Qualitätswettbewerb ; ruinöse Konkurrenz von Seiten vor allem kleinerer Leistungsanbieter mit geringer Marktmacht kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Versicherungsmarkt: Auf dem Versicherungsmarkt konkurrieren die Krankenversicherer um Vertragsabschlüsse mit den Versicherten. Dieser Wettbewerb kann wie im dualen Krankenversicherungs - system Deutschlands einen Wettbewerb der gesetzlichen

19 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 10 Krankenversicherer untereinander, zwischen privaten und gesetzlichen Krankenversicherungsträgern oder ausschließlich zwischen privaten Krankenversicherern umfassen. Letz - teres ist wegen der komplizierten Portabilität von Altersrückstellungen jedoch nur eingeschränkt möglich. Denkbar wäre ein Wettbewerb über den Preis und/oder alternative Versorgungskonzepte. Dieser kann sich zum einen auf Vollversicherungsverträge, zum anderen auf Zusatzleistungsangebote beziehen. In Deutschland wurde dieser Wettbewerb mit der Frei - gabe der Kassenwahl und der Abschaffung des Pflichtver - sicherungsprinzips für alle gesetzlich Krankenversicherten 1996 eingeführt. Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot sollen verhindern, dass sich der Wettbewerb auf die Attrahierung guter Risiken beschränkt. Damit Unterschiede in der Beitragshöhe der Kassen ihre unterschiedliche Effizienz und nicht deren Risikostruktur widerspiegeln, wurde zeitgleich ein flankierender und im Zeitablauf immer weiter ausdifferenzierter Risikostrukturausgleich eingeführt. Der Leistungskatalog ist untergesetzlich durch den Gemeinsamen Bundesausschuss weitgehend normiert; Wettbewerb in der GKV findet derzeit überwiegend über Unterschiede in der Servicequalität und der Höhe der Zusatzbeitragssätze statt. Über den Preiswettbewerb hinaus wäre eine Konkurrenz um unterschiedliche Versorgungsangebote bei gleichzeitiger Sicherstellung eines Mindestversicherungs - umfangs geeignet, den Wettbewerb der Kassen zu intensivieren und dabei den Schwerpunkt vom Preiswettbewerb auf einen Qualitätswettbewerb zu verlagern. Dies setzte allerdings eine Akzentverschiebung vom Versicherungsmarkt auf den Leistungsmarkt voraus. 3.4 WETTBEWERBSPARAMETER Wird vom neoklassischen Modell eines ausschließlichen Preiswettbewerbs um homogene Güter als Steuerungsmodus für die gesetzliche Krankenversicherung Abschied genommen, so setzt dies neben der autonomen Festlegung der Höhe des Zusatzbeitragssatzes durch die jeweilige Kasse auch die Freigabe weiterer Wettbewerbsparameter für Krankenkassen und Leistungsanbieter voraus. Erst dies ermöglichte es, dass sich neben dem zusatzbeitragssatzstabilisierenden Preiswettbewerb auch ein Qualitätswettbewerb um das beste Preis-Leistungsverhältnis entfalten kann. Eine durch selektivvertragliche Gestaltungsoptionen mögliche Differenzierung des Leistungsangebots könnte einen echten Innovations- und Qualitätswettbewerb entfalten, der sich nicht auf dem Feld banaler Marketinggags oder fragwürdiger freiwilliger Zusatzleistungen erschöpft. Denkbar wären neben dem Service von Kassen und Leistungsanbietern unterschiedliche Qualitätsniveaus und Distributionskanäle sowie Managed- Care Modelle unterschiedlicher Ausprägung (Hausarztmodelle, Gatekeeping, HMO, PPO etc.).

20 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 11 4 WETTBEWERBSPOLITISCHE SITUATION IN DEUTSCHLAND 4.1 AUSGANGSLAGE Mit der Einführung der Kassenwahlfreiheit 1996 stand zunächst der Versicherungsmarkt im Blickpunkt der gesundheitspolitischen Diskussion. Die erhoffte effizienzsteigernde Wirkung eines Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen sollte nach den ernüchternden Ergebnissen früherer Reformversuche zunächst für Beitragssatzstabilität und Kostendämpfung im Gesundheitswesen sorgen. Erst nach und nach richtete sich der Blick auf die potenziell effizienz-, qualitätssteigernden und innovationsfördernden Wirkungen des Wettbewerbs auch auf den anderen Teilmärkten des Gesundheitswesens, insbesondere dem Leistungsmarkt. Während die Leistungsanbieter und ihre Interessenvertreter_innen unter Wettbewerb vor allem eine Konkurrenz der Krankenkassen auf dem Versicherungsmarkt verstanden und für sie Wettbewerb allenfalls noch auf dem Behandlungsmarkt vorstellbar war, wiesen die Kassen und ihre Verbände bereits Mitte der 1990er Jahre auf das qualitätssteigernde Potenzial eines Vertragswettbewerbs auf dem Leistungsmarkt hin. Abseits kollektivvertraglicher Zwänge sollte den Kassen durch selektivvertragliche Optionen mehr und mehr die Möglichkeit eingeräumt werden, ein an den Präferenzen ihrer Versicherten orientiertes, qualitativ hochwertiges Versorgungsangebot zusammenzustellen und auf dem Versicherungsmarkt im Wettbewerb um die Gunst der Versicherten als profilbildenden Wettbewerbsparameter einzusetzen. Durch eine Reihe von Reformgesetzen haben sich die Voraussetzungen hierfür wenn auch nur in überschaubaren Schritten in den vergangenen Jahren verbessert: Gesundheitsreformgesetz (2000), Gesundheitsmodernisierungsgesetz (2004), GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (2007), GKV- Finanzierungsgesetz (2011), GKV-Versorgungsstrukturgesetz (2012). Neben dem niedergelassenen Arzt oder der Ärztin als klassischem Einzelunternehmer sind inzwischen im ambulanten Bereich auch andere Rechts- und Organisationsformen, wie z. B. medizinische Versorgungszentren, Praxisnetze oder Filialpraxen möglich. Im stationären Bereich schuf die Einführung diagnosebezogener Fallpauschalen (DRG) die Voraussetzungen für selektivvertragliche Abschlüsse zwischen Krankenhäusern und Kassen. Gleiches gilt auch für den Arznei-, Heil- und Hilfsmittelbereich. Auch wenn die gesetzgeberischen Aktivitäten nicht immer stringent waren manchmal erfolgten auf einen Schritt vorwärts zwei Schritte zurück so ist der Wille des Gesetzgebers, den Qualitätswettbewerb auf den Leistungsmarkt durch selektivvertragliche Möglichkeiten zu stärken, unübersehbar (Cassel/Jakobs 2015: 56). Sowohl die Monopolkommission 2008/09 (Monopolkommission: 2010) als auch der Sachverständigenrat 2012 (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: 2012) haben sich in ihren Hauptbzw. Sondergutachten mit Nachdruck für die Hebung dieses Effizienzpotenzials ausgesprochen. Soll sich der Wettbewerb im Gesundheitswesen zukünftig nicht auf einen Preiswettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen beschränken, so wäre eine Integration der drei Teilmärkte, insbesondere aber des Versicherungsmarktes und des Leistungsmarktes wünschenswert. Ein probates Instrument hierfür ist die Ausweitung der selektivvertraglichen Möglichkeiten, mit denen sich die Kassen über alternative, an den Präferenzen ihrer Versicherten orientierte Versorgungsangebote in einem Wettbewerb um die beste Qualität und Versorgung am Markt positionieren können Voraussetzung hierfür sind eine umfassende Vertragsfreiheit für Kassen und Leistungsanbieter, ein systemadäquater wettbewerbsrechtlicher Rahmen sowie eine höhere Transparenz zur Verbesserung der Nutzerkompetenz der Versicherten (Wasem/Höffinghoff 2013: 10). 4.2 WETTBEWERBSVORAUSSETZUNGEN Zu den Funktionsvoraussetzungen einer wettbewerblichen Steuerung gehört zunächst das Vorhandensein von Alternativund Substitutionsmöglichkeiten. Mit dem Angebot an derzeit noch 123 gesetzlichen Krankenversicherungsträgern (GKV- Spitzenverband 2015a) 10 sieht man von den wenigen mitgliederbeschränkten geschlossenen Betriebskrankenkassen 10 Stand

21 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 12 ab verfügen die Versicherten im Rahmen der gewährten Kassenwahlfreiheit über eine ausreichend große Anzahl an Wahl- und Wechselmöglichkeiten. Die durch die Erhebung von Zusatzbeiträgen 2010/11 induzierten Wanderungsbewegungen zwischen den Kassen unterstreichen eindrucksvoll, dass die Versicherten ausreichend preiselastisch sich ihrer Wechseloptionen nicht nur bewusst sind, sondern diese auch ausüben. Ferner darf es trotz aller wettbewerbsimmanenten Rivalität zu keinen darüber hinausgehenden Behinderungen der Akteure durch eine ungleiche Verteilung von Marktmacht kommen. Dies wirft die Frage nach einer Anwendung des Wettbewerbs- und Kartellrechts im Gesundheitswesen auf. Auch hier besteht in Deutschland noch gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Ferner sollten sowohl ein freier Marktzutritt ohne Markteintrittsbarrieren als auch ein unternehmerisches Scheitern und damit ein Ausscheiden vom Markt jederzeit möglich sein (Greiner/Hodek 2013: 202f.). Was die Kassen angeht, so hat seit der Einführung der freien Kassenwahl 1996 durch Fusionen, aber auch durch Kassenschließungen ein sich in jüngster Vergangenheit beschleunigender, marktreinigender Konzentrationsprozess der Kassenlandschaft eingesetzt. Neugründungen von Kassen sind dagegen nicht mehr vorgesehen. Ähnliche Tendenzen sind auch im Bereich der stationären Versorgung durch Fusionen oder Schließung von Krankenhäusern beobachtbar. Was die Wettbewerbsfelder bzw. über den Preis hinausgehende Wettbewerbsparameter/-instrumente angeht, so besteht noch erhebliches Handlungspotenzial, das insbesondere im Bereich der möglichen selektivvertraglichen Gestaltungsoptionen noch nicht ausgeschöpft ist (Interview 2015a). Bisher beschränkt sich der Wettbewerb unter den Kassen primär auf die Vermeidung von Zusatzbeitragssätzen. Auch in Sachen Transparenz und Vergleichbarkeit medizinischer Leistungen, deren Qualität sowie der Förderung der Nutzerkompetenz besteht noch erheblicher Verbesserungsbedarf. Auch der unbedingte Wille aller Akteure zum Wettbewerb lässt gerade im Bereich der niedergelassenen Ärzt_innen, der Apotheker_innen sowie ihrer Verbände noch zu wünschen übrig (Cassel/Wasem 2015: 66). Gerade hier sind die für die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung bestehenden Markteintrittsbarrieren durch die obligatorische, bedarfsabhängige Kassenzulassung sehr hoch. Marktaustritte bei mangelndem unternehmerischem Erfolg der sich selbst als Freiberufler_in verstehenden ambulanten Leistungserbringer_in sind dagegen kaum zu beobachten. 4.3 BEHANDLUNGSMARKT Wettbewerb auf dem Behandlungsmarkt findet in Deutschland vor allem auf dem Gesundheitsmarkt für private, häufig durch private Zusatzversicherungen oder Eigenleistungen finanzierte Gesundheitsdienstleistungen statt. Dies ist insbesondere immer dann der Fall, wenn Leistungsanbieter und Nachfrager in einer direkten Beziehung zueinander stehen. Beispielhaft hierfür sind die individuellen Gesundheitsleistungen (IGEL), nichtverschreibungspflichtige Medikamente oder Wahlleistungen im Krankenhaus. Die Nachfrage erfolgt nach individuellen Präferenzen und Nut- zenkalkül, die Inanspruchnahme dieser Leistungen nach der individuellen Zahlungsbereitschaft und -fähigkeit. Häufig kommt es allerdings zu asymmetrischer Informationsverteilung zwischen den Anbietern und Nachfragern solcher Leistungen hinsichtlich ihrer Qualität und medizinischen Zweckmäßigkeit (Greiner/Hodek 2013: 200). Ein über den privat finanzierten Behandlungsmarkt hinausgehender Wettbewerb bleibt trotz freier Arztwahl nur schwach ausgeprägt: Häufig fehlt es Versicherten und Patient_innen an ausreichenden Informationen über Qualität und Befähigung der Leistungsanbieter (Cassel/Wasem 2014: 25). 4.4 LEISTUNGSMARKT Der seit 1996 durch die Kassenwahlfreiheit der Versicherten in Gang gesetzte Wettbewerb auf dem Versicherungsmarkt beschränkt sich nach wie vor auch wegen des weitgehend normierten Leistungskatalogs der GKV in erster Linie auf die Vermeidung von Zusatzbeitragssätzen. Den Kassen ist es nur in sehr engen Grenzen erlaubt, sich abseits kollektivvertraglicher Vereinbarungen durch den Abschluss von Selektivverträgen wettbewerblich zu positionieren. Dies betrifft vor allem Vereinbarungen mit ausgewählten Leistungserbringer_innen zur Verbesserung der Versorgungsqualität oder zur Erhebung von Wirtschaftlichkeitsreserven und Verträge im Rahmen der besonderen Versorgungsformen. Selektivvertragliche Optionen können zwischen den Kassen und den Leistungserbringer_innen oder Gruppen von Leistungserbringer_innen im Rahmen von: Modellvorhaben ( SGB V); hausarztzentrierter Versorgung ( 73b SGB V); besonderer ambulanter ärztlicherversorgung ( 73c SGB V); Disease Management Programme ( 137 f und g SGB V) sowie Verträgen im Rahmen der Integrierten Versorgung ( 140a - d SGB V). ausgeübt werden (Paquet 2011: 29f.; Pfister 2010: 162f.). Die ambulanten Leistungserbringer oder ihre Verbände können ohne die Kassenärztlichen Vereinigungen Verträge mit den Krankenkassen abschließen. Zur Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung geht der Sicherstellungsauftrag teilweise an die Kassen über. Im Bereich der stationären Versorgung können die Kassen mit Ausnahme der sektorenübergreifenden integrierten Versorgung bzw. der ambulanten Versorgung im Krankenhaus 11 keine selektivvertraglichen Arrangements mit den Krankenhäusern treffen, sofern diese in die Bedarfspläne der Länder aufgenommen wurden. Für die Versicherten erfolgt die Teilnahme im Rahmen von satzungsmäßigen Wahltarifen ihrer Kasse freiwillig: Sie sind allerdings mindestens ein Jahr an den Tarif gebunden. In dieser Zeit dürfen sie nur die Ärzt_innen wählen, mit denen ihre Krankenkasse einen Vertrag abgeschlossen hat. 11 Bei seltenen oder Erkrankungen oder Erkrankungen mit besonderem Verlauf.

22 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 13 Ihre freie Arztwahl wird somit eingeschränkt. Bei der Hausarztzentrierten Versorgung entscheidet der Hausarzt als Lotse über eine allfällige weitergehende fachärztliche Behandlung. Der Vorteil einer Inanspruchnahme solcher Wahltarife besteht für den Versicherten nicht in einer finanziellen Vergünstigung, z. B. in Form eines geringeren Beitragssatzes oder einer Beitragsrückerstattung bzw. Prämie. Er erfolgt ausschließlich in dem Versprechen einer qualitätsgesicherten, auf evidenzbasierten Leitlinien beruhenden besseren Versorgung sowie einer obligatorischen Fortbildung der beteiligten Leistungserbringer_innen. Ferner sind Einzelverträge über Preise und Rabatte bei Arzneimitteln möglich, die die Patient_innen von Zuzahlungen entlasten. Hilfsmittelverträge werden von den Kassen ausgeschrieben, sofern keine Festbeträge oder Preisobergrenzen festgelegt wurden. Hier profitieren die Versicherten durch geringere Festbeträge für Heil- und Hilfsmittel. Der darüber hinausgehende Einsatz von Wettbewerbsparametern beschränkt sich auf die Gewährung von Satzungs- und Ermessensleistungen und die Vermittlung privater Zusatzver - sicherungen. Letztere spielen im Gesamtkontext des gesamten Leistungskatalogs der Kassen jedoch nur eine nachgeordnete Rolle. Neben der Höhe des Zusatzbeitragssatzes haben die Kassen derzeit im Wesentlichen nur ihren Service, die Dichte ihres Geschäftsstellennetzes und ihre Corporate Identity ( Gesundheitskasse ) als profilbildendes Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb. Ein echter Qualitätswettbewerb, in dessen Rahmen die Kassen mit alternativen, innovativen, präferenzorientierten Versorgungsangeboten um die Versicherten konkurrieren, findet allenfalls ansatzweise in wenigen ausgewählten Bereichen statt. 4.5 VERSICHERUNGSMARKT Der erste Schritt auf dem Weg zu mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen erfolgte 1996 mit der freien Kassenwahl für alle Versicherte. Die Versicherten können seither mit einer 18-monatigen Kündigungsfrist ihre Kasse wechseln; bei der Einführung/Änderung eines Zusatzbeitragssatzes besteht ein sofortiges Sonderkündigungsrecht. Damit wurde der Versicherungsmarkt, auf dem die gesetzlichen Krankenkassen untereinander und ggf. auch mit den privaten Krankenversicherungen um Versicherte konkurrieren, als erster wettbewerblicher Teilmarkt ausgewiesen. Damit sich der Wettbewerb der Kassen nicht in einem Wettlauf um die sogenannten guten Risiken beschränkte, wurde gleichzeitig für die Kassen ein umfassender Kontrahierungszwang bei gleichzeitigem Diskriminierungsverbot für wechselbereite Versicherte festgelegt. Diese wird aber immer noch durch subtile Methoden einiger Krankenversicherer unterlaufen (Interview 2015b). Die Höhe des Beitragssatzes (heute: Zusatzbeitragssatz) soll die Leistungsfähigkeit einer Kasse widerspiegeln und nicht ihre möglicherweise ungünstige Risikostruktur. Um deren Einflüsse zu eliminieren, wurde nach und nach ein umfassender morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) angelegt. Die wettbewerblichen Handlungsspielräume der Krankenkassen beschränkten sich allerdings im Wesentlichen auf ihre (Zusatz-)Beitragssatzautonomie. Im geringen Um- fang können sich die Kassen bis heute nur auf dem Feld der freiwilligen Satzungsleistungen, der Bonusleistungen, der Wahltarife (u. a. Selbstbeteiligung; Beitragsrückerstattung) sowie im Bereich von Prävention und betrieblichen Gesundheitsmanagement profilieren. Darüber hinaus ist ihnen im engen gesetzlichen Rahmen die Teilnahme an Modellversuchen sowie an Managed-Care-Modellen (z. B. Hausärzteverträge) möglich. In diesem Rahmen können die Versicherten wenn auch in begrenztem Umfang Wahlund Wechseloptionen ausüben. Da der Leistungskatalog durch den Gemeinsamen Bundesausschuss weitestgehend einheitlich normiert ist und gesunde Versicherte primär an niedrigen Beitragssätzen interessiert sind, besteht eine Tendenz zum Preiswettbewerb. Das Interesse der Kassen an und die Möglichkeiten zu einem umfassenden Qualitätswettbewerb zur Gewährleistung einer möglichst guten und innovativen Versorgung sind derzeit noch nachrangig (Interview 2015c). Ein Qualitätswettbewerb in nennenswertem Umfang findet derzeit noch nicht statt. Problematisch gestaltet sich derzeit noch der Wettbewerb zwischen den gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen sowie den PKV untereinander. Wettbewerb unter den PKV ist aufgrund der sehr begrenzten Portabilität der Altersrückstellungen sowie der zumeist wachsenden Morbidität der Versicherungsnehmer_innen zwar de iure, aber nicht de facto möglich. Insofern findet ein Wettbewerb innerhalb der PKV, wenn überhaupt, nur um junge und gesunde Versicherte statt. Auch zwischen der GKV und der PKV sind die Wahl- und Wechselmöglichkeiten sehr beschränkt. Rund 87 Prozent der Bevölkerung sind derzeit entweder als Versicherte selbst oder als beitragsfrei mitversicherte Familienangehörige in der GKV versichert (GKV-Spitzenverband 2015b). 12 Eine Konkurrenz beider Systeme findet ebenfalls nur um junge, gesunde und gut verdienende Versicherte oberhalb der Versicherungspflichtgrenze statt. Aus sozialpolitischen Erwägungen ist dieser Wettbewerb um gute Risiken jedoch zweifelhaft, weil sich diese dem in der GKV konstituierend angelegten und gesellschaftlich erwünschten Solidarausgleich ebenso wie die beihilfefähigen Beamten sowie die Selbstständigen entziehen können. Aber nicht nur unter sozialpolitischen, sondern auch unter konzeptionellen Aspekten ist die Dualität von GKV und PKV in zweifacher Hinsicht problematisch: Die mit dem Wettbewerb durch Wahl- und Wechseloptionen eröffneten Freiheitsgrade für PKV-Versicherte stehen de facto einem nur sehr kleinen, nicht versicherungspflichtigen und damit wahlberechtigten Bevölkerungskreis offen. Aber auch zum instrumentellen Charakter des Wettbewerbs, nämlich Wettbewerb als Mittel zur Förderung von Effizienz, Qualität und guter Versorgung, trägt der Systemwettbewerb zwischen GKV und PKV so gut wie nichts bei. Private Krankenversicherungen agieren nicht auf dem Leistungsmarkt, weil sie nur in Ausnahmefällen in einer direkten selektivvertraglichen Beziehung zu den Leistungsanbietern stehen (Jakobs 2013: 49f.). 12 Stand

23 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik WETTBEWERBSPOLITISCHER REFORM- BEDARF Der 1996 mit der Einführung der Kassenwahlfreiheit intendierte Wettbewerb auf dem GKV-Versicherungsmarkt ist eingetreten und hat zu dem gewünschten Preis- und Servicewettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen geführt. Dieser Prozess hatte ferner eine deutliche Marktbereinigung zur Folge: Die Anzahl der Kassen ging von über auf heute 123 zurück. Dieser Konzentrationsprozess wird sich durch Fusionen und Kassenschließungen fortsetzen. Die in jüngster Vergangenheit beobachtbaren Wanderungsbewegungen wechselbereiter Versicherter zeigen darüber hinaus, dass die für einen Preiswettbewerb erforderliche Preiselastizität der Nachfrage gegeben ist. Inwiefern dieser Wettbewerb tatsächlich zu einer Stabilisierung der (Zusatz-)Beitragssätze beigetragen hat ist nicht mit letzter Sicherheit festzustellen. Der mit der Einführung wettbewerblicher Elemente ebenfalls erhoffte Qualitätswettbewerb ist bisher allerdings sieht man von der deutlich besseren Servicequalität der Kassen ab nur in Ansätzen erkennbar. Zumindest hat die politisch erwünschte stärkere unternehmerische Ausrichtung der Kassen bei gleichzeitiger Schwächung der Selbstverwaltung ein neues Selbstverständnis der Kassen zwischen Markt und sozialem Ausgleich generiert nicht immer zugunsten der Versicherten. Die Entfaltung der dem Wettbewerb innewohnenden Effizienz, wirtschaftlichkeits- und qualitätsfördernde Wirkungen erfordert eine integrative Betrachtung der interdependenten Teilmärkte Behandlungsmarkt Leistungsmarkt Versicherungsmarkt. Insbesondere auf dem Leistungsmarkt steckt noch ein erhebliches wettbewerbspolitisches Potenzial zur Herstellung einer guten, präferenzorientierten Versorgung. Dies setzt allerdings voraus, dass den Kassen über die bloße Festlegung ihres Zusatzbeitragssatzes hinaus der Einsatz weiterer Wettbewerbsparameter ermöglicht wird. Was den Wettbewerbsparameter Versorgungsqualität angeht, so ist hier zunächst an eine Ausweitung der selektivvertraglichen Gestaltungsoptionen zulasten kollektivvertraglicher Vereinbarungen zu denken. Zur Stärkung des Solidarprinzips und zur Hebung weiterer Effizienzpotenziale ist eine Überwindung der bisherigen Dualität von PKV und GKV zu erwägen, die in einem kohärenten Ordnungsrahmen einer solidarischen Bürgerversicherung für ausnahmslos alle Bürger_innen zusammengefasst werden könnte. Ein Blick über die Grenzen unserer Nachbarländer Schweiz und Niederlande kann dabei helfen.

24 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 15 5 DAS GESUNDHEITSSYSTEM DER SCHWEIZ 5.1 AUSGANGSLAGE Das schweizerische Gesundheitssystem ist ein interessanter Vergleichsfall im Hinblick auf die Implementierung wettbewerblicher Elemente im Gesundheitswesen. Darüber hinaus liefert das Gesundheitswesen der Schweiz im internationalen Vergleich regelmäßig Höchstwerte. So liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt gegenwärtig bei 82,9 Jahren und übertrifft damit Deutschland (80,9 Jahre) und die Niederlande (81,4 Jahre) (OECD 2015e) 13. Auch die Krebstodesrate, die Dauer der durchschnittlichen Krankenhausaufenthalte und die Anzahl der Arztbesuche pro Jahr fallen in der Schweiz deutlich geringer aus als in den gewählten Vergleichsländern (OECD 2015a, 2015b, 2015d). Gleichzeitig schätzen 81,3 Prozent aller erwachsenen Schweizer_innen ihren Gesundheitszustand als gut ein. Diesem Wert stehen 76,4 Prozent in den Niederlanden und 64,8 Prozent in Deutschland gegenüber (OECD 2013: 41) 14. Insgesamt er- folgt die gesundheitliche Versorgung in der Schweiz sowohl stationär als auch ambulant auf einem hohen medizinischen Niveau. Dies schließt den guten Zugang zu (Fach-)Ärzt_ innen und geringe Wartezeiten für Patient_innen mit ein. Trotz dieses vergleichsweise hohen Versorgungsniveaus sind die Kosten der schweizerischen Gesundheitsversorgung mit einem Anteil von 11,1 Prozent am BIP auf einem ähnlich hohen Niveau wie in Deutschland (11 Prozent) und den Niederlanden (11,1 Prozent) (OECD 2015c) 15. Anders als in Deutschland und den Niederlanden wird in der Schweiz der individuellen Eigenverantwortung der Versicherten im Bewusstsein der Bevölkerung ein höherer Stellenwert beigemessen. Der schweizerische Gesundheitsmarkt ist in zwei grundlegende Bereiche unterteilt: eine allgemeine gesetzlich vorgeschriebene Grundversorgung (Basistarif) und ein privater Zusatzversicherungsmarkt (Teisberg 2008: 26 32). Die Leistungen des Basistarifs müssen über alle Kantonsgrenzen hinweg und von jedem Versiche- 13 Daten von Daten von Daten von Abbildung 2 Entwicklung Gesundheitsausgaben ( , prozentualer Anteil BIP) 12,00 10,00 8,00 6,00 4,00 2,00 Deutschland Niederlande Schweiz 0, Quelle: OECD 2015c.

25 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 16 rer gewährleistet werden. Auf dem Zusatzversicherungsmarkt herrscht hingegen ein uneingeschränkter Wettbewerb. Gewinne dürfen die Krankenversicherungen ausschließlich auf dem Zusatzversicherungsmarkt erzielen. Im Basistarif können Versicherte in begrenztem Rahmen selbst über die Höhe des monatlichen Versicherungsbeitrages entscheiden. Abhängig von ihrem monatlichen Beitrag erhöht bzw. verringert sich die finanzielle Eigenbeteiligung im Behandlungsfall (Franchise). Die Höhe der Franchise reicht von mindestens 300 Schweizer Franken bis zu einem Maximalbetrag von Schweizer Franken. Unabhängig von der gewählten Franchise tragen Versicherte in der Schweiz bis zu einem Maximalbetrag von 700 Schweizer Franken einen Selbstbehalt von zehn Prozent an den Behandlungskosten. Anders als in den Niederlanden und Deutschland sind Versicherte in der Schweiz somit finanziell stärker an ihren individuellen Behandlungskosten beteiligt. Einkommensabhängige Beiträge gibt es in der schweizerischen Krankenversicherung nicht. Stattdessen werden staatliche Solidarbeihilfen auf Versicherungsbeiträge gewährt. Allerdings unterscheiden sich die Höhe der Beihilfen und die jeweilige Bemessungsgrundlage deutlich von Kanton zu Kanton. Anders als in Deutschland und den Niederlanden entstehen dadurch hinsichtlich der zu zahlenden Krankenversicherungsprämien sozialpolitisch tolerierte Belastungsunterschiede innerhalb des Landes. Ein weiterer Unterschied zu den genannten Ländern liegt in der Einzelversicherung jedes Versicherten. Eine beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen oder Kindern nach deutschem Modell existiert nicht (Kirchgässner 2010: 1). Allerdings fallen in der Schweiz die monatliche Beitragshöhe, der Selbstbehalt und die Franchise für Kinder geringer aus als bei Erwachsenen. Ein weiteres besonderes Merkmal des schweizerischen Gesundheitssystems liegt in dem stetig zunehmenden Marktanteil verschiedenartig ausdifferenzierter Managed Care (MC) Modelle in der Grundversicherung entschieden sich insgesamt 63,6 Prozent der schweizerischen Versicherten für ein solches Versicherungsangebot (FMC 2015). MC Modelle bieten Versicherten einen günstigeren monatlichen Beitrag und beschränken im Gegenzug abhängig von der gewählten Vertragsform die freie Arztwahl. Verschiedene Grundmodelle von MC Tarifen können voneinander abgegrenzt werden (Beck 2013; Comparis 2015): HMO Modell (Health Maintenance Organization): Versicherte verpflichten sich im Krankheitsfall immer, das gewählte Gesundheitszentrum (Gruppenpraxis) aufzusuchen, in dem über den weiteren Behandlungsansatz entschieden wird; Hausarztmodell Gatekeeping : Versicherte sind verpflichtet, im Krankheitsfall zunächst ihren Hausarzt zu besuchen, der dann über weitere Behandlung entscheidet und eventuell an entsprechende Fachärzt_innen weiterverweist. In Haushaltsmodellen besteht ein Vertrag zwischen ausgesuchten Leistungsanbietern und dem jeweiligen Versicherer; Listenmodell: Ähnlich wie Hausarztmodelle, die Versicherer wählen die entsprechenden Leistungsanbieter jedoch einseitig aus, ein gesonderter Vertrag wird nicht geschlossen. Versicherte können sich aus der von den Versicherern vordefinierten Liste einen Hausarzt (Gatekeeper) wählen, der über den weiteren Behandlungsverlauf entscheidet; telemedizinische Modelle: Versicherte sind verpflichtet, bei jedem neuen medizinischem Problem zunächst per Telefon eine medizinische Auskunft einzuholen. Ärzt_ innen in einem Callcenter nehmen eine Ersteinschätzung vor und entscheiden über eine mögliche anschließende ärztliche Konsultation. Es bestehen auch verschiedene Mischformen der unterschiedlichen MC Modelle. So kann beispielsweise bei einem telemedizinischen Modell die Arztwahl nach telefonischer Konsultation im Regelfall frei oder ähnlich wie im Listenmodell eingeschränkt sein. Die schweizerische Gesetzgebung zu MC Modellen ist grundsätzlich sehr liberal und lässt große Spielräume für innovative Ausgestaltungsformen zu. Vor diesem Hintergrund nehmen erfolgreiche MC Modelle in der Schweiz oftmals eine Vorreiterrolle im Gesundheitswesen wahr. Der Versuch des schweizerischen Gesetzgebers, MC Modelle stärker zu regulieren, wurde von der Bevölkerung 2012 mit einer überwältigenden Mehrheit von 76 Prozent abgelehnt (Schweizerische Bundeskanzlei 2012). Während zu Beginn der Einführung von MC Modellen in den 1990er Jahren die Nachfrage zunächst deutlich geringer ausfiel als erwartet und auf einem sehr geringen Niveau stagnierte, setzte Mitte der 2000er Jahre eine Trendwende ein. In der Folgezeit verzeichneten die verschiedenen Ausprägungen von Managed Care Tarifen eine sprunghafte Nachfrage seitens der Versicherten. Hauptgründe für diesen Anstieg waren die 2005 eingeführte Möglichkeit der Kombination von MC Tarifen mit erhöhten Wahlfranchisen, die im Idealfall annähernd zu einer Reduktion der monatlichen Versicherungsprämien um 50 Prozent führen konnte. Darüber hinaus fand eine Konsolidierung des MC Marktes statt, die verschiedenen Ausprägungen von MC Tarifen etablierten sich und Einstellungen von MC Modellen fanden nur noch in geringem Maße statt (Beck 2013: 253). Dieser Wachstumstrend setzt sich bisher fort, auch wenn sich seit 2012 der Übergang in eine Sättigungsphase mit gleichbleibender Marktnachfrage abzeichnet. Inwiefern die zunehmende Ausdifferenzierung telemedizinischer MC Tarife den Wachstumstrend erneut verstärken kann, bleibt abzuwarten. Obwohl der größte Wettbewerbsvorteil von Managed Care in den geringen monatlichen Beitragskosten für Versicherte liegt, werden von Teilen der Versicherten auch der einheitliche Versorgungsansatz und die Vorauswahl von Leistungserbringer_innen geschätzt. Volkswirtschaftlich betrachtet führt MC darüber hinaus zu Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen (Beck 2013: ; Beck et al. 2012: 31 33).

26 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 17 Abbildung 3 Entwicklung von Managed Care Modellen in der Schweiz ( ) 100 % 80 % 6,6 % 3,5 % 7,9 % 10,2 % 8,6 % 21,4 % 11,3 % 17,0 % 20,8 % 23,7 % 24,8 % 35,6 % 60 % 39,0 % 37,2 % 38,3 % 38,8 % 40 % 89,9 % 81,9 % 70,0 % 20 % 53,1 % 44,0 % 42,0 % 38,0 % 36,4 % Anteil Versicherte Standardmodell Anteil Versicherte in Modellen ohne Ärztenetz und Vertrag (Listenmodelle, Telemedizin) Anteil Versicherte in Modellen mit Ärztenetz und Vertrag (Hausarzt, HMO) Quelle: Eigene Darstellung, Daten FMC Wettbewerb im Gesundheitswesen erfordert die Erfüllung diverser Voraussetzungen. Wie im nachfolgenden Teilkapitel deutlich wird, ist die Umsetzung dieser Voraussetzungen in der Schweiz deutlich stärker verankert als in Deutschland und den Niederlanden. Dennoch steht auch die Schweiz vor diversen Herausforderungen. Eines der größten Wettbewerbshindernisse liegt dort in der äußerst starken Ausprägung föderaler Elemente (Sax 2008: 6). 5.2 WETTBEWERBSVORAUSSETZUNGEN Hinsichtlich der notwendigen Wettbewerbsvoraussetzungen sind in der Schweiz viele Bedingungen zufriedenstellend erfüllt. Der freie Marktzutritt für Leistungserbringer_innen und Versicherungen ist grundsätzlich möglich. Allerdings haben die Kantone die Möglichkeit, die Zulassungszahl für Leistungserbringer_innen im Rahmen eines Ärztestopps zu steuern, um eine Überversorgung zu verhindern. Krankenhäuser müssen auf einer Spitalliste erfasst werden, um zur Abrechnung stationärer Leistungen mit den Kassen berechtigt zu sein. Kann eine Versicherung oder ein_e Leistungserbringer_in im Wettbewerb nicht bestehen, ist in der Schweiz ein Scheitern von Marktteilnehmern möglich und kommt in der Praxis auch vor. Die stärkere Ausprägung des Wettbewerbsgedankens gegenüber den Vergleichsländern wird in dieser Hinsicht deutlich. Mit Ausnahme der zahnärztlichen Versorgung und einiger psychotherapeutischer Maßnahmen sichert der Mindestleistungskatalog in der Schweiz nach übereinstimmender Expert_innenmeinung eine gute und umfassende Gesundheitsversorgung. Ebenfalls gegeben sind eine allgemeine Versicherungspflicht für alle in der Schweiz ansässigen Personen und eine fixe Obergrenze der Kostenbeteiligung im Krankheitsfall (Leu/Matter 2009: 10f.). Auch die Voraussetzungen von risikounabhängigen Prämien in der Grundversorgung und ein einkommensbezogener Solidarausgleich werden erfüllt. Letzterer erfolgt allerdings auf kantonaler Ebene (Teisberg 2008: 26). Obwohl de iure für Versicherte in der Schweiz das Prinzip der freien Kassenwahl besteht, versuchen viele Versicherer in der Grundversorgung eine nicht erlaubte Risikoselektion zu betreiben (Interview 2015d, 2015e, 2015f). Einen Anreiz dazu bietet ihnen der in der Schweiz vergleichsweise gering ausdifferenzierte Risikoausgleich 16, der deutlich weniger Variablen berücksichtigt als dies in Deutschland oder in den Niederlanden der Fall ist. Allerdings durchläuft der schweizerische Risikoausgleich einen kontinuierlichen Anpassungs- und Reformprozess. Eine stärkere Ausdifferenzierung in der Zukunft ist daher wahrscheinlich. So hat das reformfreundlichere Bundesamt für Gesundheit die Zuständigkeit für diesen Bereich vom Parlament übernommen. Das Prinzip der Vertragsfreiheit ist in der Schweiz in der Grundversorgung nur eingeschränkt gegeben. Grundsätzlich muss jede Kasse mit jedem bzw. jeder zugelassenen Leistungserbringer_in kontrahieren. Im Rahmen der zahlreichen Formen von MC Modellen besteht jedoch die Möglichkeit zu Selektivverträgen und speziell ausgehandelten Tarifen mit Teilen der Ärzteschaft und der Spitäler. Das Interesse der Ärzteschaft an gesondert ausgehandelten Tarifen mit den Kassen außerhalb von MC Modellen ist aufgrund der Verrechnungspflicht für Leistungen im Basistarif gering. Das Kartellrecht, insbesondere das Wettbewerbsrecht, findet im schweizerischen Gesundheitswesen keine Anwendung (Leu/Matter 2009: 12). Das Erfordernis einer möglichst umfassenden Transparenz wird in der Schweiz ebenfalls nur teilweise erfüllt. Während bei Versicherungsprodukten und verschiedenen Tarifen insbesondere durch unabhängige Vergleichsportale ein hohes 16 Begriffsklärung: In der Schweiz wird die Entsprechung zum deutschen bzw. niederländischen Risikostrukturausgleich als Risikoausgleich bezeichnet.

27 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 18 Transparenzniveau erreicht wird, sind Informationen über die Qualität von Spitälern und niedergelassenen Ärzt_innen fast nicht vorhanden. So ist beispielsweise kaum ersichtlich, welche MC Modelle besonders hohe Qualitätskriterien erfüllen oder verbesserungswürdig sind. Unabhängige Vergleichsportale im Internet berücksichtigen allerdings individuelle Kundenbewertungen. Hinsichtlich der Dekonzentration von Entscheidungskompetenzen lässt sich für die Schweiz festhalten, dass sowohl Versicherte als auch Versicherer ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit innehaben (Studer 2010: 68 70). Da die überwiegende Mehrheit der schweizerischen Krankenhäuser in kantonaler Zuständigkeit liegt, werden Entscheidungen im Spitalbereich tendenziell auf kantonalstaatlicher Ebene getroffen. Insgesamt sind die Voraussetzungen für einen funktionierenden Wettbewerb im Gesundheitswesen deutlich stärker als in den Niederlanden oder in Deutschland erfüllt. Die größte Herausforderung für die Schweiz liegt in einer stärkeren Ausdifferenzierung des RSA und einer verbesserten Erhebung der dafür notwendigen empirischen Datenlage. Die nachfolgenden Abschnitte analysieren die schweizerischen Wettbewerbserfahrungen differenziert nach Behandlungs-, Leistungs- und Versicherungsmarkt. Auf Seiten der schweizerischen Leistungsanbieter lässt sich festhalten, dass der Wettbewerb um Patient_innen zu einer erhöhten Produktvielfalt und Versorgungsqualität geführt hat. Ärzt_innen verschiedener Fachgruppen schließen sich zunehmend in Gemeinschaftspraxen zusammen, um ein breiteres Behandlungsspektrum abzubilden. Auch eine zunehmende Spezialisierung von Ärzt_innen findet statt. Außerdem differenzieren Leistungserbringer_innen ihre Angebote stärker und bieten unterschiedliche Behandlungsmethoden, z. B. homöopathische Verfahren, an. Insbesondere in urbanen Ballungsräumen findet eine zunehmende Konzentration von Ärzt_innen statt. In kleineren ländlichen Gemeinden findet hingegen eine zumindest aus ökonomischer Sicht sinnvolle Marktbereinigung vorhandener Überkapazitäten statt. Reformbedarf auf dem schweizerischen Behandlungsmarkt besteht vor allem hinsichtlich einer verbesserten Transparenz für Patient_innen. Insbesondere im stationären Bereich ist die Entscheidungsgrundlage für erkrankte Menschen unzureichend. Ein erhöhtes Transparenzniveau in diesem Bereich trägt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu einer weiteren Qualitätssteigerung des schweizerischen Gesundheitswesens bei. 5.3 BEHANDLUNGSMARKT Der Behandlungsmarkt betrachtet den Wettbewerb von Leistungserbringer_innen (Kliniken, Ärzt_innen, weitere Dienstleister_innen) um Patient_innen. Im ambulanten Bereich findet dieser Wettbewerb in der Schweiz verstärkt statt. Leistungserbringer_innen haben ein hohes Interesse daran, ihre jeweiligen Patient_innen als Praxiskund_innen zu halten. Die Servicequalität der schweizerischen Arztpraxen hat sich nach Expert_innenmeinung vor diesem Hintergrund verbessert. So ist beispielsweise die Sprechstundenzeit von Arztpraxen (inklusive 24-Stunden-Angebote) flexibler geworden, es werden verstärkt Telefonsprechstunden und telemedizinische Möglichkeiten angeboten und Wartezeiten, auch für Facharzttermine, sind gering. Durch ein verbessertes Zusammenspiel von Ärzt_innen und ihren Patient_innen, insbesondere im Rahmen von MC Modellen oder Gemeinschaftspraxen, erhöht sich im ambulanten Bereich ebenfalls die Versorgungsqualität (Interview 2015d). Gleiches gilt für die Notwendigkeit von Ärzt_innen, ihre Praxen auf dem neuesten technischen Stand zu halten, um keine Patient_ innen zu verlieren (Interview 2015f). Im stationären Bereich ist der Wettbewerb zwischen den Kliniken hingegen eingeschränkt. Im Regelfall gehen Patient_innen in die örtlichen Spitäler und akzeptieren die dortigen Bedingungen. Allerdings besteht in der Schweiz seit 2012 in der allgemeinen Grundversorgung die Möglichkeit der freien Spitalswahl über Kantonsgrenzen hinweg. Zuvor war dies ein Zusatzversicherungsprodukt. Dennoch wird von diesem Recht eher weniger Gebrauch gemacht. Nach wie vor scheint die räumliche Nähe zum Herkunftsort des Patienten oder der Patientin das entscheidende Auswahlkriterium wurden auch in der Schweiz diagnosebezogene Fallpauschalen eingeführt. 5.4 LEISTUNGSMARKT Auf dem Leistungsmarkt konkurrieren Krankenkassen zur Erhöhung ihrer eigenen Attraktivität für Versicherte um bestmögliche Leistungsanbieter. Ferner konkurrieren auch Leistungsanbieter um Kassenverträge, um damit ihre Patient_ innenzahl im Rahmen von MC Modellen zu erhöhen. Ähnlich wie auf dem Behandlungsmarkt findet auch auf dem schweizerischen Leistungsmarkt Wettbewerb statt. Allerdings ist der Wettbewerb in diesem Bereich nahezu ausschließlich auf verschiedene MC Modelle beschränkt. Er weist in diesem speziellen Segment jedoch eine hohe Marktdynamik auf und stärkt gesundheitsökonomische Innovationen (Interview 2015f). Innerhalb weniger Jahre durchlief der MC Markt viele Veränderungen und es werden häufig neue Versicherungsprodukte angeboten. Beispiele sind telemedizinische Modelle, Diagnosen mit Hilfe eingeschickter Fotos oder die elektronische Überwachung individueller Gesundheitsparameter. Darüber hinaus hat die Einführung von Wettbewerb auf dem schweizerischen Leistungsmarkt zu Konkurrenz unter den Krankenversicherungs- und Ärzt_innenverbänden geführt. Während vor Einführung des Wettbewerbs ärztliche Leistungen in Einheitsverträgen zwischen den Dachverbänden der Ärzteschaft und Krankenversicherer kollektivvertraglich geregelt waren, haben sich nach der Einführung verschiedene Organisationen herausgebildet, die untereinander im Wettbewerb stehen. Erst 2013 haben die großen drei Versicherer CSS, Helsana und Sanitas den marktführenden Gesamtverband Santésuisse verlassen und den eigenen Verband Curafutura gegründet (Schäfer 2013). So fungieren verschiedene Verbände als Einkaufsorganisationen für kollektive Verträge mit Leistungserbringer_innen. Auf Seite der Ärzteschaft treten verschiedene Dienstleister_innen, Verbände und Ärztenetzwerke in die Verhandlungen mit Versicherern

28 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 19 ein. Insgesamt lässt sich feststellen, dass durch den Wettbewerb das Kartell der Ärzt_innen und Krankenversicherer strukturell aufgebrochen wurde (Interview 2015e). Eine weitere Auswirkung des Wettbewerbs auf dem Leistungsmarkt liegt in einer deutlich stärkeren Marktdifferenzierung für Zusatzversicherte seitens der Leistungserbringer_ innen und Versicherer. Negative Folgen entstehen unter Umständen im stationären Bereich durch die Einführung der DRG-Fallpauschalen in Verbindung mit einem fortschreitenden Privatisierungsprozess von schweizerischen Spitälern (Interview 2015d). Privatkliniken wird möglicherweise der Anreiz gesetzt, nur für sie besonders attraktive Patient_ innen anzuziehen, die nach stationären Aufenthalten schnell wieder gesunden und die Klinik verlassen. Multimorbide Patient_innen, die langsame Heilungsprozesse durchlaufen, würden in diesem Szenario hauptsächlich nur noch von staatlichen Einrichtungen behandelt werden. Dieser Gefahr eines stationären Zweiklassensystems gilt es im schweizerischen Gesundheitssystem frühzeitig entgegenzuwirken. Insgesamt befindet sich das schweizerische Gesundheitswesen im stationären Bereich aber auf einem qualitativ hohen Niveau. Weitere Reformanreize bestehen im weiteren Ausbau der Qualitätssicherung und -steigerung (Interview 2015f). Insbesondere im MC Bereich bieten viele Modelle eine hohe Qualität, können sich jedoch aufgrund zu geringer nachprüfbarer Qualitätsindikatoren nicht ausreichend gegenüber Wettbewerbern mit geringeren Qualitätsstufen profilieren. 5.5 VERSICHERUNGSMARKT Der Versicherungsmarkt umfasst den Wettbewerb von Krankenversicherungen um Versicherte. Da in der Schweiz Versicherte ihre Kasse mindestens einmal zum Ende jedes Jahres wechseln können, findet auf dem Versicherungsmarkt ein starker Wettbewerb der Kassen untereinander statt. In der Vergangenheit hatte dies zur Folge, dass ineffiziente Versicherer ihr Geschäft einstellen mussten. Der entscheidende Wettbewerbsparameter ist die monatliche Prämienhöhe (Interview 2015d, 2015e). Versicherte verhalten sich in dieser Hinsicht rational und haben ein Interesse daran, ihre finanziellen Beiträge zur Krankenversicherung möglichst gering zu halten (Interview 2015f). Analyst_innen der schweizerischen Versicherer argumentieren, dass eine Versicherung zu den zehn günstigsten Anbietern gehören sollte, um auf Dauer keine Versicherungsnehmer_in zu verlieren (Interview 2015e). In der Folge bietet die Mehrheit der Versicherer zumindest eine günstige Sparvariante im Basistarif mit hoher Selbstbeteiligung und geringen Beiträgen an. Dennoch spielen bei der Auswahl der Kasse neben der Prämienhöhe auch weitere Wettbewerbsparameter eine wichtige Rolle. Insbesondere die Servicequalität der Kassen einschließlich der unkomplizierten und schnellen finanziellen Rückerstattung medizinischer Kosten sind in diesem Zusammenhang von hoher Wichtigkeit. Im Regelfall gehen Versicherte in der Schweiz im Behandlungsfall in finanzielle Vorleistung und bekommen ähnlich wie in der deutschen PKV die Kosten erst nachträglich erstattet. Einige Versicherungen versuchen durch diese Zahlungsmodalitäten, die ihnen obliegenden Zahlungspflichten zu verzögern oder zu umgehen (Interview 2015d; Interview 2015e). Darüber hinaus findet Wettbewerb zwischen den Kassen auch über die von ihnen angebotenen Managed Care Modelle statt. Viele Versicherte fragen gezielt telemedizinische Leistungen und weitere Formen gesteuerter Versorgung nach (Interview 2015f). Auch die von der jeweiligen Versicherung über das Basisangebot hinausgehenden Zusatzpakete und in geringerer Form die Marketingstrategien der einzelnen Unternehmen sind von Bedeutung. Da Versicherer in der allgemeinen Grundversorgung keine Gewinne erwirtschaften dürfen, konzentriert sich der Wettbewerb insbesondere auf den Zusatzversicherungsmarkt. Da die Mehrheit der Versicherten Zusatzpakete bei demselben Versicherer des Basistarifs abschließt, bringt das bestehende System ein schwierig zu lösendes Problem mit sich. Obwohl nicht erlaubt, versuchen einige Versicherer die Daten ihrer Kund_innen im Basistarif zur Risikoselektion für Zusatzversicherungen zu verwenden (Interview 2015d). Auch eine spätere Prämienerhöhung ist bei Zusatzversicherungen möglich. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Einführung von Wettbewerb auf dem Versicherungsmarkt die Eigenverantwortung der Versicherten in der Schweiz gestärkt hat und zu einer Ausdifferenzierung der Produktvielfalt, z. B. in Form neuer Tarife, MC Modelle und Zusatzleistungen, geführt hat. Des Weiteren ist es zu einer verstärkten Kooperation von Leistungserbringer_innen im Rahmen der angebotenen MC Modelle gekommen. Allerdings hat die Einführung des Wettbewerbs auf dem schweizerischen Versicherungsmarkt auch zu Problemen geführt, die bisher noch nicht vollständig gelöst werden konnten. So findet aufgrund des unzureichenden Risikoausgleichs in der Schweiz nach übereinstimmender Expert_innenmeinung immer noch eine Risikoselektion von Versicherten durch einige Kassen zu Lasten des Solidargedankens statt. Erst mit einer weiteren Ausdifferenzierung des Risikoausgleichs kann diese Tendenz nachhaltig überwunden werden (Interview 2015e). Außerdem vollzieht sich auf dem Versicherungsmarkt ein Konzentrationsprozess. Sollte dieser Prozess über die nächsten Jahre andauern, besteht die Gefahr einer Oligopolisierung des Versichertenmarkts mit nur noch wenigen großen Versicherungsunternehmen (Interview 2015f). Abschließend liegt eine weitere Kernherausforderung des schweizerischen Gesundheitswesens darin, dass gesunde Versicherte zunächst oft in günstigeren Kassen mit geringerer Servicequalität versichert sind, aber im Krankheitsfall zu einer Kasse mit besserer Servicequalität wechseln. Um diesbezüglich keine entsolidarisierenden Ungerechtigkeiten entstehen zu lassen sind auch hier weitere Reformschritte in der Schweiz unausweichlich. 5.6 REFORMOPTIONEN FÜR DAS DEUTSCHE GESUNDHEITSWESEN In der Gesamtbetrachtung lässt sich festhalten, dass das schweizerische Gesundheitswesen in Teilbereichen durchaus einen Vorbildcharakter für die Bundesrepublik haben kann. Dennoch hat die Einführung von Wettbewerb im Gesundheitswesen der Schweiz auch Probleme aufgezeigt, die bei der Weiterentwicklung wettbewerblicher Strukturen

29 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 20 in Deutschland berücksichtigt werden sollten. Insgesamt wurden die ursprünglich beabsichtigten Kernziele der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes in der Schweiz 1996 nur teilweise erreicht (Bundesamt für Gesundheit 2012: 3). Zwar konnte einerseits der Zugang der Gesamtbevölkerung zu einer qualitativ hochwertigen medizinischen Grundversorgung sichergestellt und die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken und zwischen wirtschaftlich stärkeren und wirtschaftlich schwächeren Versicherten verbessert werden. Andererseits wurde das Ziel nachhaltiger Kosteneinsparungen und Effizienzsteigerungen im Gesundheitswesen bisher nur in beschränktem Maße verwirklicht. Eine der größten Stärken des Gesundheitswesens in der Schweiz liegt in der durch einen einheitlichen Basistarif finanzierten allgemeinen Grundversorgung. Keine in der Schweiz ansässige Person kann sich dem allgemeinen Solidarausgleich in der Basisversorgung entziehen. Stattdessen werden Versicherte ermutigt, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Sie können sich je nach Bedarf und individuellen Präferenzen über die lebensnotwendigen Leistungen der Grundversorgung hinaus, auf dem Zusatzversicherungsmarkt absichern. Zusatzversicherungen umfassen beispielsweise den Bereich der Alternativmedizin, medizinische Versorgung im Ausland, Zahnbehandlung und Zahnstellungskorrekturen und Heilkuren. Grundsätzlich schafft die schweizerische Differenzierung in Basis- und Zusatzversicherung die Voraussetzung für die Überwindung der Dualität von privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen. Versicherte haben weiterhin die Möglichkeit zur Absicherung individueller zusätzlicher Bedarfe, es gibt jedoch keine privilegierten Gruppen mehr, die sich dem verpflichtenden Solidarausgleich in der Grundversorgung entziehen können. Kernvoraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Modells ist jedoch, dass die allgemeine Grundversorgung für alle Versicherten eine qualitativ hohe medizinische Versorgung sicherstellt. In dieser Hinsicht hat die Überwindung der Dualität von privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen auch für die Bundesrepublik einen Vorbildcharakter (Kirchgässner 2010: 12). Darüber hinaus ist zumindest auf Grundlage der Wettbewerbserfahrungen der Schweiz auch in Deutschland die Einführung von Managed Care Wahltarifen und Selektivverträgen erwägenswert. In der Schweiz haben MC Modelle zu einer starken Innovationsdynamik im Gesundheitsmarkt geführt und gewährleisten ferner tendenziell eine höhere Effizienz durch Kosteneinsparungen und bessere Versorgungsqualität (Beck et al. 2009: 1f., 5 7; Beck et al. 2011: 38f.; Interview 2015d, 2015f). Eine große Mehrheit der Schweizer_innen hat sich bereits für ein solches Modell entschieden. Auch telemedizinische Innovationen stellen inte - ressante Reformoptionen für deutsche Versicherungen dar und können zu einer besseren Versorgung führen. Zudem hat die Einführung wettbewerblicher Elemente auf dem Behandlungsmarkt in der Schweiz zumindest im ambulanten Bereich tendenziell zu einer verstärkten Serviceorientierung und hohen technischen Ausstattungsstandards von Leistungserbringer_innen geführt. In Kombination mit der höheren Wahlfreiheit der schweizerischen Versicherten haben auch diese wettbewerblichen Maßnahmen einen gewissen Vorbildcharakter für die Bundesrepublik. Des Weiteren zeigt das Beispiel Schweiz, dass es zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen bereits im Vorfeld unabdingbar ist, einheitliche Rahmenbedingungen für einen solidarischen Wettbewerb im Gesundheitswesen umfassend umzusetzen. Von größter Bedeutung ist hierbei ein ausdifferenzierter Risikostrukturausgleich. Diesbezüglich besteht zumindest in der Schweiz noch Verbesserungspotenzial. Um große föderale Unterschiede in der Verwirklichung des Solidarausgleichs zu verhindern, scheint es im Hinblick auf die Bundesrepublik ratsam, einkommensabhängige Beiträge beizubehalten. Eine weitere Kernvoraussetzung wettbewerblicher Reformen im Gesundheitswesen ist die Erhöhung von Transparenz über Qualitätsstandards im ambulanten und stationären Bereich. Dies schließt auch staatliche Qualitätskontrollen mit ein. Ebenfalls erwägenswert wäre eine stärkere Kostenkontrolle neuer pharmaindustrieller Arzneimittel (Interview 2015f). Wenig sinnvoll erweist sich die Einführung von Wettbewerb in Bereichen, in denen Marktversagen vorliegt (z. B. notärztliche Versorgung, Impfprävention etc.). Auch in der Schweiz handelt es sich hierbei um wettbewerbliche Ausnahmebereiche.

30 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 21 6 DAS GESUNDHEITSSYSTEM DER NIEDERLANDE 6.1 AUSGANGSLAGE Mit einem umfassenden Krankenversicherungsgesetz wurde 2006 in den Niederlanden ein grundlegender Reformprozess und Strukturwandel des Gesundheitswesens eingeleitet. 17 Im Zentrum standen eine Versicherungspflicht für alle Einwohner_innen, eine Überwindung des bisherigen Nebeneinanders von staatlichen und privaten Krankenversicherungsträgern, ein einheitliches Basis-Leistungspaket sowie eine einkommensunabhängigere Finanzierung. Ähnlich wie in Deutschland und der Schweiz sollte durch mehr Wettbewerb und Markt der seit den 1970er Jahren beobachtbare dynamische Anstieg der Gesundheitsausgaben gedämpft sowie Effizienz- und Wirtschaftlichkeitspotenziale gehoben werden. Nicht zur Disposition standen die Beibehaltung des Solidarprinzips sowie des obligatorischen Hausarztmodells, das den niederländischen Hausärzt_innen traditionell eine zentrale Steuerungsund Lotsenfunktion im Gesundheitswesen zuweist. Eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens wurde in den Niederlande bereits seit den achtziger Jahren diskutiert und stand immer wieder auf der politischen Agenda. Im Mittelpunkt der gesundheitspolitischen Auseinandersetzung stand die Zurückdrängung des staatlichen Einflusses zugunsten eines regulierten Wettbewerbs. Kern der Reform sollten frei ausgehandelte Verträge zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringer_innen sein (Walser 2006: 78). Bereits 1987 wurden die zentralen Reformziele und -maßnahmen unter dem Titel Bereitschaft zur Veränderung 18 (sog. Dekker-Plan) umfassend diskutiert und in die gesundheitspolitische Diskussion eingebracht. 19 Der Dekker-Plan plädierte für eine nahezu einkommensunabhängige, einheitliche Basisversicherung, in die jeder Bürger oder jede Bürgerin verpflichtend einzahlt. Mehr Markt und Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, aber auch im Verhältnis zwischen Kassen und Leistungsanbietern sollten das System wirtschaftlicher und effizienter machen. Gleichzeitig sollte den Bürger_innen mehr Wahlfreiheit bei der individuellen Gestaltung ihrer Krankenversicherung eingeräumt werden (Hartmann 2002: 137). Von der Reform 2006 waren hauptsächlich der Versicherungs- und der Leistungsmarkt betroffen, wobei die Kernpunkte der Reform in der Überwindung der Dualität von GKV und PKV, in der Einführung eines umfassenden Basis- Leistungspaketes 20, in mehr Wahlfreiheit für die Versicherten und mehr Verhandlungsspielraum für die Krankenversicherer bei der selektiven Vertragsgestaltung lag. Die Wahlmöglichkeiten für die Versicherten konkretisieren sich nicht nur in der freien Wahl ihrer Krankenkasse, sondern auch in der Höhe ihres nominalen Beitrags, dem Umfang ihres Selbstbehalts und der Möglichkeit zum Abschluss diverser Zusatzversicherungen häufig beim gleichen Krankenversicherungsträger. Gleichzeitig erhoffte man sich durch die Reform aber auch Verbesserungen auf dem Behandlungsmarkt, also eine bessere Versorgung der Versicherten. Keinesfalls sollte angesichts steigender Kosten der Zugang zu Gesundheitsleistungen eingeschränkt oder rationiert werden (Greß/Heinzelmann 2013: 263). Jedoch zeigen die empirischen Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass die Hinwendung zu mehr Wettbewerb und Markt ihre gewünschte Wirkung insbesondere im Hinblick auf Kostendämpfung und Qualitätsverbesserungen noch nicht voll entfaltet hat. So bleiben angesichts weiter steigender Kosten stabile Beiträge und eine dauerhaft nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens nach wie vor unsicher. Das Kostenproblem ist trotz oder wegen der Gesundheitsreform 2006 (Schulze-Ehring/Köster 2010: 30) nach wie vor evident. 17 Für das handlungsleitende Konzept des regulierten Wettbewerbs siehe Victoor et al.: 2012 sowie für eine detaillierte Erläuterung nicht nur der jüngst erfolgten Reformschritte sowie insbesondere des Basis-Leistungspaketes beispielsweise Brower/Rutten: Willingness to change. 19 Dekker-Kommission bzw. Dekker-Plan, nach dem ehemaligen Philips-Manager Wisse Dekker benannt. 20 Dieses Basispaket entspricht in etwa dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland, schließt allerdings Psychound Physiotherapie sowie Zahnersatz mit eingetretener Volljährigkeit aus. Der Leistungskatalog im Detail siehe: Schulze Ehring/Köster: 2010.

31 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 22 Ähnlich wie in Deutschland spielt auch in den Niederlanden der soziale Ausgleich eine zentrale Rolle für die Konzeption und Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Dies wurde vor allem an jenen Maßnahmen der Reform deutlich, die auch nach der Einführung eines einheitlichen und umfassenden Basis-Leistungspakets weiterhin unabhängig vom Einkommen den Zugang aller Bürger_innen zu einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung sicherstellen. Gleichzeitig wurden die einkommensunabhängigen Anteile der Finanzierung erhöht. Die Beitragserhebung erfolgt seit 2006 über eine Fifty-Fifty-Regel. Annähernd die Hälfte des Beitragsaufkommens wird aus einer einkommensunabhängigen einheitlichen Kopfpauschale für jeden Bürger oder jede Bürgerin erzielt. Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres werden beitragsfrei mitversichert; Einkommensschwache erhalten einen staatlichen Zuschuss. Die Finanzierung hierfür erfolgt jeweils über den allgemeinen Staatshaushalt. Der verbleibende Anteil wird einkommensabhängig als prozentualer Satz vom Einkommen erhoben und von den Arbeitgeber_innen getragen. Nehmen die Versicherten keine Krankenversicherungsleistungen in Anspruch, wird ihnen ein Teil des fixen Beitrags zurückerstattet. Die einkommensunabhängigen Beitragsbestandteile fließen direkt an die Versicherer, der Rest einschließlich der staatlichen Zuschüsse zunächst in einen zentralen Krankenversicherungsfonds. Von dort erhalten die Krankenversicherer, nach erfolgtem Risikostrukturausgleich, die zur Deckung ihrer Ausgaben erforderlichen Ausgleichsbeträge. Mit der Überwindung der Dualität von PKV und GKV wurden gleichzeitig für alle Krankenversicherungsträger einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen. Die gleichzeitige Überfahrung aller Krankenversicherungsträger in private Rechtsformen leistete neben gleicher formaler Bedingungen für alle im Wettbewerb stehenden Krankenversicherungen auch einen Beitrag zum staatlichen Bürokratieabbau und zur Deregulierung. Insgesamt erfreut sich das Krankenversicherungssystem in den Niederlanden auch nach der Reform breiter gesellschaftlicher Akzeptanz. Das Urteil der Bevölkerung über das neue System fällt insgesamt positiv aus. Umfangreiche Wahl- und Wechselmöglichkeiten wurden anfangs rasch in Anspruch genommen und mit Leben gefüllt und haben das Vertrauen der Bürger_innen in das Gesundheitssystem gestärkt. Flankiert wurde dieser Prozess durch vom Gesundheitsmi nis terium und von Verbraucherverbänden geförderte Internetportale 21, die zu einer maßgeblichen Erhöhung der Transparenz des hochkomplexen Systems beigetragen haben (Schulze-Ehring/Köster 2010: 24f.). Ähnliche Herausforderungen für das deutsche Gesundheitssystem, vergleichbare Versichertenstrukturen 22 sowie die zentrale gesellschaftliche Bedeutung des im Krankenversicherungssystems inhärent angelegten sozialen Ausgleichs in beiden Ländern legen die Frage nahe, ob die jüngsten gesundheitspolitischen Reformen der Niederlande nicht auch Vorbildcharakter für Deutschland haben können WETTBEWERBSVORAUSSETZUNGEN Geringe Markteintritts- und Austrittsbarrieren für Leistungsanbieter und Krankenversicherungen, ein allgemeiner, für alle beteiligten Akteure gleichermaßen verbindlicher Leistungskatalog, eine freie Kassenwahl für alle Versicherten sowie selektivvertraglicher Gestaltungspielraum bilden die wesentlichen Funktionsvoraussetzungen für einen funktions- 21 Das größte Vergleichsportal: ( ). 22 Tabellarische Übersicht über strukturelle Unterschiede der beiden Ländern siehe Brouwer/Rutten 2005: 27f. 23 Die Gesundheitsreform der Niederlande kann für alle vergleichbaren Systeme Bismarck scher Prägung interessant sein. Abbildung 4 Finanzierung des niederländischen Gesundheitssystems Arbeitgeber einkommensabhängiger Beitrag (ca. 50 %) Krankenversicherungsfonds einschließlich RSA Staat staatliche Zuschüsse (ca. 5 %) Ausgleichsbetrag Versicherte einkommensunabhängiger Beitrag (ca. 45 %) Rechnungsbegleichung bei Kostenerstattungsoption/ Beitragsrückerstattung Krankenkassen Rechnungsbegleichung Leistungsanbieter Quelle: In Anlehnung an Ministerium für Gesundheit, Gemeinwohl und Sport 2006: 17.

32 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 23 fähigen Wettbewerb. In den Niederlanden herrscht eine allgemeine sanktionsbewehrte Krankenversicherungspflicht für alle Einwohner_innen. Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot gewährleisten nicht nur de iure, sondern auch de facto eine freie Kassenwahl für alle Bürger_innen. Daneben schließt ein umfassender Risikostrukturausgleich einen Wettbewerb der Krankenversicherer um gute Risiken weitgehend aus. Eine Überkompensation für chronisch Erkrankte setzt ferner sogar Anreize zu ihrer besseren Versorgung (Greß/Heinemann 2014: 20). Staatliche Zuschüsse für sozial Schwächere und eine Deckelung der Selbstbeteiligung tragen dafür Sorge, dass auch einkommensschwache Bevölkerungskreise in den Genuss eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes kommen. Solidarität bedeutet Reiche für Arme und Gesunde für Kranke mit nur wenigen Möglichkeiten, sich aus diesem System stehlen zu können (Interview 2015h). Ein freier Marktzutritt für Krankenversicherer ist jedoch nur eingeschränkt möglich, da derzeit vier große Kassen den Markt weitgehend beherrschen. Der Neueintritt einer Kasse sei nur für einen großen Anbieter realistisch (Interview 2015g). Insofern hat die Anwendung des Wettbewerbs- und Kartellrechts in der Praxis bisher nur unzureichend gewirkt. Die Freiheit der Kassenwahl besteht durchaus, jedoch nehmen die Versicherten nach anfänglicher hoher Wechselbereitschaft diese Möglichkeit heute nur noch nur wenig wahr (Greß/ Heinemann 2014:20). Die Wechselbereitschaft der Versicherten ist in Deutschland deutlich höher (Brouwer/Rutten 2005: 27). Nach Einschätzung der Expert_innen sei aber allein die Möglichkeit zu wechseln für die Niederländer_innen von hohem Wert: Ein Recht, das nicht genutzt, aber gewertschätzt wird 24 (Interview 2015i). Wenn überhaupt wird ein Wechsel ohnehin nur aus finanziellen Erwägungen von jungen und gesunden Versicherten vollzogen (Interview 2015i). 25 Dies legt den Schluss nahe, dass trotz eines umfassenden Risikostrukturausgleichs nach wie vor Risikoselektion praktiziert wird. Auch die bessere Transparenz führt in Bezug auf die Patient_innensouveränität, z. B. bei der Wahl eines Krankenhauses, noch nicht zu den gewünschten Effekten. Da handele es sich nach Meinung der Expert_innen eher um einen Prozess des Durchwurschtelns 26 als um bewusste Wahl durch verbesserten Informationszugang. Ähnlich formuliert Victoor (2015): Das Bild vom Patienten als selektiver Konsument von Gesundheitsdienstleistungen stimmt nicht voll- 27, 28 ständig mit der Realität überein. Mit der Reform von 2006 wurden den Krankenversicherern umfangreiche Möglichkeiten selektiven Kontrahierens mit den Ärzt_innen und Krankenhäusern eingeräumt. Jedoch haben, so die Einschätzung der Expert_innen, die Ärzte aufgrund des vorherrschenden Ärztemangels nach wie vor 24 A right nobody uses, but a value. 25 Vgl. zu Wechselgründen und bevorzugten Tarifen: Niederlande. Anatomie einer Reform (Greß et al 2007: 30ff.). 26 Process of muddling through. 27 Victoor 2015: When deciding on a health care provider, patients choose the default option: ( ). 28 The image of patients as selective health care consumers is not entirely consistent with reality. eine starke Verhandlungsposition. Ähnlich sieht es auf dem Krankenhausmarkt aus: Letztlich bieten die Versicherer doch allen Krankenhäusern Verträge an (Interview 2015g). Daher konnten die Möglichkeiten des selektiven Kontrahierens bisher die erhofften ökonomischen Wirkungen noch nicht voll entfalten. Insgesamt, so die Expert_innen, haben die niedergelassenen Ärzt_innen und Krankenhäuser eine starke Machtposition, Sie können ihre Nachfrage selbst schaffen. Ärzte haben in den Niederlanden das letzte Wort 29 (Interview 2015h). 6.3 BEHANDLUNGSMARKT In jüngster Vergangenheit hat in erster Linie der Wettbewerb auf dem Leistungs- und Versicherungsmarkt im Mittelpunkt des gesundheitsökonomischen Interesses gestanden. Über die Interdependenz aller Teilmärkte erhoffte man sich auch positive Übertagungseffekte für den Behandlungsmarkt. Auf dem Behandlungsmarkt verhalte es sich mit Blick auf den verbreiteten Ärztemangel in den Niederlanden nach Aussage der Expert_innen aber eher so, dass die Leistungsanbieter nicht um Patient_innen werben werden müssen. Auch so sind die Ärzt_innen finanziell gut abgesichert und ihre Arztpraxen voll ausgelastet (Interview 2015g). Dies schränkt trotz freier Arzt- und Krankenhauswahl, mehr Transparenz und vielfältiger selektivvertraglicher Gestaltungsoptionen für die Kassen die Mobilisierung von Effizienz- und Qualitätsreserven auf dem Behandlungsmarkt erheblich ein. 6.4 LEISTUNGSMARKT Ein Kernanliegen der Reform von 2006 war die konsequente Einführung und Umsetzung selektivvertraglicher Vertragsoptionen zwischen den Krankenversicherungen und den Leistungsanbietern. Sie sollten an die Stelle der bisherigen kollektivvertraglichen Vertragsbeziehungen treten. Durch einen Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern erhoffe man sich, eine bessere Versorgung sowie mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit auf dem Leistungsmarkt. MC Modellen sollten hierbei eine zentrale Funktion zukommen. Hausärzt_innen spielen im niederländischen Gesundheitssystem als Lotsen oder Gatekeeper schon immer eine herausragende Rolle: Alle Patient_innen müssen im Krankheitsfall obligatorisch zunächst immer einen Hausarzt oder eine Hausärztin aufsuchen, der oder die dann über eine Überweisung an eine_n der wenigen niedergelassenen Fachärzt_innen oder über eine Einweisung in ein Krankenhaus entscheidet. Ein wie in Deutschland bestehendes Netz niedergelassener, ambulanter Fachärzt_innen fehlt in den Niederlanden fast gänzlich. Die ambulante Facharztversorgung wird weitgehend von den Krankenhäusern sichergestellt. Die Versicherten können zwischen alternativen Vertragsoptionen wählen: Es gibt sogenannte Contracted-Care-Verträge, die eine feste Liste von Leistungserbringer_innen vor- 29 They can create their own demand, the doctors have the final say in the Netherlands.

33 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 24 schreiben und Non-Contracted-Care Verträge, die den Versicherten nicht bei seiner Arztwahl einschränken. Es gibt Einzel- und Gruppenverträge, wobei aber der Beitragsvorteil bei Gruppenverträgen im Vergleich zu den Einzelverträgen auf maximal zehn Prozent beschränkt ist. 30 Seit der Reform gibt es für alle Krankenversicherungsverträge die Möglichkeit einer Beitragsrückerstattung (Bonusoption) bei Schadensfreiheit. 31 Hiermit soll die Inanspruchnahme unnötiger medizinischer Leistungen zurückgedrängt werden. Selektives Kontrahieren erlaubt Versicherern, nur jene Hausärzt_innen unter Vertrag zu nehmen, die den Bedürfnissen und Präferenzen ihrer Versicherten am besten gerecht werden. Dazu können die Versicherer finanzielle Anreize für eine bessere Qualität und Versorgung ihrer Kund_innen gewähren, d. h. die Leistungserbringer_innen müssen sich, wollen sie in den Genuss eines Vertrages kommen, um eine gute Behandlungs- und Servicequalität bemühen. Gleichzeitig besteht aber auch für den Arzt oder für die Ärztin die Möglichkeit, mit einem bestimmten Krankenversicherer nicht zu kontrahieren. Insgesamt führten die veränderten Rahmenbedingungen zu einer höheren Leistungsfähigkeit des niederlän - dischen Gesundheitswesens (Zweifel/Schoder 2007: 42). Bei unzureichender Qualität kann es auch zum Marktaustritt von Leistungsanbietern kommen. Effizienz- und Effektivitätsverbesserungen durch selektive Verträge waren Ziel der Reform 2006 und sind nach empirischen Ergebnissen auch eingetreten, jedoch besteht, wie bei den Ausführungen über die Voraussetzungen für Wettbewerb schon angeklungen, hier noch erheblicher Effizienz- und Qualitätsspielraum (Interview 2015i). 32 Ein weiteres Kernstück der Reform ist das Basis-Leistungspaket. Es soll nicht nur den gleichen diskriminierungsfreien und einkommensunabhängigen Zugang aller Bürger_innen zum Gesundheitssystem gewährleisten und jegliche Rationierung ausschließen, sondern auch für Transparenz und Vergleichbarkeit sorgen. Sie werden als Voraussetzung für einen fairen, effizienzsteigernden Wettbewerb gesehen (vgl. Walser 2006: 90). Zwar ist insgesamt der finanzielle Hebel im Werben um Versicherte für die Krankenkassen gering, aber manche junge, gesunde Versicherte wechseln dennoch, wie oben bereits angeklungen, auch wenn es nur um kleine Einsparungen geht. Das Basispaket funktioniere, weil alle Kassen das Gleiche anbieten müssen (Interview 2015g). 6.5 VERSICHERUNGSMARKT Die wohl wichtigste Entscheidung der Reform von 2006 war neben der Freigabe der Kassenwahl die Überwindung der Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung und die Schaffung eines einheitlichen Versicherungsmarktes. Die Krankenkassen haben seit 2006 nicht mehr die Position regionaler, staatlich regulierter Monopolisten, der Markt wurde geöffnet, d. h. alle Krankenversicherer unabhängig von ihrer Rechtsform können auch auf nationaler Ebene landesweit konkurrieren. Dies betrifft sowohl den Markt für das Basis-Leistungspaket als auch den Markt für Zusatzversicherungen. Sie sprechen vermehrt jüngere und gesunde Versicherte an, deren Kostenbewusstsein und Wechselbereitschaft hoch sind. Eine zunehmend wichtige Rolle auf dem Versicherungsmarkt spielen dabei die sogenannten Gruppenverträge. Sie werden von Arbeitgeber_innen, Gewerkschaften, Sportvereinen, Patient_innenvereinigungen oder anderen Zusammenschlüs sen für ihre Beschäftigten bzw. Mitglieder von Krankenversicherern angeboten (Greß et al. 2006: 23; 29). Waren es im Jahr 2006 erst rd. 53 Prozent aller Versicherten, die einen sogenannten flexiblen Gruppenvertrag abgeschlossen hatten, so waren es im Jahr 2010 bereits 64 Prozent (Schulze- Ehring/Köster 2010: 23). Deutlich wird, dass auch mehr und mehr die Arbeitgeber_innen den Wettbewerb auf dem Versicherungsmarkt beeinflussen: Knapp 80 Prozent der Gruppenverträge gehen auf die Initiative von Arbeitgeber_innen zurück. 33 Insofern relativiert dieser Trend eine wichtige Funktions voraussetzung des regulierten Wettbewerbs, nämlich dass sich Individuen primär auf der Basis ihrer individuellen Präferenzen für eine Krankenversicherung entscheiden. Hauptmotiv für diese Wechselbereitschaft scheint vor allem ein niedriger Beitrag zu sein. Ferner ist erkennbar, dass die Versicherten bei der Wahl ihrer Krankenkassen ihre individuelle Entscheidungsoption gern an ein Kollektiv übertragen, das sie kennen und dem sie vertrauen (Greß/Heinemann 2014: 20f.). Dies steigert allerdings die Voice-Option der Versicherten zulasten der Exit-Option. Große Gruppen sind träge und neigen daher eher dazu, bestehende Verträge zu verhandeln, als mit dem gesamten Kollektiv zu einem anderen Anbieter wechseln (Greß/Heinemann 2014: 21). Dennoch besteht die Möglichkeit, dass jedes Mitglied einer solchen Gruppenversicherung, also zum Beispiel ein_e Mitarbeiter_in in einem Betrieb, jederzeit auch eine andere Versicherung oder einen anderen Gruppenvertrag wählen kann. 6.6 REFORMOPTIONEN FÜR DAS DEUTSCHE GESUNDHEITSWESEN Empfehlenswert für Deutschland könnte die Überwindung der Dualität von GKV und PKV, die Schaffung eines einheitlichen Versicherungsmarktes, die Ausweitung der selektivvertraglichen Gestaltungsoptionen einschließlich des Angebots diverser MC Modelle zulasten kollektivvertraglicher Arrangements sowie die deutlichere Hinwendung zu mehr Prävention und Gesundheitsaufklärung (Interview 2015g) sein. Allen Befürchtungen zum Trotz hat die Reform einschließlich ihrer Hinwendung zu mehr Wettbewerb und Markt den Solidarausgleich gestärkt. Mit Ausnahme der Doppelverdiener_innen und Alleinstehenden ohne Kinder, welche zuvor 30 Zu den Gruppenverträgen siehe Teilkapitel Zu den Vertragsoptionen vgl. Zweifel/Schoder 2007: 33ff. 32 Ausführlich über die Effizienz- und Effektivitätsverbesserungen durch selektive Verträge siehe: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Weniger ins Gewicht fallen Gruppenverträge mit Gewerkschaften (acht Prozent) oder Patient_innenverbänden (zwei Prozent), der Rest sind Sonstige, siehe Greß et al. 2006: 29f.

34 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 25 privatversichert niedrigere Prämien zahlten, haben die meisten Privathaushalte durch geringere Krankenversicherungsbeiträge heute mehr Geld zur Verfügung. 34 Managed Care in Form von hausärztlichem Gatekeeping wird in den Niederlanden zwar seit langem in der Regelversorgung praktiziert, jedoch fördern die im Zuge der Reform neu eingeräumten selektivvertraglichen Optionen den Wettbewerb zwischen den Leistungserbringer_innen, aber auch zwischen den Krankenkassen. Die Krankenkassen können ihre Angebote heute flexibler und versichertenorientierter gestalten, indem sie zum einen mit Blick auf Qualität in der Versorgung selbst entscheiden, mit welchen Ärzt_innen und Spitälern sie Verträge abschließen. Daher scheint der weitere Ausbau selektivvertraglicher Möglichkeiten für Deutschland insbesondere auch deshalb ein probates Instrument für eine bessere Versorgung und zur Hebung von Effizienzpoten zialen zu sein, weil es dort trotz regionaler Ungleichgewichte tendenziell ein Überangegebot an niedergelassenen Ärzt_innen und Krankenhäusern gibt. Dieser Käufermarkt begünstigt die Kassen bei der Mobilisierung von Effizienzreserven auf dem Leistungsmarkt. Im Zusammenhang mit selektivvertraglichen Möglichkeiten müssen auch die Gruppenverträge erwähnt werden. Da in erster Linie finanziell attraktive Gruppenverträge in den Niederlanden den häufigsten Wechselgrund für die Versicherten ausmachen, stellen sie ein wichtiges Wettbewerbsinstrument auf dem Versicherungsmarkt dar. Wenngleich diese Möglichkeit zwar die Wanderungsbereitschaft zwischen den Kassen fördert, erscheint jedoch die steigende Bedeutung der Kollektivverträge in den Niederlanden für Deutschland weniger übertragbar zu sein, da die Kassenwahl in Deutschland nach wie vor eine sehr individuelle Entscheidung ist (Greß/Heinemann 2014: 22). Es ist daher kaum wahrscheinlich, dass Versicherte diese Entscheidung an Arbeitgeber_in oder Gewerkschaft abgeben werden. Zudem hat sich die Transparenz für Versicherte in den Niederlanden verbessert. Sie ist notwendige Voraussetzung für die Ausübung von Wahl- und Wechseloptionen auf dem Versicherungs- und Behandlungsmarkt. Es gibt unabhängig kontrollierte Plattformen, welche Krankenkassen und ihre Leistungsprofile vergleicht sowie regelmäßige Rankings von Krankenhäusern in den Zeitungen. Der erleichterte Zugang zu Information veranlasst die Versicherten zwar nicht zwingend dazu, die Kasse oder das Krankenhaus zu wechseln, führt aber dennoch zu einer disziplinierenden Leistungs- und Serviceorientierung der Kassen und Leistungsanbieter. Auch hier gibt es in Deutschland erheblichen Nachholbedarf, da zentrale, unabhängige Plattformen bisher weitgehend fehlen Siehe Greß et al. 2007: Das im Juli 2015 in Kraft getretene GKV-Versorgungsstärkungsgesetz sieht die Gründung eines fachlich, unabhängigen wissenschaftlichen Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen vor.

35 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 26 7 FAZIT Die vorliegende Vergleichsstudie hat die Gesundheitssysteme Deutschlands, der Schweiz und der Niederlande unter wettbewerblichen Aspekten betrachtet. Im Sinne einer Best-Practice-Analyse wurde untersucht, welche Ansätze der Nachbarländer auch in Deutschland für eine wettbewerbliche Weiterentwicklung des Gesundheitswesens vorteilhaft sein können und welche Voraussetzungen hierfür gegeben sein müssen. Die Niederlande, die Schweiz und Deutschland versuchen angesichts ähnlicher gesundheitsökonomischer und demographischer Herausforderungen seit Mitte der neunziger Jahre, durch mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen ihre Gesundheitssysteme zu reformieren und zukunftsfest zu machen. Verwirklicht werden soll für alle Bürger_innen bei gleichem Zugang eine qualitativ hochwertige, bedarfsgerechte, ökonomisch effiziente Versorgung mit Gesundheitsgütern und -dienstleistungen. Stand zunächst der Versicherungsmarkt mit freier Kassenwahl für alle Versicherten und das Ziel der Beitragssatzstabilisierung im Mittelpunkt der gesetzgeberischen Reformaktivitäten, so akzentuiert das gegenwärtige Interesse die wettbewerblichen Potenziale des Leistungs- und Behandlungsmarktes. Eine möglichst gute, an den Präferenzen der Versicherten orientierte Versorgung bei möglichst stabilen Beitragssätzen soll im Spannungsfeld von sozialem Ausgleich und Wettbewerb sichergestellt werden. Im Vergleich scheinen die Niederlande und die Schweiz trotz aller pfadabhängigen Besonderheiten bei der Umsetzung und Entfaltung wettbewerblicher Potenziale mutiger und entschlossener zu sein als ihr deutscher Nachbar. In beiden Ländern wurde die ordnungspolitisch nicht kohärente Dualität gesetzlicher und privater Krankenversicherungsträger zugunsten eines einheitlichen Versicherungsmarktes mit gleichen Bedingungen für alle Versicherungsträger überwunden. Keinesfalls wird dadurch eine bestimmte Rechtsform präjudiziert: In der Schweiz konkurrieren private Krankenversicherungen in unterschiedlicher Rechtsform, in den Niederlanden häufig Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit oder privatrechtliche Stiftungen um die Gunst der Versicherten. Darüber hinaus findet ein Wettbewerb auf dem Markt für private Zusatzversicherungen statt, die häufig vom gleichen Versicherungsträger angeboten werden. Es besteht unabhängig vom Einkommen eine Versicherungspflicht für alle Bürger_innen. Der Sozialausgleich erfolgt über Zuschüsse an einkommensschwache Versicherte aus dem allgemeinen Staatshaushalt, in der Schweiz auf kantonaler Ebene. Ein konsequenter Kontrahierungszwang verbunden mit einem Diskriminierungsverbot sollen dafür Sorge tragen, dass die Kassenwahlfreiheit für alle Versicherten nicht nur de iure, sondern auch de facto besteht. Ein entsolidarisierender Wettbewerb um gute Risiken soll ähnlich wie in Deutschland durch einen mehr (Niederlande) oder weniger (Schweiz) ausdifferenzierten Risikostrukturausgleich ausgeschlossen werden. Insofern haben beide Länder den Schritt zu einer umfassenden, flächendeckenden Bürgerversicherung mit einer einheitlichen Basisversicherung bereits vollzogen, ohne dass dies zu sozialen Verwerfungen geführt hätte. Auch für Deutschland scheint die Einführung einer Bürgerversicherung auf mittlere Sicht empfehlenswert. In einem sozialen Krankenversicherungssystem sollte zur Vermeidung einer Zwei-Klassen-Medizin eine möglichst weitgefasste Basisversorgung private Zusatzversicherungen allerdings überflüssig werden lassen. Soll sich der Wettbewerb nicht auf einen Zusatzbeitragssatzvermeidungswettbewerb beschränken, so müssen über den Beitragssatz hinaus weitere Wettbewerbsparameter ausgewiesen werden. Vergleiche mit den Niederlanden und der Schweiz unterstreichen, dass insbesondere auf dem Leistungsmarkt ein erhebliches, qualitätsförderndes Potenzial zu heben ist, das in Form einer guten Versorgung auch positiv auf den Behandlungsmarkt ausstrahlt. Voraussetzung hierfür ist eine nachhaltige Ausweitung der selektivvertraglichen Gestaltungsoptionen, die es den Krankenversicherungsunternehmen im Rahmen ihrer Vertragsautonomie erlauben, nur mit den besten Ärzt_innen und Kliniken zu kontrahieren. Erfahrungen in den Niederlanden und der Schweiz zeigen, dass dabei sowohl die Kassen als Einkäufer als auch die Leistungsanbieter als Verkäufer von Gesundheitsdienstleistungen ein finanzielles Risiko für ihre unternehmerischen Entscheidungen tragen müssen. Ferner müssen beide Seiten über ausreichende wettbewerbliche Handlungs-

36 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 27 spielräume auf funktionsfähigen Märkten verfügen (OECD 2015g: 251). In Deutschland besteht allerdings gegenwärtig ein Überangebot an Ärzt_innen und Krankenhäusern, was den Kassen eine günstige Verhandlungsposition einräumen könnte. Ein unternehmerischer Bestandsschutz in Form einer lebenslangen, qualitätsunabhängigen Kassenzulassung wie es sie in Deutschland gibt, ist weder mit dem freiberuflichen Selbstverständnis niedergelassener Ärzt_innen noch mit wettbewerblichen Prinzipien vereinbar. Selbstverständlich setzt dies voraus, dass eine missbräuchliche Ausübung ungleich verteilter Macht zwischen großen Krankenversicherungsträgern und kleineren Leistungsanbietern durch einen adäquaten wettbewerblichen Ordnungsrahmen ausgeschlossen wird. Dies verlangt eine entsprechende Anpassung und Anwendung des Kartell- und Wettbewerbsrechts. Auch auf dem deutschen Leistungsmarkt könnte eine nachhaltige Ausweitung selektivvertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten ein wirksames Instrument zur Förderung einer qualitativ hochwertigen und innovativen medizinischen Versorgung sein. Erfahrungen aus der Schweiz und den Niederlanden belegen ferner, dass Managed Care Wahlmodelle häufig in Verbindung mit selektivvertraglichen Optionen ein erhebliches Effizienz- und Kosteneinsparungspotenzial aufweisen. Die zentrale Rolle eines Gatekeepers als steuernder Lotse im hochkomplexen Gesundheitssystem, sei es in Gestalt von Hausärzt_innen, Ärztenetzwerken oder telemedizinischen Anwendungen führt nicht nur zu Kosteneinsparungen durch unnötige Über- und Fehlbehandlungen, sondern fördert zugleich auch eine am Patient_innen orientierte bedarfsund präferenzgerechtere Versorgung. Der Besuch eines Hausarztes bzw. einer Hausärztin als Gatekeeper muss dabei nicht wie in den Niederlanden obligatorisch sein und die grundsätzlich freie Arztwahl der Versicherten einschränken. In der Schweiz können sich die Versicherten im Rahmen von Wahltarifen für diverse MC Modelle entscheiden; sie müssen es aber nicht. Für Deutschland bedeutet dies, dass die sozialpolitisch hart erkämpfte freie Arztwahl für alle Versicherten nicht zur Disposition stehen muss. MC Modelle eröffnen den Versicherten größere Wahlmöglichkeiten, die sich für sie in niedrigeren Beitragssätzen, besserer Qualität, mehr Service oder besserer Orientierung auszahlen können. Die deutschen Hausarztmodelle weisen im Vergleich zur Schweiz oder den Niederlanden in dieser Hinsicht noch ein erhebliches Verbesserungspotenzial auf, da für die eingeschriebenen Versicherten ihr einziger Vorteil derzeit in einem vagen Weiterbildungsversprechen der Hausärzt_innen liegt. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Schweiz und die Niederlande im Vergleich zu Deutschland die wettbewerbliche Gestaltung insbesondere im Verhältnis zwischen Krankenversicherern und Leistungsanbietern entschlossener in Angriff nehmen. Hilfreich war in beiden Ländern die Einführung eines einheitlichen Versicherungsmarktes, der die Dualität von PKV und GKV überwand. Die in dieser Studie herangezogenen Referenzländer zeigen den gesundheitspolitischen Entscheidungsträger_innen in Deutschland, dass in den Bereichen selektivvertragliche Optionen, integrierte Versorgung und MC Modelle, ggf. einschließlich der Möglichkeit zum Abschluss von Kollektiv- bzw. Gruppenverträgen zwischen Arbeitgeber_innen, Gewerkschaften und Krankenkassen, noch ein erhebliches wettbewerbliches Gestaltungsund Entscheidungspotenzial liegt. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie werden als Handlungsempfehlungen für den weiteren gesundheitspolitischen Diskurs in Deutschland in der nachfolgenden Abbildung abschließend zusammengefasst. Abbildung 5 Zusammenfassende Handlungsempfehlungen Konsequente Erfüllung notwendiger Wettbewerbsvoraussetzungen, einschließlich der Möglichkeit eines Scheiterns von Marktakteuren, verbesserter Transparenz und der Anwendbarkeit eines systemadäquaten Kartell- und Wettbewerbsrechts; Verbesserte Kooperation von Leistungsanbietern untereinander und von Leistungsanbietern mit Versicherern, insbesondere im Rahmen der Integrierten Versorgung; Überwindung der Dualität von GKV und PKV; Differenzierung des Versicherungsmarktes (allgemeine umfassende Grundversorgung und privater Zusatzversicherungsmarkt); Stärkung der individuellen Wahl- und Gestaltungsoptionen bei Versicherungsverträgen in der Grundversorgung; Öffnung des Gesundheitsmarktes für innovative Versicherungsmodelle, insbesondere im Bereich Managed Care; Ausweitung der selektivvertraglichen Gestaltungsoptionen. Quelle: Eigene Darstellung.

37 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 28 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Wettbewerbsfelder im Gesundheitswesen Abbildung 2: Entwicklung Gesundheitsausgaben ( , prozentualer Anteil BIP) Abbildung 3: Entwicklung von Managed Care Modellen in der Schweiz ( ) Abbildung 4: Finanzierung des niederländischen Gesundheitssystems Abbildung 5: Zusammenfassende Handlungsempfehlungen

38 DIE ROLLE DES WETTBEWERBS IM GESUNDHEITSWESEN WISO DISKURS 29 Abkürzungsverzeichnis AMNOG Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes CHF Schweizer Franken DRG Diagnosis Related Groups (diagnosebezogene Fallgruppen) FMC Forum Managed Care GKV Gesetzliche Krankenversicherung GKV-WSG Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung GKV-VSG Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung HMO Health Maintenance Organizations IGEL Individuelle Gesundheitsleistungen MC Managed Care Morbi-RSA Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich MVZ Medizinische Versorgungszentren OECD Organisation for Economic Co-operation and Development PKV Private Krankenversicherung PPO Preferred Provider Organizations

39 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Wirtschafts- und Sozialpolitik 30 Literaturverzeichnis Akerlof, George 1970: The market for Lemons: Quantitative Uncertainty and Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics 84, Cambridge, MA/USA, S Beck, Konstantin 2013: Wettbewerbserfahrungen aus der Schweiz, in: Jacobs, Klaus; Schulze, Sabine: Die Krankenversicherung der Zukunft. Anforderungen an ein leistungsfähiges System, Berlin, S Beck, Konstantin; Käser, Urs; Trottmann, Maria; Rotz, Stefan von 2009: Effizienzsteigerung dank Managed Care?, in: Datamaster Edition 5, Oktober 2009, Luzern. 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42 Impressum: 2016 Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik Godesberger Allee 149, Bonn Fax , Bestellungen/Kontakt: Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert- Stiftung. Eine gewerbliche Nutzung der von der FES herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustimmung durch die FES nicht gestattet. ISBN: Titelmotiv: plainpicture/westend61 Gestaltungskonzept:

43 ABTEILUNG WIRTSCHAFTS- UND SOZIALPOLITIK WEITERE VERÖFFENTLICHUNGEN ZUM THEMA Zukunft der Pflegepolitik Perspektiven, Handlungsoptionen und Politikempfehlungen Gute Gesellschaft soziale Demokratie 2017 plus 2015 Zukunft der medizinischen Rehabilitation WISO DISKURS 17/2015 Ein nordisches Erfolgsmodell im Wandel Das System der betrieblichen Altersvorsorge in Schweden WISO DIREKT 30/2015 All-inclusive-Pflege aus Polen in der Schattenzone: Ergebnisse von Interviews mit polnischen Pflegekräften, die in deutschen Privathaushalten beschäftigt sind WISO DIREKT 2015 Auf der Highroad - der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem: ein Vergleich zwischen fünf nordischen Ländern und Deutschland, 2. aktualisierte und überarbeitete Auflage WISO DISKURS 2015 Psychisch krank in der Pflege: psychische Belastungen durch den Beruf, Möglichkeiten zu Prävention und Rehabilitation WISO DIREKT 2015 Zwischen Transparenz und Geheimhaltung: was bedeutet TTIP für die Veröffentlichungspraxis klinischer Studien im Arzneimittelbereich? WISO DIREKT 2015 Soziale Sicherung unter dem Brennglas: Altersarmut und Alterssicherung bei Beschäftigten im deutschen Sozialsektor WISO DISKURS 2015 Between Transparency and Secrecy: How does TTIP Impact the Publication Policy of Clinical Studies in the Pharmaceuticals Field? WISO DIREKT 2014 Kommunale Sozialpolitik: Handlungsoptionen bei engen Spielräumen WISO DISKURS 2014 Wo, bitte, ist denn hier der Ausgang?: Ruhestandsoptionen für gesundheitlich beeinträchtigte Beschäftigte und Langzeitarbeitslose ein Beitrag zur Diskussion um die Flexi-Rente WISO DISKURS 2014 Haushaltsnahe Dienstleistungen durch Migrantinnen in Familien mit Pflegebedürftigkeit: 24 Stunden verfügbar private Pflege in Deutschland WISO DIREKT 2014 Volltexte dieser Veröffentlichungen finden Sie bei uns im Internet unter

44 Governance im Gesundheitswesen: Systemintegration zwischen Verhandlung und hierarchischer Steuerung Erscheint in: Schimank, Uwe/Lange, Stefan (Hrsg.): Governance und gesellschaftliche Integration. Opladen: Leske + Budrich 2003 Nils C. Bandelow 1 Einleitung Die Integration verschiedener Teilsysteme der modernen Gesellschaft (Systemintegration) stand in den letzten Jahrzehnten oft nur am Rande gesellschaftswissenschaftlicher Problemanalysen (Schimank 2000: 449; Schimank/Lange 2002). Das Gesundheitssystem stellt hier einen Ausnahmefall dar: Die systemintegrativen Schwierigkeiten - vor allem im Verhältnis zum Wirtschaftssystem - werden zunehmend als Kernproblem der deutschen Gesellschaft gesehen, wie im zweiten Abschnitt gezeigt wird. Im dritten Abschnitt werden die Ursachen dieser Integrationsprobleme und mögliche systemtheoretische Therapieoptionen diskutiert. Die Probleme der Systemintegration des Gesundheitswesens hängen eng mit den speziellen Steuerungsmechanismen in diesem Bereich zusammen. Im vierten Abschnitt werden daher die institutionellen Ordnungen der deutschen Gesundheitspolitik vorgestellt und im Hinblick auf ihren Beitrag für die Erklärung der Integrationsprobleme des Gesundheitssystems analysiert. Dabei wird gezeigt, dass die vorherrschenden Verhandlungsstrukturen im Gesundheitswesen aus verschiedenen Gründen zu den besonderen Integrationsproblemen beitragen. Daher werden im fünften Abschnitt die Präferenzgrundlagen und Konstellationen der wichtigsten korporativen Akteure im Hinblick auf die Möglichkeiten einer Problemlösung durch hierarchische Steuerung dargestellt. Der abschließende Ausblick diskutiert die Chancen und Probleme einer grundlegenden Umgestaltung des Gesundheitssystems mit dem Ziel einer langfristigen Reduktion der Integrationsprobleme. Leitfrage des Beitrags ist somit, ob und wie sich die Integrationsprobleme des deutschen Gesundheitswesens in Zukunft lösen (lassen) werden. 2 Integrationsprobleme des Gesundheitssystems Das wichtigste Problem moderner Gesellschaften im Bereich der Systemintegration ist die Dominanz des Wirtschaftssystems über andere Teilbereiche der Gesellschaft. Insbesondere der Wohlfahrtsstaat wird zunehmend durch ökonomische Zwänge dominiert. Diese

45 Entwicklung hängt in vielen Bereichen des Wohlfahrtsstaats mit Prozessen der Entgrenzung und Globalisierung zusammen. Diese Prozesse sind durch eine Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet: Die Globalisierung der Wirtschaft ist mit einem Abbau von Spielräumen anderer Teilsysteme auf nationaler Ebene verbunden, ohne eine zeitgleiche Neugewinnung der Eigenständigkeit dieser Teilsysteme auf transnationaler oder supranationaler Ebene zu ermöglichen (vgl. Schimank/Lange 2002). Besonders eindrucksvoll wurde dieses Problem Mitte der 1980er Jahre durch Fritz Scharpf am Beispiel der Europäischen Integration gezeigt: Die Vollendung des Binnenmarktes durch einen Abbau nationaler Handelsbeschränkungen (negative Integration) konnte durch einfache Entscheidungen supranationaler Institutionen vorangetrieben werden. Die Formulierung neuer supranationaler Regeln (positive Integration) zur Sicherung der Ziele - etwa des Gesundheitssystems - setzte dagegen intergouvernementale Abstimmungen voraus, die in den gegebenen Institutionen an den jeweiligen Interessenkonflikten zwischen den Regierungen scheiterten (vgl. Scharpf 1988). Erst in den 1990er Jahren werden auch Tendenzen deutlich, die in einzelnen Feldern Maßnahmen positiver Integration ermöglichen und so der Tendenz einer ökonomischen Überintegration der betroffenen Systeme entgegenwirken (Eichener 1996, Scharpf 1998). Derartige Möglichkeiten, auf EU-Ebene europäische Regelungen der Dominanz ökonomischer Zwänge entgegenzusetzen, sind im Gesundheitswesen aber nach wie vor begrenzt. Vor allem die unterschiedlichen Strukturen der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten stehen hier Einigungen entgegen (vgl. Bandelow 1998: ; Schmid 2002). Gleichzeitig ist gerade in Deutschland das Gesundheitssystem vom Wirtschaftssystem abhängig. Die über 200 Milliarden Euro, die in Deutschland jährlich für gesundheitliche Sachleistungen ausgegeben werden, werden zum größten Teil über Beiträge zur Sozialversicherung finanziert. Das wichtigste Element des deutschen Gesundheitswesens ist die bereits 1883 eingeführte gesetzliche Krankenversicherung (GKV), die etwa 90 Prozent der Bevölkerung als Pflichtmitglieder, mitversicherte Familienangehörige, Rentner oder freiwillige Mitglieder betreut. Die insgesamt knapp 300 gesetzlichen Krankenkassen leiten einen großen Teil der Gesundheitsausgaben von privaten Haushalten und Arbeitgebern an die jeweiligen Leistungserbringer (Ärzte, Krankenhäuser, Apotheker, Pharmaindustrie etc.) weiter. Diese Konstruktion der Finanzierung von Gesundheitsleistungen über Lohnnebenkosten führt zu einer engen Abhängigkeit von Wirtschafts- und Gesundheitssystem. Der Beitragssatz der Krankenkassen hängt dadurch nicht nur von den Ausgaben, sondern auch von der Höhe der beitragspflichtigen Einkommen (Grundlöhne) ab. Diese Überintegration des Gesundheitssystems mit dem Wirtschaftssystem ist einer der wichtigsten Gründe für die Finanzierungsprobleme des deutschen Gesundheitswesens. Zwischen 1980 und 2000 ist der relative Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt

46 (BIP) nahezu konstant. Seit 1996 ist dieser Anteil sogar von 7,0 Prozent auf 6,5 Prozent zurückgegangen (vgl. unten Tabelle 1). Dennoch hat sich der durchschnittliche Beitragssatz der Krankenkassen in den letzten Jahrzehnten erhöht (vgl. Übersicht 1). Übersicht 1: Beitragssatzentwicklung der GKV und wichtige Bestimmungsfaktoren KVG 1977 KVEG/KVKG 1981 GRG 1988 GSG NOG 1997 GRK 2000 Wichtige Kostendämpfungsgesetze KVKG: Krankenversicherungs- Kostendämpfungsgesetz KVEG: Kostendämpfungs- Ergänzungsgesetz KHKG: Krankenhaus- Kostendämpfungsgesetz GRG: Gesundheitsreformgesetz GSG: Gesundheitsstrukturgesetz NOG: GKV-Neuordnungsgesetz GRK: Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr Veränderung des BIP (real) in % -2-4 Arbeitslosenquote Durchschnittlicher Beitragssatz zur GKV Quelle: Bandelow 2002: 117. Der Anstieg der Krankenkassenbeiträge ist vor allem in den 1980er Jahren wesentlich auf Entwicklungen des Wirtschaftssystems zurückzuführen. Niedrige oder negative wirtschaftliche Wachstumsraten und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit erzeugen daher Finanzierungsprobleme der Krankenkassen. Das Problem der Massenarbeitslosigkeit spiegelt sich unter anderem in der unbereinigten Lohnquote als Grundlage für die Krankenkasseneinnahmen wider. So ist zwischen 1982 und 1990 die Lohnquote um mehr als sechs Prozent gefallen (vgl. BMA 2001). Bei einer Lohnquote in Höhe der frühen 1980er Jahre wären die Kassenbeitragssätze heute rechnerisch um etwa zwei Prozent niedriger (Reiners 1999: 50). Die Möglichkeiten des Gesundheitssystems, auf sinkende Grundlöhne mit Beitragssatzsteigerungen zu reagieren, sind aber gleichzeitig ebenfalls durch das Wirtschaftssystem begrenzt. So wird davon ausgegangen, dass eine Erhöhung der durchschnittlichen GKV-Beitragssätze um einen Prozentpunkt über Arbeitsplätze in der gewerblichen Wirtschaft kostet (SVRKAiG 1996: 242). Finanzierungsprobleme des Gesundheitssystems, die durch das Wirtschaftssystem ausgelöst werden, können daher in den gegebenen Strukturen nicht immer vom Gesundheitssystem an das Wirtschaftssystem zurückverlagert werden, ohne problemverschärfende Rückkoppelungsschleifen auszulösen,

47 bei denen höhere Arbeitslosenquoten zu geringeren GKV-Einnahmen führen, diese dann Beitragssatzsteigerungen auslösen und dadurch über erhöhte Lohnnebenkosten wiederum die Arbeitslosenquoten erhöht werden. Dadurch können Gesundheitssystem und Wirtschaftssystem sich durch ihre zu enge Verflechtung gegenseitig vor unlösbare Probleme stellen. Bisher war es zwar weitgehend möglich, die Ziele des deutschen Gesundheitswesens (umfassende gesundheitliche Versorgung für die gesamte Bevölkerung) weitgehend zu erfüllen. Die zunehmenden Pleiten einzelner Arztpraxen und insbesondere die drohenden Finanzierungskrisen der Krankenhäuser scheinen aber eine uneingeschränkte Funktion des Gesundheitswesens zunehmend in Frage zu stellen (vgl. Bandelow 2002). Diese Probleme drohen sich im Zuge der demographischen Entwicklung noch zu verschärfen. Insbesondere bis zum Jahr 2030 gehen Prognosen von einem deutlichen Anstieg des Anteils älterer Menschen in Deutschland aus. Die Auswirkungen dieser Veränderung für die Ausgabenentwicklung des Gesundheitswesens sind zwar in der Wissenschaft umstritten, da nicht klar ist, ob allein ein höheres Lebensalter auch zu höheren Gesundheitsausgaben führen muss. Dafür sprechen zwar Vergleiche der Gesundheitsausgaben zwischen jüngeren und älteren Menschen. Auf der anderen Seite könnte der technische Fortschritt aber auch dazu führen, dass die Gesundheit älterer Menschen sich wesentlich verbessert und dadurch auch Einsparungen möglich sind. Die Auswirkungen auf die Ausgabenentwicklung hängen daher weniger von der Altersstruktur ab, als vielmehr von der Entwicklung der Todesursachen. Ein großer Teil der Gesundheitsausgaben wird in den Jahren vor dem Tod notwendig. Dabei sind bestimmte Sterbeursachen (etwa Krebserkrankungen, insbesondere in Verbindung mit Multimorbidität) besonders kostenintensiv (vgl. dazu detailliert Hof 2001). Unabhängig von den Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Ausgabenentwicklungen des Gesundheitssystems beeinflusst die Altersstruktur der Bevölkerung aber auch die Finanzierungsgrundlagen der Krankenversicherung: Der Anteil abhängig Beschäftigter ist unter älteren Menschen deutlich geringer als unter jungen Menschen, sodass im Rahmen der gegenwärtigen Finanzierungsstrukturen eine Verschärfung der Finanzierungskrise des Gesundheitssystems auch dann zu erwarten ist, wenn die Ausgaben sich nicht wesentlich erhöhen (vgl. Bandelow 2002). Neben der allgemeinen Ressourcenabhängigkeit vom Wirtschaftssystem weist das Gesundheitssystem über Teilbereiche Überlappungen zu anderen Teilsystemen auf (vgl. Mayntz/Rosewitz 1988: ). Diese Überlappungen betreffen (1) das politischadministrative System (über die Gesundheitsämter, die institutionell dem politischadministrativen System, funktionell aber auch dem Gesundheitssystem zuzuordnen sind), (2) das Wissenschaftssystem (über die medizinische Forschung) und (3) das Wirtschaftssystem

48 (über die pharmazeutischen und die medizintechnischen Industrien). Die genannten Überlappungsbereiche bergen jeweils Konflikte, da die unterschiedlichen Logiken der verschiedenen Systeme integriert werden müssen. 3 Ursachen der Integrationsprobleme und systemtheoretische Therapieoptionen Diese bisher skizzierten Integrationsprobleme vor allem zwischen Wirtschafts- und Gesundheitssystem sind Ausgangspunkt einer Vielzahl von Steuerungsversuchen des politischen Systems. Seit 1977 versuchte der Gesetzgeber mit insgesamt 18 Reformpaketen die Strukturen des Krankenversicherungssystems wesentlich zu verändern. Keines dieser Reformpakete konnte aber bisher die Abhängigkeit des Gesundheitswesens von wirtschaftlichen Entwicklungen überwinden. Das Gesundheitswesen bietet somit nicht nur ein klassisches Beispiel für zunehmende systemintegrative Probleme, sondern auch für die Schwierigkeiten, diese Probleme durch politische Maßnahmen zu beheben. Diese Schwierigkeiten werden in der politikwissenschaftlichen Theorie auf unterschiedliche Zusammenhänge zurückgeführt. Dabei hängt die jeweilige Einschätzung der Möglichkeiten zur Bewältigung dieser Probleme wesentlich mit der gewählten Erklärungsperspektive zusammen. Aus systemtheoretischer Perspektive kann sich zunächst ein prinzipieller Pessimismus gegenüber Versuchen der politischen Lösung der Probleme des Gesundheitswesens ergeben. Danach hat sich Mitte des 19. Jahrhunderts das Gesundheitswesen als autopoietisch operierendes Teilsystem ausdifferenziert (vgl. zur historischen Entwicklung Mayntz/Rosewitz 1988). Als selbstreferentielles Teilsystem erzeugt es nicht nur seine Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen es besteht, fortlaufend selbst (Luhmann 1997: 65). Da es sich in allen Operationen auf sich selbst bezieht, ist es wie andere Teilsysteme prinzipiell nicht von außen steuerbar. Das Gesundheitswesen bearbeitet alle Umwelteinflüsse auf Grundlage seines spezifischen Codes krank/gesund. Eine Besonderheit des Systems liegt darin, dass nicht der positive Wert gesund, sondern die negative Codierung krank das Prozessieren des Systems auslöst (vgl. Hartmann 2002: 26). Der positive Wert ist dagegen unbestimmt und nie endgültig zu erreichen. In dieser Besonderheit des Krankheitssystems ist die Möglichkeit einer Verselbständigung angelegt, indem das System unbegrenzt steigende Ressourcen beansprucht: Die Ansprüche auf Hinausschieben des Todes, auf Festhalten der Jugend, auf Heilung von Krankheiten, auf Linderung oder Betäubung von Schmerzen haben einen festen Rückhalt am Körper des Menschen. Sobald ihre Erfüllung möglich ist, läßt sich ihre Nichterfüllung kaum mehr begründen (Luhmann 1983a: 43).

49 Aus dieser Sicht ist also nicht die Überintegration, sondern vielmehr die erfolgreiche Differenzierung des Subsystems das zentrale Problem der Gesundheitspolitik. Das Gesundheitswesen operiert zwar äußerst erfolgreich bei der Erfüllung seines Ziels, kann aber politisch nicht zur Berücksichtigung der negativen Folgewirkungen eines zu hohen Ressourcenverbrauchs für andere Subsysteme gezwungen werden (vgl. Hartmann 2002: 13-14). In systemtheoretischen Analysen werden prinzipiell drei Therapievorschläge zur Korrektur der Verselbständigung des Gesundheitswesens diskutiert (vgl. Rosewitz/Schimank 1988: ). Ein politisch vor allem in den 1990er Jahren genutzter Ansatz ist der Versuch einer Globalsteuerung durch Verknappung der Ressourcen des Gesundheitswesens. Dieser Ansatz liegt den sektoralen und globalen Budgetierungsversuchen der Gesundheitsausgaben zu Grunde, die zwischen 1992 und 2003 in einer Vielzahl von Gesetzentwürfen und Gesetzen Anwendung fanden und finden. Der Erfolg dieser Maßnahmen ist auf den ersten Blick durchaus beachtlich: Es ist zumindest gelungen, den Anstieg des Ressourcenverbrauchs des Gesundheitswesens in den letzten Jahren deutlich zu bremsen. Die Anteile der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt sind in den letzten Jahren kaum noch gestiegen. Die Ausgabenanteile der Gesetzlichen Krankenversicherung als wichtigstes Element des Krankheitssystems sind sogar nahezu stabil (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Anteile der GKV-Ausgaben am BIP und Anteile der gesamten Gesundheitsausgaben am BIP in Deutschland Jahr GKV* 6,1 5,9 6,5 6,7 6,6 6,9 6,9 7,0 6,6 6,7 6,6 6,5 gesamt** 8,8 8,7 9,1 9,9 9,9 10,2 10,6 10,9 10,7 10, ,6 * Anteile der GKV-Ausgaben am BIP (Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, eigene Berechnungen). ** Anteile der gesamten Ausgaben für gesundheitliche Sachleistungen am BIP (Quelle: OECD). Die Budgetierung führt aber nicht dazu, dass eine präventive Abwägung zwischen den effizientesten, demokratisch gewollten und ethisch gewünschten Verwendungen der verbleibenden Mittel möglich wäre. Das Subsystem Krankheit wird durch begrenzte Mittel lediglich bei seinem unveränderten Streben nach maximaler Gesundheit gebremst und schlimmstenfalls vollständig gelähmt. Eine globale Budgetierung kann daher dazu führen, dass nicht die unerwünschten Wirkungen eines uneffizient strukturierten Gesundheitswesens, sondern die erwünschten Wirkungen der effektiven Heilung von Krankheiten gebremst werden (vgl. Rosewitz/Schimank 1988: 302).

50 Eine ebenfalls bereits von Luhmann vorgeschlagene und weniger blinde Therapie zur Lösung von Verselbständigungsprozessen liegt in der Beobachtung des eigenen Systems unter Berücksichtigung der möglichen negativen Folgewirkungen des Systems für andere Teilsysteme ( Reflexion, vgl. Luhmann 1997: 757). Das Krankheitssystem zeigt bisher vor allem aufgrund des unbestimmten Gesundheitsbegriffs kaum erfolgreiche Ansätze einer Anpassung der eigenen Operationen an die Bedürfnisse anderer Subsysteme (vgl. Luhmann 1983b). Mögliche zukünftige Lösungsansätze werden in der jüngeren Literatur vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit einer umfassenden Zweitcodierung zur Ergänzung des kaum reflexionsfähigen Gesundheitsbegriffs diskutiert. Dazu könnte das Krankheitssystem gezielt Randbereiche (etwa private Wellnessbereiche ) integrieren. Auf diesem Weg ließe sich ergänzend zum Kriterium der Krankheit etwa das Kriterium der Lebensqualität in die Operationen des Gesundheitswesens integrieren. Die Beurteilung möglicher Anlässe für die Erbringung von Leistungen des Gesundheitswesens könnte stärker differenziert und an gesellschaftliche Bedürfnisse angepasst werden (vgl. Hartmann 2002: 62-63; 254; ). Der Vorschlag einer Verbesserung der Reflexionsmöglichkeiten des Gesundheitssystems durch Integration anderer Bereiche ist allerdings gegenwärtig eher abstrakt und müsste vielfältige rechtliche und politische Hindernisse überwinden. Es ist durchaus fraglich, ob eine daraus möglicherweise resultierende Befreiung der Ärzte von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Bekämpfung jeder Krankheit rechtlich durchsetzbar ist. Eine solche Strategie wäre auch politisch umstritten. Unter anderem ist sie mit dem Risiko verbunden, dass gesellschaftlich nicht akzeptierte Kriterien (etwa das Alter von Patienten) über die Bereitstellung medizinischer Hilfe entscheiden. Vor allem in Deutschland dürfte die Erfahrung mit dem Missbrauch von Teilen des Gesundheitswesens gegen die Interessen der Patienten während des Nationalsozialismus dazu beitragen, dass die einfache Codierung des Gesundheitssystems in absehbarer Zeit nicht preisgegeben wird. Bei aller Ineffizienz bietet diese einfache Codierung doch zumindest gerade durch die Blindheit gegenüber den Bedürfnissen anderer Teilsysteme einen Schutz vor den möglichen ethischen Problemen einer Zweitcodierung. Diese ethischen Probleme könnten etwa dann entstehen, wenn nicht mehr allein die medizinisch-technischen Möglichkeiten, sondern auch andere Kriterien über einen Ressourcenverbrauch im Gesundheitswesen entscheiden. Dies wird insbesondere dann problematisch, wenn nicht nur eine Verbesserung der Gesundheit, sondern letztlich auch die Dauer des Lebens der Patienten von einer solchen Entscheidung (die dann nicht mehr vom Systemcode vorgegeben, sondern womöglich von Individuen mit größerem Entscheidungsspielraum getroffen werden müsste) abhinge. Mit der Folge einer potentiellen Entscheidung über Leben und Tod wird also ein Spezifikum der Leistungen des Krankheitssystems relevant. Diese ultimative Bedeutung der Entscheidung über eine Leistungserbringung des Gesundheitssystems führt dazu, dass jede Erweiterung von

51 Handlungsspielräumen (die aus einer stärkeren Integration von Subsystemen resultieren können) auf ethische und religiöse Hindernisse stößt. Solange hierzu keine allgemein akzeptierten Lösungen angeboten werden, ist daher eine Verbesserung der Reflexionsmöglichkeiten des Gesundheitswesens politisch nicht durchsetzbar. Der dritte Therapievorschlag ist die vor allem von Willke und Teubner empfohlene Strategie der Kontextsteuerung (vgl. Rosewitz/Schimank 1988: 303; Hartmann 2002: 61-62). Das Konzept gibt die Annahme Luhmanns auf, dass gesellschaftliche Teilsysteme nicht hierarchisch von außen gesteuert werden können. Kontextsteuerung beinhaltet, dass Verhandlungssysteme und -verfahren geschaffen werden, die einen Rahmen für eine autonome Selbstregulation des Subsystems bereitstellen. Der Staat gibt also keine eigenen Kriterien für das Gesundheitswesen vor, sondern schafft etwa Institutionen der Selbstverwaltung, die selbständig eine Berücksichtigung der Bedürfnisse anderer Teilsysteme erfüllen sollen. Durch das Ziel der externen Gestaltung systemischer Selbststeuerungspotentiale integriert das Konzept der Kontextsteuerung eine Ebene unterhalb der teilsystemischen Orientierungshorizonte. Die Potentiale und bisherigen Erfolge der Kontextsteuerung spiegeln sich in den konkreten Entscheidungsstrukturen des Subsystems wider. Dadurch wird der analytische Fokus von der grundlegenden Codierung des Subsystems (dem Wollen der Akteure) auf die jeweils geschaffenen institutionellen Ordnungen (das Sollen der Akteure) und auch die spezifischen Akteurkonstellation (das Können der Akteure) erweitert (vgl. Schimank 1996). Dies leitet zu einer empirischen Analyse der Steuerungsprobleme des Gesundheitssystems über, wie sie im Forschungsprogramm des akteurzentrierten Institutionalismus angestrebt wird (vgl. dazu auch Mayntz/Scharpf 1995; Scharpf 2000). 4 Verhandlung als zentrales institutionelles Ordnungselement Ein verbreiteter Erklärungsansatz - sowohl für die Leistungen als auch für die Probleme des deutschen Gesundheitssystems - basiert auf den spezifischen Institutionen der Entscheidungsfindung in diesem Politikfeld. Diese Institutionen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass ausgewählte Verbände der Interessengruppen in besonderer Weise an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Dazu werden entweder Entscheidungskompetenzen unter staatlicher Aufsicht aber ohne direkte Beteiligung des Staates von Verbänden wahrgenommen (Selbstverwaltung) oder Entscheidungen im Rahmen dauerhafter Formen der Einbindung von hierarchisch strukturierten Spitzenverbänden der Interessengruppen in die staatliche Politik getroffen (Korporatismus). In beiden Fällen führen diese Strukturen dazu, dass Entscheidungen auf Verhandlungen basieren. Im Vergleich zu anderen Idealtypen der Entscheidungsfindung (Hierarchie,

52 Mehrheit und Los) weisen Verhandlungen allgemeine Vorteile und Probleme auf (vgl. Eberlein/Grande 2003). Als wichtigster Vorteil von Verhandlungen wird in der Theorie gesehen, dass Entscheidungen im Konsens getroffen werden können. Solche Entscheidungen sind besonders legitim, da sich niemand gegen seinen Willen unterwerfen muss und daher besonders gut durchsetzbar. Auf der anderen Seite ist es oft schwierig und aufwendig, in Verhandlungssystemen überhaupt zu Entscheidungen zu kommen. Verhandlungssysteme sind daher selten innovativ. Außerdem sind Verhandlungssysteme nicht geeignet, um Umverteilungsziele zu erreichen (vgl. auch Scharpf 2000). Im Gesundheitssystem ist insbesondere das Problem einer Entscheidungsfindung durch Konsens bei Umverteilungsfragen besonders relevant. Außerdem kommt der theoretische Vorteil einer besonderen Legitimität von Verhandlungslösungen angesichts der spezifischen Strukturen der Verhandlungsinstitutionen im Gesundheitswesen kaum zum Tragen. Im Folgenden werden die wichtigsten Verhandlungsgremien des deutschen Gesundheitssystems vorgestellt und im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die genannten Probleme der Systemintegration diskutiert. Die Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen ist zumindest im ambulanten Bereich nicht das Ergebnis einer gezielten Übertragung von Kompetenzen an Verbände, sondern die Folge der historischen Entwicklung des Gesundheitswesens, das bereits im Kaiserreich auch auf privaten Initiativen beruhte (vgl. Hartmann 2002: 70). Heutige Selbstverwaltung im Gesundheitswesen beinhaltet, dass die Krankenkassen und ihre Verbände sowie die Verbände der Leistungsanbieter (insbesondere der Ärzte und Zahnärzte, der Apotheker und der Krankenhausträger) ihre Aufgaben im Rahmen staatlicher Vorgaben und unter staatlicher Aufsicht in Eigenverantwortung erledigen können (vgl. zum folgenden Bandelow 1998: 22-26). Die Vertretung der Krankenkassen wird seit 1996 primär durch hauptamtliche Vorstände der Kassen sowie der (nach Kassenarten getrennten) Krankenkassenverbände wahrgenommen. Die Vorstände der Kassen werden durch Verwaltungsräte bestellt, deren Funktion denen von Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften ähnelt. Die Verwaltungsräte bestehen aus Vertretern der Versicherten und (in der Regel) der Arbeitgeber. Die faktische demokratische Legitimation der Versichertenvertreter ist aber gering: Sie werden entweder bei geringer Wahlbeteiligung in Sozialwahlen gewählt oder ohne eigentlichen Wahlakt angesichts fehlender Alternativkandidaten bestimmt ( Friedenswahlen ). Das Resultat dieser Verfahren ist üblicherweise, dass die Versichertenvertreter von den Gewerkschaften benannt werden und als Gewerkschaftsvertreter auftreten. Die Organe der Kassenselbstverwaltung präsentieren sich somit meist nicht als einheitliche Akteure, sondern umfassen unterschiedliche Interessengruppen: einerseits die in den Verwaltungsräten vertretenen Tarifparteien und andererseits die hauptamtlichen Vertreter der Kassen(arten).

53 Diesen heterogenen Selbstverwaltungsorganen der Kassen stehen Verbände der Anbieter von Gesundheitsleistungen gegenüber. Bei den Verbänden der Leistungsanbieter hat sich eine duale Struktur entwickelt: Auf der einen Seite stehen freie Interessenverbände (etwa der Hartmannbund oder der Marburger Bund). Auf der anderen Seite stehen vor allem im ambulanten Bereich intermediäre Verbände der Selbstverwaltung, die neben einer politischen Interessenvertretung auch hoheitliche Aufgaben wahrnehmen (z. B. Kassenärztliche Vereinigungen). Für diese Selbstverwaltungsorgane besteht Pflichtmitgliedschaft. So muss jeder Arzt, der als Vertragsarzt an der ambulanten Versorgung von Kassenpatienten partizipieren will, Mitglied der jeweiligen Kassenärztlichen Landesvereinigung sein. Ähnlich wie die Kassen und die Kassenverbände werden auch die Kassenärztlichen Vereinigungen von Vorständen vertreten, die durch gewählte Vertreterversammlungen bestimmt werden. In den Vertreterversammlungen bestehen ebenfalls interne Interessenkonflikte (etwa zwischen verschiedenen Facharztgruppen). Eine formale Aufteilung (wie zwischen den Vertretern der Tarifparteien der meisten Kassen) findet sich hier aber nicht. Zu den wichtigsten Aufgaben der Kassenverbände und der Kassenärztlichen Vereinigungen gehört die Aushandlung und Durchführung der Vergütung der niedergelassenen Ärzte. Darüber hinaus wirken die Selbstverwaltungsorgane der Ärzte und Kassen vor allem über die Bundesauschüsse der Ärzte und Krankenkassen (BAK) bzw. der Zahnärzte und Krankenkassen (BZAK) an der Selbststeuerung des Gesundheitssysystems mit. Die aus jeweils neun Vertretern der Kassen(zahn-)ärztlichen Bundesvereinigung, neun Vertretern der Spitzenverbände der Krankenkassen und drei unparteiischen Mitgliedern ( 91 und 92 SGB V) bestehenden Bundesausschüsse haben vor allem in den 1980er Jahren an Einfluss gewonnen (vgl. Döhler/Manow-Borgwardt 1992: 73-75; 91). Die jeweils zuständigen Bundesministerien konnten Widerstände gegen Kostendämpfungsmaßnahmen umgehen, indem sie die Ausarbeitung der detaillierten Maßnahmenkataloge auf die 1955 eingerichteten Bundesausschüsse verlagerten. Die Ausschüsse entscheiden heute über die konkreten Leistungskataloge, die im Rahmen des GKV-Systems abgerechnet werden dürfen. Dazu werden Richtlinien für die Krankenhausbehandlung, die ärztliche Behandlung, die Verordnung von Medikamenten und anderen Heil- und Hilfsmitteln sowie für die häusliche Krankenpflege ausgehandelt. Außerdem bestimmt der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen unter anderem die Arzneimittelgruppen, für die Festbeträge festgesetzt werden können. Die Bundesgesundheitsministerin kann den Entscheidungen der Ausschüsse innerhalb von zwei Monaten widersprechen. Tut sie das nicht, werden die Entscheidungen der Bundesausschüsse verpflichtend. Die Bundesausschüsse nehmen damit mittlerweile eine Schlüsselstellung bei der Steuerung des deutschen Gesundheitswesens ein. Die Legitimation dieser öffentlich wenig beachteten und dadurch von den nicht beteiligten Patienten und Versicherten kaum kontrollierbaren

54 Gremien ist gleichzeitig gering. Die Mitglieder werden weder direkt noch indirekt gewählt. Problematisch ist weiterhin, dass die Ausschüsse als Selbstverwaltungsorgane des ambulanten Sektors auch wesentliche Governance-Funktionen für den Arzneimittelbereich übernehmen. Dies führt unter anderem dazu, dass die Integrationsprobleme zwischen dem Gesundheitssystem und dem dadurch von den Entscheidungen mitbetroffenen, aber nicht beteiligten Wirtschaftssystem verschärft werden. Der Widerstand der Pharmafirmen, die ihre ökonomischen Interessen nicht berücksichtigt sehen, wird nicht nur im politischen System, sondern auch im Rechtssystem ausgetragen. Zumindest das OLG München folgte dabei der Argumentation der Firmen und erklärte, dass die Arzneimittelrichtlinien des BAK nicht mit dem europäischen Kartellrecht vereinbar seien (AZ: U (K) 4428/99). Ferner besteht bei der Aushandlung von Honoraren zwischen Ärzten und Kassen die Gefahr, dass die unterlegenen Kassen bzw. wenig einflussreiche Arztgruppen keine gerechte Belastung bei Einsparungen durchsetzen können. Außerdem können die Interessengruppen in den Selbstverwaltungsorganen ihre vom Staat verliehenen Kompetenzen dazu nutzen, die Umsetzung politischer Ziele zu verzögern, zu verfälschen oder ganz zu verhindern. So haben die Selbstverwaltungsorgane im Anschluss an das Gesundheitsreformgesetz von 1989 die beschlossenen Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Richtgrößen ebenso wenig vollständig umgesetzt wie die Transparenzvorschriften des Gesetzes. Während im ambulanten Bereich das Steuerungsprinzip der Verhandlung eindeutig dominiert, finden sich im stationären Bereich eher Mischformen unterschiedlicher Steuerungsmechanismen, deren jeweiliges Gewicht sich in den letzten Jahren mehrfach verschoben hat. Auch für den stationären Sektor sind viele Entscheidungen des BAK relevant. Dennoch waren im Krankenhausbereich die Voraussetzungen für eine zentralisierte Aushandlung der zentralen Finanzierungfragen mit den Kassen zunächst nicht in demselben Maß gegeben wie im ambulanten Sektor. Die deutschen Krankenhäuser waren vor allem in den ersten Jahren der Bundesrepublik vergleichsweise pluralistisch organisiert. So bestehen mit öffentlichen Krankenhäusern, freigemeinnützigen Krankenhäusern und privaten Krankenhäusern drei Typen von Krankenhausträgern nebeneinander, die jeweils eigene historische Grundlagen und Ziele haben. Bis in die 1970er Jahre wurden Pflegesatzverhandlungen meist dezentral, oft für jedes einzelne Krankenhaus, durchgeführt. Da Anfang der 1970er Jahre die Krankenhäuser in eine tiefe Finanzierungskrise gerieten, wurden mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz von 1972 diese Grundlagen wesentlich verändert. Das Gesetz weitete die Rolle des Staates durch eine Übernahme der Investitionskosten durch Bund und Länder und eine Stärkung der Steuerungskompetenzen der Länder aus. Mit dem Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz von 1981 und dem Gesundheitsreformgesetz von 1989 wurde dann zusätzlich die Bedeutung der verbandlichen Selbstverwaltung auf Landesebene im stationären Sektor analog zum ambulanten Sektor

55 gestärkt, ohne aber die dominierende Rolle der Länderaufsicht in diesem Bereich zu schwächen (vgl. Döhler/Manow-Borgwardt 1992: 75-83). Seit Mitte der 1990er Jahre finden sich unterschiedliche Entwicklungen der Steuerungsformen im stationären Bereich. Auf der einen Seite erhöhte sich die Bedeutung hierarchischer Eingriffe des Staates durch die wiederholte Deckelung der Ausgaben. Zwischen 1993 und 1995 sowie für 1999 wurde gesetzlich eine Anbindung der gesamten Ausgabensteigerungen der gesetzlichen Krankenkassen an den Zuwachs der Arbeitnehmereinkommen vorgegeben. Für das Jahr 2003 beschloss der Gesetzgeber daneben eine weitgehende Nullrunde bei der Steigerung der Krankenhausausgaben. Auf der anderen Seite wurde durch die schrittweise Einführung von Fallpauschalen die Selbstverwaltung gestärkt. Die Ausgestaltung der Fallpauschalen und die Vereinbarung konkreter Budgets auf Landesebene wird (unter staatlicher Aufsicht) von den Selbstverwaltungsorganen vorgenommen. Institutionen der verbandlichen Selbstverwaltung dominieren daher die verschiedenen Bereiche des Gesundheitssystems in unterschiedlicher Form, mit unterschiedlichem historischen Hintergrund und unterschiedlichen Problemen. Im ambulanten Sektor ist die verbandliche Selbstverwaltung als asymmetrische, allein von Kassenärzten und Kassenverbänden dominierte Struktur historisch zum wichtigsten Steuerungselement gewachsen. Im Arzneimittelbereich dominiert dagegen eine Kombination des Marktprinzips bei gleichzeitigen externen Rahmensetzungen durch die Selbstverwaltungsorgane des ambulanten Sektors und staatliche Vorgaben. Im Krankenhausbereich wurden Selbstverwaltungsstrukturen mit weitgehend analogem Aufbau zum ambulanten Sektor bewusst politisch geschaffen. Hier ist aber die Bedeutung hierarchischer politischer Steuerung gleichzeitig am größten - nicht zuletzt, weil die öffentlichen Krankenhäuser (noch) den größten Anteil umfassen und Länder und Gemeinden daher als Arbeitgeber über zusätzliche Steuerungsmöglichkeiten verfügen. In keinem der Bereiche ist es aber gelungen, die Selbstverwaltungsgremien so zu organisieren, dass sie gleichermaßen (durch Integration aller betroffenen Gruppen) legitim und (durch ausreichende staatliche Kontrolle) handlungsfähig sind. Auch eine staatliche Koordination im Hinblick auf die Bedürfnisse der jeweils anderen Teilbereiche des Gesundheitswesens und mitbetroffenen übrigen gesellschaftlichen Teilsysteme kann von den Selbstverwaltungsorganen nicht geleistet werden. Um diese Probleme zu reduzieren, wurden verschiedene Gremien zur dauerhaften und institutionalisierten Einbindung der meist hierarchisch und zentralistisch strukturierten Verbände in die Formulierung und Umsetzung staatlicher Politik geschaffen. Das bekannteste dieser korporatistischen Gremiem ist die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (KAiG). Die KAiG wurde 1977 mit dem Krankenversicherungs-

56 Kostendämpfungsgesetz auf Bestreben der Leistungsanbieter und der CDU/CSU- Bundestagsfraktion eingeführt. In der Konzertierten Aktion ist neben Bundes- und Landesregierungen eine Vielzahl von Interessengruppen vertreten: Hierzu gehören die Verbände der Krankenkassen, die Körperschaften der Ärzte und Zahnärzte, Vertreter der Pharma- und Apothekerverbände und Verbände der Krankenhausträger. Seit 1993 sind auch weniger einflussreiche Interessengruppen (Behinderten- und Verbraucherverbände, Verbände der Heilmittelerbringer, der Freien Wohlfahrtspflege, der Gesundheitshandwerker, des Kur- und Bäderwesens und der Pflegeberufe) in der KAiG vertreten. Die Konzertierte Aktion dient vor allem dazu, Rahmen- und Orientierungsdaten für das Gesundheitswesen zu entwickeln und zwischen den Beteiligten abzustimmen ( SGB V). Sie tritt meist zweimal im Jahr zusammen. Im Frühjahr werden Empfehlungen zu den Steigerungsraten der gesetzlichen Krankenversicherung im ambulanten Bereich und bei den Arzneimitteln ausgehandelt. Die Herbstsitzungen sollen der Diskussion möglicher Strukturreformen im Gesundheitswesen dienen. Während die Konzertierte Aktion ein Verhandlungsgremium der betroffenen Verbände und staatlichen Akteure ist, ist der 1985 eingerichtete Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG) ein Expertengremium. Dem Sachverständigenrat gehören sieben formal unabhängige Wissenschaftler an, die vom zuständigen Minister unter Beteiligung der KAiG für jeweils vier Jahre gewählt werden (vgl. Bandelow 1998: 114). Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Zusammensetzung und die jeweiligen Arbeitsaufträge stark vom zuständigen Ministerium bestimmt werden können. Der Sachverständigenrat hat sich daher zunehmend zu einem umstrittenen Beratungsgremium entwickelt, das weniger zur Unterstützung der Konzertierten Aktion als zur Legitimation von Regierungsentwürfen dient. Neben der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen und dem Sachverständigenrat wurden in den letzten Jahren wiederholt weitere Verhandlungs- und Beratungsgremien geschaffen. Diese unterscheiden sich von der KAiG zunächst durch die fehlende gesetzliche Grundlage: Zusammensetzung, Entscheidungsstrukturen und Ziele können von den jeweiligen Initiatoren relativ beliebig festgelegt werden. Beispiele für solche Gremien sind der durch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt im Mai 2001 einberufene Runde Tisch und die Ende 2002 einberufene Rürup-Kommission. Der Runde Tisch ist als Verhandlungsgremium der Verbandvertreter konstruiert. Die Rürup-Kommission besteht dagegen aus wissenschaftlichen Sachverständigen und Vertretern von Interessengruppen. Während der Runde Tisch nur Fragen des Gesundheitssystems behandelt, ist die Rürup-Kommission mit einer umfassenden Diskussion aller sozialen Sicherungssysteme befasst. In der Rürup- Kommission sind zwar Vertreter der Tarifparteien, der Pharmaindustrie und der

57 Krankenkassen vertreten. Die in allen anderen Verhandlungsgremien dominierenden Kassenärzte wurden jedoch nicht eingeladen. Die Erwartungen an die verschiedenen Verhandlungsgremien waren ursprünglich hoch. Sie sollten die Möglichkeiten erfolgreicher staatlicher Steuerung erhöhen, indem die Verbände durch die Übernahme staatlicher Aufgaben den Staat entlasten und so eine Überforderung der begrenzten staatlichen Steuerungskapazitäten vermieden werden kann. Es wurde angenommen, dass Interessenverbände durch die Einbindung in die staatliche Politik dazu veranlaßt werden könnten - oder sich selbst dazu veranlaßt sähen -, die Verfolgung kurzfristiger, begrenzter Sonderinteressen zurückzustellen zugunsten der Durchsetzung übergreifender Kollektivziele... (Lehmbruch 1988: 13). Die Verbände würden ihrerseits in der verbandlichen Selbstverwaltung und den korporatistischen Institutionen eine Einflussmöglichkeit sehen, die sie nicht durch unkooperatives Verhalten gefährden wollen (vgl. auch Herder-Dorneich 1982: ). Selbst bei Verteilungskonflikten sollten daher grundlegende Reformen auf Basis eines abgestimmten Verhaltens zwischen staatlichen Akteuren und Großverbänden erreicht werden. Gemessen an diesen Erwartungen sind die Ergebnisse der gesundheitspolitischen Steuerung durch Verhandlung ernüchternd. Bisher wurde noch kein grundlegendes Reformkonzept von allen wichtigen Interessengruppen gemeinsam erarbeitet. Die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen wurde meist primär zur Kritik an bestehenden Reformprojekten genutzt. Auch der Runde Tisch war wenig erfolgreich: In fünf der sechs Arbeitskreise des Gremiums ist es bisher nicht gelungen, sich auf gemeinsame Empfehlungen zu einigen (vgl. Bandelow 2002: 127). Die Probleme der Verhandlungsgremien können teilweise auf die institutionellen Strukturen zurückgeführt werden (vgl. Wiesenthal 1981; Lehmbruch 1988). So verfügen nur die Selbstverwaltungsgremien über verbindliche Steuerungskompetenzen. Die Konzertierte Aktion handelt dagegen wie der Runde Tisch und die Rürup-Kommission lediglich Empfehlungen aus. Ein weiteres Problem aller Verhandlungsgremien liegt in der mangelhaften demokratischen Legitimation, da die Teilnehmer weder demokratisch gewählt noch systematisch auf Grundlage fachlicher Kompetenz ausgewählt werden. Ein spezifisches Problem der Verhandlungsgremien des deutschen Gesundheitssystems liegt zudem in dem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen den beteiligten Akteuren. Die zentralistisch organisierten und konfliktfähigen Kassenärzte verfügen über strukturelle Vorteile gegenüber den zersplitterten Krankenkassenverbänden. Weitere Interessengruppen - insbesondere die Versicherten und Patienten - verfügen nicht einmal über einflussreiche eigene Verbände. Auch diese Asymmetrie der Verhandlungsgremien schwächt die Legitimation der dort getroffenen Entscheidungen.

58 Neben der Asymmetrie ist die Vielfalt der betroffenen Interessengruppen des deutschen Gesundheitswesens ein zentrales Problem von Verhandlungslösungen. Da Verhandlungen auf Konsens zielen, wird allen Beteiligten die Möglichkeit geboten, umfassende Maßnahmenbündel zu blockieren. Selbstverwaltung und Korporatismus tragen somit zusammen mit der geringen Machtkonzentration des deutschen politischen Systems infolge des verflochtenen Föderalismus und des Verhältniswahlrechts zur Blockade grundlegender Gesundheitsreformen bei (vgl. Mayntz 1990; Rosewitz/Webber 1990). Trotz dieser Probleme wurde vor allem in den 1980er Jahren die Bedeutung korporatistischer Steuerungselemente im Gesundheitswesen gezielt erweitert (Döhler/Manow-Borgwardt 1992). Seit den 1990er Jahren findet sich gleichzeitig zunehmend eine Ergänzung der weiterhin zentralen Verhandlungsgremien durch eine Vielzahl von wettbewerblichen Steuerungsinstrumenten (vgl. Gerlinger 2002). Auch die gegenwärtig diskutierten Konzepte von Bonussystemen für Gesunde und einer Pluralisierung der Angebote von Gesundheitsleistungen durch Aufhebung des Sicherstellungsauftrags der Kassenärztlichen Vereinigungen zielen auf eine Stärkung des Wettbewerbs. Die inhaltliche Strategie einer Stärkung von Wettbewerbselementen wird vor allem von Ökonomen unterstützt. Die Politikwissenschaft konzentrierte sich dagegen stärker auf die Frage einer hierarchischen Durchsetzung grundlegender Reformen. Auf die Beobachtung, dass grundlegende Reformmaßnahmen bisher stets gescheitert sind, wurde mit dem wiederholten Ratschlag reagiert, die Politik möge sich auf graduelle bzw. Step-by-Step- Reformen beschränken (Naschold 1967; Hartmann 2002). Neuere Arbeiten legen jedoch nahe, dass die Blockadewirkungen der institutionellen Strukturen bei einer differenzierten Betrachtung der Akteurkonstellationen auch überwunden werden können. 5 Akteurkonstellationen und Chancen hierarchischer Steuerung Die wiederholten Versuche hierarchischer Steuerung durch Reformen der Gesetzlichen Krankenversicherung können als Versuche interpretiert werden, den Verselbständigungstendenzen des Gesundheitssystems durch strukturelle Veränderungen entgegenzuwirken (vgl. Hartmann 2002: ). Grundlegende Eingriffe in das Gesundheitssystem stehen nicht nur vor den bisher diskutierten Problemen, dass sie die Eigenlogik des ausdifferenzierten Teilsystems bestenfalls begrenzt beeinflussen können und dass die direkten Steuerungskompetenzen der Bundesregierung als Steuerungszentrum in dem durch Verhandlungsstrukturen geprägten deutschen Gesundheitssystem begrenzt sind. Auch die Vielfalt der Interessen und politischen Ziele der Akteure steht Reformbemühungen entgegen.

59 Im Gesundheitswesen existiert eine große Anzahl von Interessenverbänden, die sich in den letzten Jahrzehnten weiter deutlich erhöht hat (für einen Überblick vgl. Bandelow 1998: ). Neben den Körperschaften (Kassenärztliche Vereinigungen, Ärztekammern, Krankenkassenverbände etc.) finden sich vor allem bei den Leistungsanbietern zahlreiche freie Verbände. Zwischen den Verbänden der verschiedenen Facharztgruppen bestehen oft grundlegende Interessenkonflikte. Daneben existieren mit den etablierten großen Verbänden (Hartmannbund, Verband der Niedergelassenen Ärzte/NAV, Marburger Bund) übergreifende Zusammenschlüsse, die eine Abwanderung ihrer Mitglieder zu den Facharztverbänden vermeiden wollen. Auch die Pharmaindustrie wird durch verschiedene Verbände mit unterschiedlichen Zielen repräsentiert : So sind etwa die großen forschenden Arzneimittelhersteller daran interessiert, dass umfassender Patentschutz gewährt wird und auch nach Ablauf des Patentschutzes Originalprodukte von den Kassen finanziert werden. Diese Interessen der im Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) organisierten Unternehmen stehen im Widerspruch zu den Interessen der kleineren Hersteller von Nachahmerpräparaten, die durch den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) vertreten werden. Neben den Ärzteverbänden und der Pharmaindustrie gehören die Krankenkassenverbände, die Verbände der Krankenhausträger, der Dachverband der Apothekerverbände (ABDA) und vor allem die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu den wichtigsten Interessengruppen im deutschen Gesundheitswesen. Bei dieser Vielzahl von Gruppen stößt jeder Reformentwurf auf erbitterten Widerstand einer Mehrheit der Betroffenen. Dieser Widerstand der Interessengruppen wurde lange in Politik und Wissenschaft als wichtigste Ursache für die Probleme des deutschen Gesundheitswesens gesehen. Ausgangspunkt dieser Interpretation waren die gescheiterten Reformversuche von Arbeitsminister Blank in den 1960er Jahren. Das Scheitern dieser Reformentwürfe - so die lange vorherrschende Interpretation - war das Ergebnis der Vetomacht vor allem der Kassenärzte, die in ihrer Blockade durch die Gewerkschaften unterstützt wurden. Obwohl dieses Bündnis von Kassenärzten und Gewerkschaften eher ungewöhnlich war, wurde lange davon ausgegangen, dass jeder Reformentwurf durch (wechselnde) Koalitionen von Interessengruppen blockiert werden könnte (vgl. Naschold 1967). Nach den beiden gescheiterten Entwürfen für ein Krankenversicherungs- Neuregelungsgesetz 1960 und 1964 bemühten sich die zuständigen Bundesminister daher bei den anschließenden Reformentwürfen um eine möglichst frühzeitige und breite Unterstützung durch die Interessenverbände. Die Kostendämpfungsgesetze der 1970er und 1980er Jahre wurden daher unter Nutzung der korporatistischen Entscheidungsstrukturen entwickelt. Das Ergebnis waren jeweils kurzfristige Sparmaßnahmen, die überwiegend zu

60 Lasten der in den Gremien nicht vertretenen Patienten konzipiert wurden. Wesentliche strukturelle Reformen konnten dagegen nicht durchgesetzt werden (vgl. Bandelow 1998: ). Erst das 1992 verabschiedete Gesundheitsstrukturgesetz schien einen Rückgewinn staatlicher Steuerungsautonomie zu bewirken. Das Gesetz enthielt unter anderem Einstiege in die Krankenkassenorganisationsreform und in die grundlegende Umgestaltung der Krankenhausfinanzierung sowie Einschränkungen der Zulassungsfreiheit für Kassenärzte und zeitlich befristete Sparmaßnahmen in allen zentralen Bereichen. Diese grundlegenden Reformen wurden gegen den Widerstand fast aller Interessengruppen durchgesetzt. Dieser überraschende Erfolg hierarchischer Steuerung im Gesundheitswesen führte zu verschiedenen sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuchen. Dabei dominiert die Interpretation, dass der Erfolg des Gesetzes vor allem auf die veränderte politische Strategie zurückzuführen ist: Ähnlich wie auch in anderen Politikfeldern (etwa bei der Rentenreform 1992 und der Einführung der Pflegeversicherung) wurde das Gesundheitsstrukturgesetz in einer großen Sachkoalition unter Einbindung der damals oppositionellen SPD durchgesetzt. Der besondere Problemdruck dieser Phase - vor allem aufgrund der Kosten der deutschen Vereinigung - hat danach in dieser besonderen Situation die Parteieneinigung ermöglicht. Durch die Einigkeit von Regierung und Opposition war es für die Verbände nicht mehr möglich, politische Unterstützung für ihren Widerstand zu erhalten (vgl. Bandelow 1998: ). Ergänzend zu dieser situativen Erklärung wurde argumentiert, dass auch langfristige strukturelle Veränderungen dazu beigetragen haben, dass die Vetomacht der Interessengruppen im Gesundheitswesen nachgelassen hat (vgl. dazu Döhler/Manow 1997). Danach war bereits die gängige Erklärung für das Scheitern der Blankschen Reformversuche unzureichend, wonach die Politik am Widerstand der Interessengruppen gescheitert wäre. Die Verhinderung umfassender Reformen in der Frühphase der Bundesrepublik basierte vielmehr auf einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Von großer Bedeutung war insbesondere die geringe Reife des Politikfelds Gesundheit in den 1960er Jahren. In der Regierung und insbesondere in der dominierenden Partei, der CDU, hatten sich noch keine klaren Kompetenzstrukturen für die Entwicklung eigener gesundheitspolitischer Programme herausgebildet. Die Reformentwürfe Blanks fielen in eine Zeit, die durch Kompetenzkonflikte zwischen den Bundesressorts, zwischen Ministern und Bundeskanzler und zwischen Bund und Ländern geprägt waren. Auch die Ärzteverbände verfügten noch nicht über interne Koordinationsstrukturen und standen in starker Konkurrenz zueinander. Letztlich war es daher nicht die Vetomacht der Kassenärzte, sondern die fehlende Unterstützung der Reformentwürfe Blanks durch Bundeskanzler Adenauer und durch den Gewerkschaftsflügel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die zur Blockade führte.

61 Bis Anfang der 1990er haben sich die Regierungsstrukturen wesentlich weiter ausdifferenziert. So haben die Parteien pluralistisch besetzte Gremien wie den heute mit Vertretern aller wichtigen gesundheitspolitischen Interessen besetzten CDU- Bundesfachausschuss Gesundheit herausgebildet (Döhler/Manow 1997: 50). Die veränderten Regierungsstrukturen haben gemeinsam mit veränderten Akteursinteressen zur Verbesserung der Möglichkeiten hierarchischer Steuerung beigetragen. So orientieren sich die Regierungen der Bundesländer heute nicht mehr primär an den Interessen der von Ländern und Gemeinden getragenen Krankenhäuser. Vielmehr hat sich eine industriepolitische Standortorientierung durchgesetzt, welche die Länder zu einem zentralen Befürworter grundlegender Strukturreformen werden ließ (vgl. Döhler/Manow 1997: 82-83). Die Entwicklung differenzierter innerparteilicher gesundheitspolitischer Entscheidungszirkel ermöglicht es heute, dass die großen Volksparteien eigene abgestimmte gesundheitspolitische Programme entwickeln, die nicht mehr von den Interessen einzelner Verbände abhängig sind. Döhler/Manow (1997: 7) sehen daher heute eine deutliche Entideologisierung der Gesundheitspolitik. Diese hier zusammengefasste Erklärung des relativen Steuerungserfolgs in der Gesundheitspolitik der frühen 1990er Jahre trägt wesentlich dazu bei, falsche Schlussfolgerungen aus den Blankschen Reformversuchen für die Gegenwart zu vermeiden. Allerdings hat sich die Erwartung einer Entideologisierung angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre als zu optimistisch erwiesen. Nach wie vor prägen nicht nur die Interessen einzelner Verbände in Bezug auf die Verteilung der Gesundheitsausgaben, sondern ideologische Grundsatzfragen die Gesundheitspolitik. Die Standorte der Politiker in diesen Konflikten sind allerdings nicht vollständig entlang der parteipolitischen Grenzen festzulegen. Ein vollständiges Verständnis der Steuerungsprobleme des Gesundheitswesens muss dennoch neben der Konstellation verbandlicher Akteure auch die nicht allein auf materielle Interessen zurückführbaren politischen Konflikte berücksichtigen (vgl. Bandelow 1998: ). Diese politischen Konflikte wurden in den Governance-Konzepten der Gesundheitspolitikforschung lange vernachlässigt, indem der Staat als monolithischer Akteur angenommen wurde (etwa in der Korporatismustheorie). Zudem werden die gesundheitspolitischen Konflikte immer noch häufig fälschlich als reine Interessenkonflikte interpretiert: Danach streben nicht nur die Interessengruppen nach einer Maximierung festgelegter materieller Ziele. Auch Parteien und Parteipolitiker agieren mit konstanten Zielen, nämlich der Maximierung von Wählerstimmen. Die Ministerialbürokratie orientiert sich dagegen primär am Interesse der Maximierung der Kompetenzen der eigenen politischen Ebene und des eigenen Ressorts. Die Vorteile einer solchen utilitaristischen Perspektive liegen in der Möglichkeit einer klaren und mitunter mathematischen Modellierung der

62 jeweiligen Interessen und Interessenkonflikte sowie in der Tatsache, dass sich viele empirische Entwicklungen so mit einfachen und plausiblen Annahmen erklären lassen. Ein solches Konzept übersieht aber die inhaltlichen Besonderheiten und Probleme der Gesundheitspolitik. Die politischen Konflikte basieren unter anderem auf der Tatsache, dass das Gesundheitswesen in Deutschland zwei Aufgaben miteinander verbindet: Es soll einerseits eine umfassende Sicherung der Bevölkerung auf möglichst hohem Niveau bei der Bekämpfung von Krankheiten leisten. Gleichzeitig ist das Gesundheitswesen in seiner bisherigen Struktur aber auch bewusst als Teil des Umverteilungsstaates konzipiert. Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen über Lohnnebenkosten führt nicht nur zu einer gewollten Umverteilung zwischen Gesunden und Kranken, sondern auch zu ebenfalls gewollten Umverteilungen zwischen Kinderlosen und Kinderreichen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Reichen und Armen und zwischen Männern und Frauen. Über das Ausmaß, in dem diese Umverteilungen in Zukunft gewollt sind, bestehen (berechtigterweise in einer pluralistischen Demokratie) unterschiedliche Positionen in der politischen Arena. Ein Kernproblem der gesundheitspolitischen Auseinandersetzung liegt darin, dass diese Umverteilungskomponente, mit der gesundheitspolitische Entscheidungen heute stets verbunden sind, nur selten offen dargelegt wird. Die implizite Verbindung von Reformkonzepten zur Sicherung der Gesundheitsversorgung mit den von der jeweiligen Regierung vertretenen Vorstellungen zu den Umverteilungsfragen führt zwangsläufig zum Widerstand der jeweiligen Oppositionsparteien. Diese dienen jeweils den Verbänden als Ansprechpartner zur Durchsetzung ihrer verteilungspolitisch motivierten Blockadewünsche. Vereinfacht lassen sich die Positionen der Parteipolitiker daher auf einer Umverteilungsdimension abbilden: Hier reichen die Standpunkte von der Position der FDP, welche staatliche Umverteilung möglichst minimieren möchte, bis zur PDS. Die Positionen der meisten Politiker von Union, SPD und Bündnis 90/Die Grünen liegen zwischen diesen Extremen. Obwohl sich in den politischen Eliten sowohl der Union als auch der Regierungsparteien hier jeweils eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen findet, ist durchschnittlich bei einer rot-grünen Regierung eine stärkere Befürwortung von Umverteilungszielen zu beobachten als bei einer schwarz-gelben Regierung (für Überblicke über die wichtigsten gesundheitspolitischen Positionen der Parteien siehe Bandelow 1998: ; Wörz/Wismar 2001: ). Interessanterweise haben die Reifung des Gesundheitssystems in der Bundesrepublik und die damit verbundene Pluralisierung der gesundheitspolitischen Institutionen der Volksparteien aber dazu geführt, dass bei den konkreten Fragen der Verteilung von Gesundheitsleistungen keine grundsätzlichen Konflikte zwischen den Parteien mehr bestehen. Letztlich orientieren sich alle Parteipolitiker in Deutschland an dem Ziel eines Erhalts des vergleichsweise hochwertigen deutschen

63 Gesundheitssystems und des unbehinderten Zugangs für alle Bevölkerungsgruppen zu diesem System. Konkrete Vorschläge für Gesundheitsreformen scheitern daher immer dann, wenn sie Verteilungsfragen (etwa die Finanzierung von Krankenhäusern) mit Umverteilungsfragen (etwa die Gestaltung der Leistungskataloge der GKV) verbinden. Das Problem dieser Entwürfe liegt darin, dass sie sowohl auf den Widerstand von Interessengruppen als auch auf Widerstand aus der Parteienarena stoßen. Angesichts der großen öffentlichen Wirkung des Protestes insbesondere von Ärzten kann eine Regierung nur dann langfristig gegen den Widerstand der Interessengruppen agieren, wenn sie von der Opposition unterstützt wird und somit das Wiederwahlinteresse nicht gefährdet wird. Eine Unterstützung durch die Opposition ist aber nur dann möglich, wenn Verteilungsfragen von Umverteilungsfragen getrennt werden. Theoretisch liegen daher die Chancen hierarchischer Steuerung im Gesundheitswesen in einer Trennung der Arenen zur Klärung von Umverteilungsfragen (insbesondere Aspekte der Finanzierung von Gesundheitsleistungen) und Verteilungsfragen. Eine solche Arenentrennung ist in der Gesundheitspolitik nur bei der Formulierung des Gesundheitsstrukturgesetzes ansatzweise gelungen. Die Parteieneinigung war hier unter anderem dadurch möglich, dass Umverteilungsfragen bewusst ungeklärt geblieben sind. Das Gesetz hätte sowohl die Basis für eine Stärkung der Eigenverantwortung als auch für einen Ausbau solidarischer Ausgleiche schaffen können. Dies wird bei der Organisationsreform der Krankenkassen deutlich, die mit dem Risikostrukturausgleich einerseits zur Stützung der benachteiligten Ortskrankenkassen geführt hat (und damit den Weg zu einer Einheitsversicherung hätte ebnen können), andererseits aber auch die Möglichkeit für verschärften Wettbewerb zwischen pluralistisch organisierten Kassen hätte bewirken können. Nach der Verabschiedung des Gesundheitsstrukturgesetzes war die kurze Phase hierarchischer Steuerung des deutschen Gesundheitssystems beendet. Die heutige Gesundheitspolitik wird erneut durch Verhandlungsgremien dominiert, welche die Probleme der Systemintegration nicht lösen können. Im abschließenden Ausblick soll diskutiert werden, ob in Zukunft eine grundlegende Stärkung staatlicher Steuerungskompetenzen durch einen umfassenden Umbau der gesetzlichen Krankenversicherung möglich sein kann. 6 Ausblick Die Analyse der Integrationsprobleme und Governancestrukturen des deutschen Gesundheitssystems ist von der verbreiteten These ausgegangen, dass die deutsche Gesundheitspolitik vor besonderen Problemen steht. Diese Probleme manifestieren sich

64 insbesondere im Verhältnis zwischen Gesundheits- und Wirtschaftssystem. Allerdings werden die Probleme in der politischen Diskussion mit Schlagwörtern wie Kostenexplosion oft übertrieben. Die Entwicklung der Anteile der Gesundheitsausgaben am BIP als Maßzahl für den Ressourcenverbrauch des Gesundheitssystems zeigt zwar eine möglicherweise problematische Entwicklung. Die eher moderaten Anstiege lassen sich aber angesichts der gesellschaftlich gewollten Leistungen des Gesundheitssystems sowohl bei der Bekämpfung von Krankheiten als auch bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zumindest teilweise rechtfertigen. Ein grundlegenderes Problem des Gesundheitssystems ist durch die geringe politische Steuerbarkeit entstanden. Das Gesundheitssystem war vor allem in der Frühphase der Bundesrepublik aufgrund spezifischer Rahmenbedingungen weitgehend erfolgreich bei der Abwehr von externen Steuerungsversuchen aus dem politischen System. Die Erfahrungen vor allem der 1990er Jahre haben aber gezeigt, dass unter bestimmten Bedingungen durchaus hierarchische Steuerung möglich ist. Dennoch dominieren sowohl in der täglichen Entscheidungsfindung als auch bei Versuchen grundlegender Umgestaltungen nicht hierarchische politische Eingriffe, sondern auf Konsens angelegte Verhandlungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren. Diese Verhandlungssysteme haben sich zwar im Alltag als weitgehend entscheidungsfähig erwiesen. Sie weisen aber wesentliche demokratische Legitimationsdefizite auf. Außerdem führen sie aufgrund der Blockademöglichkeiten von jeweils wechselnden Bündnissen zwischen verbandlichen und politischen Akteuren zu einer Stabilisierung der bestehenden Finanzierungsstrukturen. Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung über Lohnnebenkosten und die in diesem System angelegte Verknüpfung von gesundheitspolitischen und umverteilungspolitischen Zielen ist die wichtigste Herausforderung der zukünftigen Gesundheitspolitik. Es zeichnet sich gegenwärtig ab, dass die dauerhafte Blockade einer grundlegenden Umgestaltung der Finanzierungsstrukturen angesichts der politisch nicht beeinflussbaren Logik des Krankheitssystems zu einem politisch bisher wenig thematisierten Problem führt: Das Krankheitssystem wird gerade im Rahmen der bisherigen Steuerungsstrukturen auch weiterhin sicherstellen können, dass es über ausreichende Ressourcen für eine Sicherstellung einer Versorgung auf dem gesellschaftlich gewünschten Niveau verfügen wird. Gleichzeitig führen aber der demographische Wandel, die Massenarbeitslosigkeit und die nachlassende Bedeutung von Normalarbeitsverhältnissen zu einem Finanzierungsdruck auf das Gesamtsystem, der aufgrund der Überintegration des Systems mit dem Wirtschaftssystem nicht abgebaut werden kann. Die bisherige Logik führt dann stets dazu, dass die Probleme ohne Kompensationen über einen Abbau der Umverteilungsleistungen des Gesundheitssystems gelöst werden.

65 Diese Entwicklung ist gesellschaftlich äußerst problematisch: Die Frage nach dem Ausmaß solidarischer Ausgleiche zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ist in einer pluralistischen Demokratie eine normative Grundsatzfrage, die von demokratisch legitimierten Gremien immer wieder neu entschieden werden muss. Sie wird aber in den gegenwärtigen Strukturen von für diese Frage ungeeigneten Verhandlungsgremien des Gesundheitssystems ohne gesellschaftliche Legitimation und ohne öffentliche Auseinandersetzung getroffen. Im letzen Kapitel wurde als mögliche Lösung für dieses Dilemma eine Trennung der Umverteilungsfragen von den Verteilungsfragen des Gesundheitssystems vorgeschlagen. Dieser Vorschlag überträgt eine teilweise analoge Idee von Fritz Scharpf aus den 1980er Jahren, der für eine Trennung von Problemlösung und Verteilung eingetreten ist (vgl. Scharpf 1988; 2000). Der Vorschlag Scharpfs basierte ursprünglich vor allem auf Analysen des Wirtschaftssystems. Dort ist es bisher nicht gelungen, diesen Vorschlag inhaltlich zu konkretisieren. Dies liegt unter anderem wohl daran, dass im volkswirtschaftlichen Kreislauf Produktion und Verteilung vielfach miteinander verbunden sind. Im deutschen Gesundheitssystem sind dagegen die Verteilungsziele und die Umverteilungsziele nur aus historischen Gründen miteinander verbunden. Sie wären politisch durchaus zu trennen. Dies zeigen nicht nur Gesundheitssysteme anderer Staaten, die nicht auf sozialen Krankenversicherungen basieren. Ein möglicher Schritt zu einer solchen Trennung könnte in einer Verwirkung der unlängst von Bert Rürup formulierten Finanzierungsreform liegen: Danach sollte das Gesundheitswesen nicht mehr über Lohnnebenkosten, sondern über eine Kopfpauschale aller Bundesbürger finanziert werden. Damit wäre die Frage der solidarischen Ausgleiche in andere Felder (etwa die Steuerpolitik oder das Wirtschaftssystem) verlagert. Ob ein solcher Vorschlag (der bisher nur rudimentär vorliegt und noch auf mögliche rechtliche, sozialpolitische und andere Probleme hin geprüft werden müsste) verwirklicht werden kann, hängt nicht allein von den Governance-Formen des Gesundheitswesens ab. Die auf die Politik übertragbaren Erfahrungen der Organisationsforschung zeigen, dass sich derartige grundlegende Veränderungen nicht systematisch zielgerichtet durchsetzen lassen. Vielmehr muss sich (eher zufällig) ein Policy Window öffnen, indem der Problemdruck und die politischen Machtverhältnisse kurzfristig mit einem grundlegenden Reformvorschlag korrespondieren (vgl. Kingdon 1984). Ob sich ein solches Entscheidungsfenster in absehbarer Zeit öffnet und dann auch genutzt wird, ist nicht prognostizierbar.

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67 Lehmbruch, Gerhard, 1988: Der Neokorporatismus der Bundesrepublik im internationalen Vergleich und die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, in: Gérard Gäfgen (Hrsg.): Neokorporatismus und Gesundheitswesen. Baden-Baden: Nomos, Luhmann, Niklas, 1983a: Anspruchsinflation im Krankheitssystem. Eine Stellngnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht, in: Philip Herder-Dorneich/Axel Schuller (Hrsg.): Die Anspruchsspirale. Stuttgart: Kohlhammer, Luhmann, Niklas, 1983b: Medizin und Gesellschaftstheorie, in: Medizin - Mensch - Gesellschaft 8, Luhmann, Niklas, 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zwei Teilbände. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mayntz, Renate, 1990: Politische Steuerbarkeit und Reformblockaden: Überlegungen am Beispiel des Gesundheitswesens, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1. Jg., Nr. 3, (erneut abgedruckt in: Renate Mayntz, 1997: Soziale Dynamik und politische Steuerung. Frankfurt a. M.: Campus, ). Mayntz, Renate/Bernd Rosewitz, 1988: Ausdifferenzierung und Strukturwandel des deutschen Gesundheitssystems, in: Renate Mayntz et al.: Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt a. M.: Campus, Mayntz, Renate/Fritz W. Scharpf, 1995: Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in: Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf (Hrsg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und Politische Steuerung. Frankfurt a. M.: Campus, Murswieck, Axel, 1990: Politische Steuerung des Gesundheitswesens, in: Klaus von Beyme/Manfred G. Schmidt (Hrsg.): Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag, Naschold, Frieder, 1967: Kassenärzte und Krankenversicherungsreform. Zu einer Theorie der Statuspolitik. Freiburg: Rombach. Reiners, Hartmut, 1999: Chronologischer Sanierungsfall? Das Gesundheitswesen in den Neuen Ländern, in: Dr. med Mabuse 122, Rosewitz, Bernd/Uwe Schimank, 1988: Verselbständigung und politische Steuerbarkeit gesellschaftlicher Teilsysteme, in: Renate Mayntz et al.: Differenzierung und Verselbständigung. Frankfurt a. M.: Campus, Rosewitz, Bernd/Douglas Webber, 1990: Reformversuche und Reformblockaden im deutschen Gesundheitswesen. Frankfurt a. M.: Campus. Scharpf, Fritz W, 1988: The Joint-Decision Trap: Lessons from German Federalism and European Integration, in: Public Administration 66,

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69 Experten mahnen eine durchgreifende Reform des Gesundheitswesens an Von Gerd Glaeske, Karl W. Lauterbach, Bert Rürup und Jürgen Wasem Weichenstellungen für die Zukunft - Elemente einer neuen Gesundheitspolitik 1 Aufbruch für eine neue Gesundheitspolitik Solidarität und Gemeinwohlorientierung einer Gesellschaft zeigen sich immer dort, wo es darum geht, Menschen in existenziellen Notlagen zu helfen. Dies gilt insbesondere, wenn es um die Gesundheit und die medizinische Versorgung von Kranken geht. Menschen können nur dann an der Gesellschaft teilhaben und auch Eigenverantwortung übernehmen, wenn sie gesundheitlich dazu in der Lage sind. Gesundheit und Gesundheitspolitik ist deshalb nicht allein Privatsache, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Solidarität und Verantwortung in der Gesundheitspolitik heißt daher, die Gesunden helfen den Kranken, die Jungen den Alten, die sozial besser Gestellten den sozial Schwachen. Dies ist kein Prinzip von gestern, sondern ein Grundwert einer modernen und humanen Gesellschaft. Wer dies aufgibt will eine Gesellschaft mit weniger Solidarität und Gemeinwohlorientierung. Das deutsche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen und Reformnotwendigkeiten. Denn die bestehenden Strukturen, Institutionen und Instrumente werden zunehmend ineffizient sowohl für die Leistungserbringer, die Beitragszahler wie für den einzelnen Patienten. Bei der Reform des Gesundheitssystems geht es um eine evolutorische Weiterentwicklung, nicht aber um einen Ersatz des bestehenden Systems. Ziele sind: - bessere Qualität und stärkere Patientenorientierung, - verbesserte Effizienz- und Kostenstruktur bei hoher Leistungsfähigkeit und Versorgungssicherheit für den einzelnen Patienten, - Bewertung des medizinischen Fortschritts und eine Bewältigung der im demografischen Wandel der Gesellschaft angelegten Probleme, - eine qualitäts- und effizienzorientierte Wettbewerbsordnung des Gesamtsystems, die Verkrustungen, Ständestrukturen und Lobbyinteressen aufbricht und flexible und moderne marktwirtschaftliche Steuerungsinstrumente durchsetzt und - eine Gesundheitspolitik, die präventive Maßnahmen stärkt und das Gesundheitsverhalten des Einzelnen verbessert. Das Gesundheitssystem ist heute nicht einfach nur ein Sozialsystem, es ist ein mächtiger, in einer alternden Wohlstandsgesellschaft wachsender Wirtschaftszweig mit einem Volumen von 413 Mrd. DM pro Jahr. In ihm bündelt sich ein bislang kaum durchschaubares und steuerbares Geflecht von Wirtschafts-, Stan-des-, Lobby- und politischen Interessen. Der Verbraucher, der Patient, fühlt sich überfordert gegenüber diesem System und den jeweiligen Interessengruppen, die häufig die Patienten für ihre Interessen instrumentalisieren. Die jeweiligen Interessengruppen im Gesundheitsbereich führen seit Jahren einen erbitterten Verteilungskampf um ihren Anteil an einem begrenzten Gesamtbudget. Die Politik versucht seit Jahren dieses System zu gestalten. Sie ist dabei mit einem komplexen Geflecht konfrontiert, das gut organisiert die eigenen Interessen und Strukturen bewahren will und in zunehmenden Maße Reformen zu blockieren versucht. Die Gesundheitspolitik der 90er hat mit Ausnahme des GSG bestenfalls zu Notreparaturen bzw. kurzfristigen Kostendämpfungen geführt. Die 1998 eingeleitete neue Gesundheitspolitik hat sich zunächst auf überfällige Korrekturmaßnahmen konzentriert, um dann strukturverändernde Maßnahmen einzuleiten, wie etwa beim Risikostrukturausgleich, bei der Einführung von Fallpauschalen, der Wahlfreiheit bei Kassen, der integrierten Versorgung, der Wiedereinführung der Primärprävention, der Stärkung der Patientenrechte durch die Krankenkassen. Jetzt muss es um eine neue Phase der Gesundheitspolitik gehen. Der Aufbau einer modernen, qualitätsorientierten Wettbewerbsordnung ist notwendig, bei der der Staat - die Rahmenbedingungen für eine patientenorientierte Wettbewerbsordnung, die Effizienz, Qualität und Solidarität sichert,

70 - die Qualitätsziele für die Leistungen und Anbieter, - die solidarisch zu finanzierenden Leistungen in der GKV und - den gesetzlichen Rahmen definiert. Auf dieser Grundlage kann ein "solidarischer Wettbewerb" die verkrusteten Strukturen im Gesundheitsbereich neu ordnen und zu mehr Patientenorientierung beitragen. Wettbewerb heißt dabei nicht, die solidarischen Finanzierungsstrukturen aufzugeben, Wahl- und Regelleistungen einzuführen, immer mehr Gesundheitsrisiken oder -leistungen zu privatisieren. Wettbewerb heißt vielmehr, den Rahmen für eine solidarische Wettbewerbsordnung klar festzulegen und klare Beziehungen zwischen den Akteuren im Gesundheitssystem zu definieren und die Rolle des Patienten im Gesundheitssystem zu stärken. Dies wird nicht kurzfristig möglich sein. Aber Schritt für Schritt müssen die entscheidenden Weichenstellungen vorgenommen werden, um den Strukturwandel im Gesundheitssystem voranzubringen. Dabei muss die Politik ihre Rolle ebenso neu definieren, wie Ärzte, Krankenkassen, Pharmaindustrie etc. Wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion zur Gesundheitspolitik, in der Ziele, Strukturen und die Verantwortung der einzelnen Akteure erörtert werden. Ein Deutsches Gesundheitsforum kann dazu einen Beitrag leisten. Dort, wo gemeinsame Lösungen vorstellbar sind, sollten sie umgesetzt werden. Dort, wo dies nicht geht, muss die Politik im Sinne eines solidarischen, wettbewerbsorientierten Gesundheitssystems entscheiden. Die Zeit der Kampagnenpolitik im Gesundheitswesen, die Zeit der wechselseitigen Interessensblockaden und das Schwarze-Peter-Spiel müssen ein Ende haben. Letztlich kann dabei niemand gewinnen. Die Verlierer stehen allerdings fest, die Beitragszahler und die Patienten. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel, aber die Zeit dafür ist reif, diese Debatte verantwortlich zu eröffnen. Dazu soll dieses Papier einen Beitrag leisten. 2 Herausforderungen und Strukturprobleme des deutschen Gesundheitssystems 2.1 Fehlsteuerungen im deutschen Gesundheitswesen Die Strukturen des deutschen Gesundheitssystems sind über Jahrzehnte gewachsen. Die unterschiedlichen Interessen haben sich in einer Form organisiert, wie in keinem anderen gesellschaftlichen oder sozialpolitischen Bereich. Diese wechselseitige Interessensblockade unterschiedlicher Akteure hat zu einem System des kleinsten gemeinsamen Nenners geführt. Diese Negativkorrektur unterschiedlicher Interessen unterminiert die Leistungsfähigkeit und Akzeptanz des deutschen Gesundheitssystems. Alle Akteure im Gesundheitssystem müssen sich wieder auf die hippokratische Maxime, die effiziente und qualitätsgesicherte Versorgung des Patienten, besinnen. Dazu ist als ein neuer Grundkonsens in der Gesundheitspolitik notwendig. Die Orientierung an den Interessen der Einzelakteure im Gesundheitsbereich blockiert das System und sichert keine Zukunft mehr, weder für Ärzte, Standesorganisationen, Krankenhäuser, pharmazeutische Industrie oder Patienten. Die Strukturen im Gesundheitssystem haben - so der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen - zu einer Parallelität von Über-, Unter- und Fehlversorgung geführt. Diese Fehlsteuerungen sind das Kernproblem für ein patienten-, gesundheits- und effizienzorientiertes Gesundheitssystem. Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen hat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen die wichtigsten Versorgungsprobleme im Detail untersucht. Dieser Rat kommt zu dem Ergebnis, dass es in allen untersuchten Bereichen in erheblichem Umfang zu einem Nebeneinander von kostensteigernden Qualitätsproblemen und Versorgungsdefiziten, zu einer Parallelität von Über-, Unter- und Fehlversorgung gekommen ist. Diese Fehlsteuerungen sind das Kernproblem für ein patienten-, gesundheits- und effizienzorientiertes Gesundheitssystem. Besonders ausgeprägt sind die Probleme erwartungsgemäß bei den chronischen Erkrankungen. Weniger als die Hälfte der Patienten mit Herzinfarkten in Deutschland werden so behandelt, wie dies dem wissenschaftlichen Standard entsprechen würde. Patienten mit Diabetes konnte trotz zahlreicher Modellprojekte keine flächendeckende Verbesserung der Versorgung angeboten werden. Es fehlt im Gegensatz z.b. zu den Niederlanden, Großbritannien, und Schweden ein flächendeckendes qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm für die Brustkrebsvorsorge durch Mammographiescreening. Der aktuelle wissenschaftliche Standard wird entweder nicht ausreichend gekannt oder umgesetzt. Bei der Krebsbehandlung können im deutschen Gesundheitssystem in 11 von 12 Krebsarten schlechtere Überlebensraten als in den Vereinigten Staaten nachgewiesen werden. Eine zukünftige Gesundheitspolitik muss diese Fehlsteuerungen im System korrigieren.

71 2.2 Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens im internationalen Vergleich Das deutsche Gesundheitssystem hatte im internationalen Vergleich über Jahrzehnte hinweg eine Vorbildfunktion. Zu den Stärken des Systems im internationalen Vergleich zählen nach wie vor - die ausreichend vorhandenen modernen medizinischen Einrichtungen, - eine Versorgung ohne Wartelisten, ein schneller und unbürokratischer Zugang zum Arzt und Krankenhaus, - ein umfassender Versicherungsschutz für alle sowie - ein einheitlicher und vom Einkommen unabhängiger Leistungsanspruch, der allein durch das medizinisch Notwendige definiert wird. Dennoch hat Deutschland seine Vorbildfunktion im Gesundheitswesen in den letzten Jahren eingebüßt. Die Lebenserwartung in Deutschland liegt unter dem Durchschnitt der Länder der Europäischen Union und hat sich in den letzten zehn Jahren weniger gut entwickelt als die in vielen unserer Nachbarländer. Im OECD-Vergleich der Sterblichkeit für wichtige Volkskrankheiten zeigen sich für Deutschland fast immer durchschnittliche oder über dem Durchschnitt vergleichbarer europäischer Länder und den Vereinigten Staaten liegende Werte. Vergleicht man z.b. die Sterblichkeit aufgrund eines Schlaganfalls, Diabetes mellitus, Darmkrebs und Brustkrebs in Deutschland mit der Sterblichkeit in Frankreich, Italien, England, Finnland, Schweden, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten, so belegt Deutschland für jede dieser Erkrankungen einen der drei schlechtesten Plätze. Vom Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen wurden gravierende Qualitätsdefizite festgestellt, die zu dieser Entwicklung mit beigetragen haben. Das deutsche Gesundheitssystem, so lautete die Schlussfolgerung des Rates, leiste nicht, was es leisten könne. Diesen gravierenden Qualitätsproblemen stehen im internationalen Vergleich deutlich über dem Durchschnitt liegende Ausgaben gegenüber. Nur in den Vereinigten Staaten wird ein höherer Anteil des Bruttoinlandproduktes für die Gesundheitsversorgung ausgegeben als in Deutschland. Deutschland hat die höchsten Ausgaben, relativ und absolut, für Gesundheit in Europa. Im Vergleich mit den oben genannten Ländern belegt Deutschland für die Zahl der Ärzte pro Einwohner, die Krankenhausbetten pro Einwohner und die durchschnittliche Krankenhausverweildauer jeweils einen der drei "Spitzenplätze" mit entsprechenden Konsequenzen für die Beitrags- und Kostenstruktur. Daher hat der Sachverständigenrat die Kosten-Nutzen-Relation des deutschen Gesundheitssystems im internationalen Vergleich als unbefriedigend bewertet. 2.3 Struktur und Qualitätsdefizite des deutschen Gesundheitswesens Ohne klare Strukturen und Qualitätsziele kann es kein effizientes und hochwertiges Gesundheitssystem geben. Qualitäts- und Versorgungsziele müssen jedoch die Maßstäbe für eine moderne Gesundheitspolitik sein. Strukturen, Institutionen und Instrumente der Gesundheitspolitik müssen sich an diesen Qualitäts- und Versorgungszielen orientieren und nicht umgekehrt. Fehlen evidenzbasierter Standards und unabhängiger Institutionen in der Qualitätssicherung Der Sachverständigenrat kommt zu dem Ergebnis, dass die aufgedeckten Qualitätsprobleme ohne Versagen auch der Selbstverwaltung nicht hätten entstehen können. Eine wichtige strukturelle Fehlentwicklung besteht darin, dass die eingeleitete Öffnung für den Wettbewerb nicht zu der notwendigen Verlagerung der Zuständigkeit für die Steuerung der Qualität der Versorgung auf Institutionen außerhalb des Wettbewerbs führte. So werden die Rahmenbedingungen für die Qualität im Wettbewerb von den Akteuren im Gesundheitssystem, die diese Rahmenbedingungen ausfüllen sollten, selbst bestimmt. Wird z.b. ein neues Entgeltsystem im Krankenhaussystem beschlossen, fällt die Entscheidung über das konkret zu wählende System durch die Vertreter der Krankenkassen und Trägervereinigungen von Krankenhäusern, die von den unterschiedlichen Systemen jeweils Wettbewerbsvorteile oder -nachteile zu erwarten haben. Das System gleicht daher einem Wettkampf, in dem sich die Teilnehmer während des laufenden Spiels die Regeln selbst geben, je nach Interessenslage und Einfluss. Obwohl der Zusammenhang zwischen einer bestimmten Anzahl an durchgeführten chirurgischen Eingriffen und der Ergebnisqualität gesichert ist, gibt es bislang in Deutschland keine verbindlichen Mindestmengen für die Durchführung selbst sehr komplizierter chirurgischer Eingriffe in Krankenhausabteilungen und ambulant operierenden Einrichtungen. Beispielsweise wird die für die Brustkrebschirurgie notwendige Mindestzahl von Eingriffen zur Sicherung eines bestimmten

72 Qualitätsstandards von einem großen Teil der in Deutschland operierenden gynäkologischen Einrichtungen nicht erreicht. In den Vereinigten Staaten, Canada, England, Schweden, Finnland, den Niederlanden und zahlreichen anderen Ländern wurden nationale Einrichtungen aufgebaut, die im Auftrag des Staates zumindest einen Teil der wichtigsten Anforderungen an die Qualität der Versorgung definieren. Diese gelten dann für alle am Wettbewerb teilnehmenden Einrichtungen und können ohne Einfluss der betroffenen Wettbewerbsteilnehmer im Sinne der Versicherten und Patienten festgelegt werden. Kein anderes europäisches Land überlässt die Entscheidungshoheit im Bereich der Qualitätsanforderungen so konsequent den unmittelbar betroffenen Wettbewerbern. Für das deutsche Gesundheitssystem existiert z.b. kein nationales Institut für Qualität in der Medizin, das diese Aufgabe im Auftrag des Staates übernimmt. Nicht einmal für die wichtigsten Volkskrankheiten in Deutschland gibt es qualitativ hochwertige wissenschaftliche Behandlungsleitlinien. Dies ist eine von mehreren Ursachen dafür, dass sehr häufig die Versorgung dem wissenschaftlichen Standard nicht entspricht. Fehlende sektorenübergreifende Versorgung Im deutschen Gesundheitssystem existiert eine starke Trennung des ambulanten und des stationären Sektors. Beide Sektoren haben ein getrenntes Entgeltsystem, welches die Leistung und insbesondere die Qualität der Versorgung nicht ausreichend berücksichtigt. Durch die Trennung der Budgets, Entgeltsysteme und Zuständigkeiten der beiden Sektoren kommt es zu einer Diskontinuität der Versorgung. Eine sektorenübergreifende Versorgung, wie sie insbesondere in der Krebsbehandlung und bei fortgeschritten Herz- und Kreislauferkrankungen medizinisch sinnvoll wäre, wird daher selten durchgeführt, obwohl vom Gesetzgeber in der Gesundheitsreform 2000 einige Möglichkeiten dazu geschaffen wurden. Fehlen eines Hausarztwahltarifs Im Bereich der ambulanten Medizin hat sich in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden ein Hausarztmodell bewährt, in dem der Hausarzt eine Lotsenfunktion für den Patienten übernimmt. Auch in Deutschland gibt es erste, gute, modellhafte Erfahrungen für eine solche Versorgungsform. In Deutschland fehlt für den Versicherten bislang die Möglichkeit, sich in ein wirtschaftlich attraktives Hausarztmodell einzuschreiben. Mit einem solchen Modell hätte der Versicherte die Wahl zwischen einem einheitlichen und alles medizinisch Notwendige umfassenden Leistungskatalog mit gezieltem Zugang und dem jetzigen ungesteuerten Zugang zu bestimmten Leistungen. Eine Wahlmöglichkeit zwischen einem gezielten oder zufälligen Zugang zur Versorgung ist eine bessere Alternative als die häufig geforderte Einschränkung des Leistungskatalogs. Die mit einem solchen Modell einhergehenden Effizienzgewinne durch Vermeidung von Fehlversorgung und Überversorgung können an den Versicherten weitergegeben werden. Fehlen von Disease Management Programmen für chronisch Kranke Bislang fehlen evidenzbasierte Disease Management Programme für chronisch Kranke. Solche Disease Management Programme sind Voraussetzungen in unserem differenzierten unübersichtlichen Gesundheitssystem, die notwendige Leistungen zu vernünftigen Kosten und Qualitätsstandards für die Patienten verfügbar machen. Mit dem jetzt vom Bundestag verabschiedeten Gesetz zur Novellierung des Risikostrukturausgleichs wird das bislang fehlende Disease Management erstmalig gefördert. Für die Hausarztmodelle als auch für die Chronikerprogramme brauchen die Krankenkassen die Möglichkeit, mit Ärzten, Ärztenetzen und auch Krankenhäusern direkt Behandlungsverträge schließen zu können. Durch die Möglichkeit, mit einzelnen Leistungserbringern zu kontrahieren, kann sich ein Wettbewerb um Wirtschaftlichkeit und Qualität entwickeln. Voraussetzung zur Sicherung der Versorgungsqualität ist in einem solchen System die Vorgabe verbindlicher, evidenzbasierter Qualitätsanforderungen durch eine neutrale Stelle. Neuausrichtung des Krankenhausentgeldsystems Bei vergleichbarer Qualität betragen die Wirtschaftlichkeitsunterschiede im Krankenhaus bis zu 40 %. Mit der Einführung eines in Schritten realisierten bundeseinheitlichen System von Fallpauschalen und gleichzeitig definierten Qualitätsanforderungen wird das bestehende Selbstkostenerstattungsprinzip mit seinen Fehlsteuerungen (Fehlbelegung, Verweildauer) abgelöst. Eine solche Regelung wird zu Kostensenkungen und zu einer sinnvollen Konzentration der Fälle auf dafür entsprechend spezialisierte Einrichtungen und Abteilungen kommen. Die Gesamtkosten der Versorgung werden bei gleichzeitiger Verbesserung der Qualität sinken. Durch die Verbesserung der Effizienz von planbaren Eingriffen auf spezialisierte Zentren wäre eine gezielte Nutzung frei werdender Ressourcen zur Sicherung einer wohnortnahen, qualitativ hochwertigen

73 Basisversorgung möglich. So könnte zum Beispiel die Möglichkeit von Direktverträgen zunächst auf solche Eingriffe beschränkt werden, die in der Regel planbar durchgeführt werden. 2.4 Institutionelle Blockaden des deutschen Gesundheitswesens Die Zahl der Kassenärzte hat sich seit 1960 in Deutschland mehr als verdreifacht. Gleichzeitig nimmt das medizinische Wissen in Diagnostik, Therapie und Rehabilitation rasant zu. Folge dieser Entwicklungen ist das Auseinanderfallen der Einheitlichkeit des ärztlichen Berufs. Daraus hat der Gesetzgeber bereits 1989 (GRG) die Konsequenz gezogen, der kassenärztlichen Selbstverwaltung den Auftrag zu erteilen, die Versorgung in eine hausärztliche und eine fachärztliche zu gliedern. Dieser Auftrag blieb aber ohne Umsetzung durch die Selbstverwaltung, weshalb der Gesetzgeber 1993 (GSG) die Gliederung selbst konkretisieren musste. Analog verlief die Entwicklung im Vergütungsbereich. In der EBM-Reform 1987 blieb die behauptete Aufwertung der zuwendungsintensiven Leistungen aus. Auch die darauf hin im GSG vom Gesetzgeber verfügten direkten Vorgaben für die Umstrukturierung der Vergütungsstrukturen durch die gemeinsame Selbstverwaltung brachte nicht die anvisierten Ergebnisse. Deshalb musste dies in der Gesundheitsreform 2000 unmittelbar gesetzlich normiert werden. Auch in anderen Bereichen hat die gemeinsame Selbstverwaltung vielfach über Jahre hinweg gesetzliche Aufgaben konsequent nicht umgesetzt. Diese wenigen Beispiele belegen die strukturelle Überforderung insbesondere der kassenärztlichen Selbstverwaltung. Die programmatisch von den Ärzten stets beschworene Einigkeit kann die zunehmend härteren Verteilungskämpfe um Honoraranteile zwischen den Ärztegruppen nicht mehr verdecken. Das Monopol KV ist insbesondere im Hinblick auf Vertrags- und Vergütungsstrukturen zumindest in dieser Form nicht mehr zukunftsfähig. Der Gesetzgeber hat im Gesundheitsreformgesetz 2000 die Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für alle vollstationären und teilstationären Krankenhausleistungen beschlossen. Danach ersetzt das neue Vergütungssystem zum die bisherigen Vergütungsregelungen. Die gemeinsame Selbstverwaltung von Spitzenverbänden und der Deutschen Krankenhausgesellschaft hatte bis zum bzw. bis zum die entsprechende Umsetzungsstruktur zu vereinbaren. Die Selbstverwaltung einigte sich am auf eine Vereinbarung. Jedoch wurde bislang keiner der in der Grundsatzvereinbarung vom einvernehmlich von der Selbstverwaltung festgehaltenen Termine realisiert. Dieses Vorgehen der Selbstverwaltung hat dazu geführt, dass der Einführungstermin 2003 unter keinen Umständen mehr eingehalten werden kann. Selbst der Start 2004 steht zunehmend in Frage. Dies zeigt, dass die bisherigen institutionellen Strukturen des deutschen Gesundheitssystems selbst zu einem Innovations-, Qualitäts- und Effizienzhemmnis geworden sind. Eine Reform des deutschen Gesundheitssystems muss daher im Rahmen einer solidarischen Wettbewerbsordnung die zunehmenden Interessens-, Verteilungs-, Umsetzungs- und Qualitätsblockaden aufbrechen. Dies liegt sowohl im Interesse der Patienten als auch der anderen Akteure im Gesundheitssystem. 2.5 Chancen und Konsequenzen des medizinischen Fortschritts Auch in Zukunft werden durch den medizinischen Fortschritt die Möglichkeiten zur Verbesserung der Versorgung zunehmen. Allerdings entsprechen die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Standards nur unzureichend der Umsetzung in die Behandlung der Patienten. Gleichzeitig muss die Unterscheidung zwischen echten Innovationen und Pseudoinnovationen stärker als bisher durchgesetzt werden. Arzneimittel, die im Vergleich zu ihren bereits vorhandenen Alternativen nur einen minimalen Zusatznutzen aufweisen, aber deutlich mehr kosten, sind keine echten Innovationen. Der medizinische Zusatznutzen von Innovationen muss stärker als bisher vergleichend bewertet werden. In Deutschland fehlt, im Gegensatz zu England, Australien und anderen Ländern, ein nationales Institut für die Gewährleistung einer rationalen Arzneimitteltherapie. Nur durch ein solches unabhängiges Institut kann geprüft werden, ob der Nutzen neuer Arzneimittel für die Übernahme in die Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen ausreichend sicher belegt ist. Die undifferenzierte Übernahme von Pseudoinnovationen mit unvertretbar hohen Kosten behindert die Entwicklung echter Innovationen. Hersteller, die sich auf echte Innovationen spezialisiert haben, werden benachteiligt. Für sie fehlt ein Verfahren, welches angemessene Wettbewerbsbedingungen bietet. Dies schadet auch dem Standort Deutschland. Gleiches gilt für medizintechnische Innovationen in der ambulanten und stationären Versorgung. Nur durch eine konsequente Anwendung der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin, des Health Technology Assessments und der Gesundheitsökonomie lässt sich das Potential des technischen Fortschritts voll nutzen. Die notwendigen Bewertungen müssen sich an vernünftigen Kosten-Nutzen-Grundsätzen und Qualitätsstandards orientieren und in verbindlicher Form für alle an diesem Wettbewerb teilnehmenden Anbieter und Krankenkassen umgesetzt werden.

74 2.6 Herausforderungen des demografischen Wandels Deutschland wird älter. Der Anteil der über 60-Jährigen wird bis zum Jahr 2040 von heute 20% auf ein Drittel ansteigen, während der Anteil der Jährigen von rd. 58% auf 50% sinkt. Das Erwerbstätigenpotential wird im gleichen Zeitraum von 37 auf 24 Millionen Menschen abnehmen. Diese Veränderung der Alterspyramide wird Konsequenzen für das Volumen der Gesundheitsleistungen mit sich bringen und die Einnahmeseite der GKV durch das Verschieben der Verhältnisse von Beitragseinnahmen durch eine geringe Erwerbsbevölkerung und erhöhte Ausgaben belasten. Die durchschnittlichen Ausgaben je Versicherten nehmen mit dem Alter zu. Dieses altersabhängige Ausgabenprofil ist im Zeitablauf zunehmend steiler geworden, d.h. die Ausgaben für die medizinische Versorgung der älteren Bevölkerung sind pro Person schneller gestiegen als die Ausgaben im Durchschnitt. Die deutlich höheren Zuwachsraten bei den Ausgaben für die medizinische Versorgung der älteren Bevölkerungsgruppen sind im Zusammenhang mit einer überdurchschnittlich starken Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, aber auch in Verbindung mit einer zunehmend aufwendigeren Versorgung in diesen Altersgruppen zu sehen. Es sind jedoch nicht primär High-Tech-Leistungen, die den Ausgabenanstieg im Alter erklären. Die Ausgaben im Rentenalter in der stationären Versorgung spielen eine besonders große Rolle: Sie liegen je Mitglied in der KVdR um das 2,8fache über den Krankenhausausgaben je AKV-Mitglied. Die Gleichung: "Mehr alte Menschen, höhere Ausgaben für stationäre Versorgung" ist dennoch zu undifferenziert, da bei einer älter werdenden Bevölkerung die Notwendigkeit von medizinischen Leistungen nicht unbedingt ansteigen muss, wenn in den nächsten Jahren auf der Grundlage einer neuen Gesundheitspolitik die Prävention gestärkt wird. Entscheidend ist nicht das durchschnittliche Alter der Bevölkerung, sondern der durchschnittliche Gesundheitszustand. Gerade bei chronischen Erkrankungen älterer Menschen sind in der Zwischenzeit optimierte Einstellungsmöglichkeiten durch eine weiterentwickelte Pharmakotherapie möglich, die bei den typischen im Alter auftretenden Erkrankungen (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Gelenkerkrankungen usw.) eine effiziente Versorgung ermöglichen. Voraussetzung ist aber auch hier der rationale Umgang mit Arzneimitteln, eine adäquate Indikationsstellung und die Sicherung der Prozessqualität im Sinne einer evidence-based-medicine in der ambulanten Versorgung. Wir werden die Konsequenzen des demografischen Wandels für das Gesundheitssystem nur dann bei kalkulierbaren Kosten und Beiträgen bewältigen können, wenn Prävention, Qualitätsstandards und effizienter Arzneimitteleinsatz im System durch Strukturmaßnahmen möglich werden. Dies nutzt auch den alten Patienten. 2.7 Kostenentwicklung des deutschen Gesundheitswesens In Deutschland wurden 1998 rd. 413 Mrd. DM für medizinische Produkte und Dienstleistungen des Gesundheitswesens ausgegeben; dies waren 10,9 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Im langfristigen Trend sind die Gesundheitsausgaben damit überdurchschnittlich gestiegen - so betrug der Anteil am BIP 1970 nur 5,7 %. Allerdings ist der Anteil seit Beginn der Kostendämpfungsgesetze (1977) bis zur Wiedervereinigung im wesentlichen konstant bei rd. 8 bis 8,5 % geblieben. Infolge der Wiedervereinigung erfolgte Anfang der neunziger Jahre ein erheblicher Schub. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung sind bis Anfang der neunziger Jahre etwas schneller als die Gesundheitsausgaben insgesamt gewachsen. In den letzten Jahren sind sie nur noch langsamer als die übrigen Gesundheitsausgaben gestiegen. Dabei verlief das Wachstum seit Ende der siebziger Jahre weitgehend parallel zur Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes. Dennoch stieg der durchschnittliche Beitragssatz weiter an: von 8,2 % in 1970 über 11,4 % (1980) und 12,5 % (1990) auf 13,6 % (2000). 3 Innovation und solidarischer Ausgleich - die Politik seit 1998 Die Neuorientierung der Gesundheitspolitik der gegenwärtigen Bundesregierung ist mit dem Solidaritäts- Stärkungsgesetz und der Gesundheitsreform 2000 eingeleitet worden. Durch die Rückkehr zum Sachleistungsprinzip bei der Zahnbehandlung ist der Schutz der Patienten vor Ansprüchen der Leistungserbringer umfassend gewährleistet. Auch unsoziale Leistungsausgrenzungen (Einschränkungen des Zahnersatzes für Kinder und Jugendliche) wurden zurückgenommen. Nach den Grundsätzen "Prävention vor Kuration" und "Rehabilitation vor Frühverrentung und Pflege" hat der Gesetzgeber für die Versicherten sowie Patienten Grundlagen für effektivere Versorgungsstrukturen geschaffen. Die Förderung von Selbsthilfegruppen hat einen neuen Stellenwert erhalten, denn die Selbsthilfe dient in vielfältiger und wirksamer Weise als Ergänzung professioneller Gesundheitsdienstleistungen.

75 Durch das neue Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) wurden die Rechte der Versicherten gestärkt und deren Leistungsansprüche verbessert, Rehabilitationsleistungen können u.a. Krankenhausleistungen nicht mehr ersetzen. Die ambulante Rehabilitation soll zudem die wohnortnahe Betreuung im Sinne der Patienten sichern. Im Sinne einer optimalen Versorgung ist die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen zu intensivieren. Die bisherige starre Aufgabenteilung zwischen der ambulanten und stationären Versorgung ist aufgebrochen worden. Integrierte, sektorübergreifende Versorgungsformen zwischen Haus- und Fachärzten, zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Leistungserbringern und zwischen ambulantem und stationärem Sektor können die Versorgungssituation und die Behandlungsabläufe verbessern. Die Grundlagen für eine Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung wurden konzipiert. Sie wurden erreicht durch Qualitätssicherung, die Bewertung von Kosten und Wirtschaftlichkeit medizinischer Technologien und der verbesserten Nutzung des Medizinischen Dienstes. Dieses Qualitätssicherungsgebot gilt für alle Leistungsbereiche. Erstmals wurde auch für Krankenhausleistungen ein Gremium geschaffen, das etablierte und neue medizinische Untersuchungsund Behandlungsmethoden daraufhin überprüft, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung erforderlich sind. Ziel der Reform des Risikostrukturausgleiches ist es, die Morbidität der Patienten bei den Ausgleichszahlungen zwischen den Krankenkassen zu berücksichtigten. Disease Management Programme für ausgewählte "Volkskrankheiten" bilden ab 2002 eine wichtige Basis für weitere Qualitätsverbesserungen in der Patientenversorgung, insbesondere bei der Versorgung chronisch kranker Menschen. Krankenkassen, die derartige Programme für ihre Versicherten anbieten, erhalten über den Risikostrukturausgleich einen Ausgleich. Damit wird erstmals berücksichtigt, dass Krankenkassen, die sich gezielt um eine Verbesserung der Versorgung ihrer chronisch Kranken bemühen, keine finanziellen Nachteile haben, sondern im Vergleich zum Status Quo deutlich besser gestellt werden. Eine deutliche Stärkung des Solidarprinzips soll dann zum 1. Januar 2007 erfolgen. In die Berechnung des Risikostrukturausgleiches sollen verstärkt Faktoren der Morbidität aufgenommen werden. Den Krankenkassen wird es dann nicht mehr möglich sein, durch Selektion von gesunden Versicherten Beitrags- und Wettbewerbsvorteile zu erlangen, da gesunde und kranke Versicherte im Risikostrukturausgleich unterschiedlich berücksichtigt werden. Mit der schrittweisen Einführung eines diagnose-orientierten Fallpauschalensystems ab 2003 bis 2007 wird in Krankenhäusern die Wirtschaftlichkeit, Transparenz und Qualität gefördert. Mit dem Fallpauschalensystem erfolgt die Zuordnung der Mittel entsprechend der Leistungen ("Geld folgt der Leistung"). Die Fallpauschalen werden die im internationalen Vergleich zu hohen Verweildauern in Deutschland weiter verkürzen. Die Transparenz des neuen Entgeltsystems vereinfacht den Vergleich von Krankenhausleistungen für alle Beteiligten. Krankenhäuser können von den guten Lösungen anderer Krankenhäuser lernen (Benchmarking/Orientierungswerte). Patienten wird die Wahl eines Krankenhauses erleichtert, da die Qualität - die zudem durch finanzielle Anreize gefördert wird - insbesondere bei hochspezialisierten Leistungen leichter identifizierbar ist. (Veröffentlichung von Daten: Akkreditierung) 4 Prinzipien einer solidarischen Gesundheitspolitik 4.1 Solidarische Strukturen sichern Es gibt keine Notwendigkeit für einen grundlegenden Systemwechsel in Richtung einer Privatisierung des Gesundheitsrisikos. Ein solches System wäre weder kostengünstiger, wie internationale Erfahrungen zeigen, noch böte es eine qualitativ bessere Versorgung. Die paritätische Finanzierung ist ein Element von Solidarität und hat sich im Grundsatz bewährt. Solidarität heißt, auch weiterhin die finanzielle Leistungsfähigkeit bei der Beitragsbemessung zur gesetzlichen Krankenversicherung zu berücksichtigen, Familien sowie sozial Schwache zu entlasten und einen gleichen Zugang zu medizinisch notwendigen Leistungen zu gewährleisten. Eine solidarische Gesundheitspolitik muss auch weiterhin jedem, unabhängig von Alter, Einkommen, Familienstand und Lebenslage, den Zugang zu medizinisch notwendigen und angemessenen Leistungen garantieren. Dies schließt die Teilnahme am qualitätsgesicherten Fortschritt ein. 4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung stärken Bereits mit der Gesundheitsreform 2000 ist der Anspruch des Patienten auf objektive Information und Mitsprache verbessert worden. Eine moderne Gesundheitspolitik orientiert sich am Leitbild eines informierten und mündigen Patienten. Versicherer und Leistungserbringer im Gesundheitswesen müssen

76 sich in Zukunft verstärkt an Wünschen, Bedürfnissen und Interessen ihrer "Kunden" orientieren und sie in Entscheidungen einbeziehen. Sie haben auch die Pflicht, eine nicht-interessengeleitete Information von Patienten und Versicherten durch unabhängige Institutionen sicherzustellen. Dem Leitbild des mündigen Patienten entspricht es auch, ihm in Zukunft mehr Wahlmöglichkeiten bei der Art und Weise wie die medizinischen Leistungen erbracht werden, einzuräumen. Die Bereitschaft und die Fähigkeit der Patienten zur Selbsthilfe muss zukünftig bei der Erstellung von Behandlungsleitlinien stärker berücksichtigt werden. Der Schutz der Patienten vor Behandlungsfehlern und Nebenwirkungen von Arzneimitteln ist u. a. auch durch veränderte Haftungsregelungen zu verbessern. 4.3 Versorgung für alle und Finanzsicherheit erhalten Eine angemessene gesundheitliche Versorgung ist auch weiterhin für jeden zu garantieren, der sie benötigt. Dieser Anspruch muss unabhängig vom Einkommen, der individuellen Leistungsfähigkeit und dem individuellen Krankheitsrisiko bestehen. Dieser Anspruch darf nicht von der Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung abhängig gemacht werden. Dies bedeutet zugleich, dass Beitragssatzstabilität zwar ein wichtiges Ziel der Gesundheitspolitik ist, aber ohne dass dadurch die notwendige gesundheitliche Versorgung des Einzelnen in Frage gestellt wird. 4.4 Den Fortschritt medizinisch bewerten und seine Chancen nutzen Der medizinische Fortschritt ist ein Beitrag zu einer verbesserten medizinischen Versorgung des Einzelnen. Er muss weiterhin durch Forschung und Entwicklung im Bereich der Medizin gefördert werden. Dabei müssen die Interessen der Versicherten an wirksamer Prävention, verbesserten Therapien und angemessener Versorgung im Vordergrund stehen. Wir brauchen von ökonomischen Interessen unabhängige Institutionen, die Innovationen am Maßstab allgemein akzeptierter Kriterien bewerten und sie in die Fortschreibung von Behandlungsleitlinien aufnehmen. Echte Fortschritte dürfen den Patienten aus ethischen Gründen nicht verweigert werden. Der therapeutische Nutzen muss vor einer allgemeinen Anwendung jedoch zweifelsfrei belegt sein. Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt für weniger als die Hälfte der medizinischen Leistungen der Fall, die heute routinemäßig erbracht werden. 4.5 Effizienz und Qualität verbessern Eine Gesundheitspolitik, die den Versicherten und den Patienten in den Mittelpunkt stellt, muss dafür Sorge tragen, dass Effizienz und Qualität medizinischer Leistungen ständig verbessert werden. Die Patienten haben das Recht, eine gesicherte Qualität medizinischer Leistungen zu erhalten. Das gegenwärtige System der "Therapiefreiheit" muss sich an eindeutigen Qualitätskriterien orientieren. Dies ist sowohl im Sinne der Ärzte wie der Patienten. Deshalb sind die notwendigen institutionellen Reformen einzuleiten, um einerseits mehr Wettbewerb bei Krankenkassen und Anbietern von Gesundheitsleistungen zu schaffen und andererseits durch unabhängige Institutionen hohe Qualitätsstandards und die Einhaltung der Wettbewerbsregeln durch Aufsichtsinstitutionen zu sichern. 4.6 Prävention stärken Eine moderne Gesundheitspolitik setzt auf den Vorrang der Prävention. Zahlreiche Studien belegen, dass durch systematische Präventionsprogramme die Entstehung chronischer Krankheiten verhindert oder hinauszögert und damit Behandlungskosten eingespart werden können. Prävention ist dabei eine Aufgabe, an der sich neben den unmittelbaren Akteuren des Gesundheitswesens auch öffentliche Institutionen auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene beteiligen müssen. Auch im Bereich der Prävention ist Qualitätssicherung auf der Basis einer systematischen Auswertung der Programme unverzichtbar. Prävention trägt dazu bei, auch sozial Benachteiligten gleiche Gesundheitschancen zu ermöglichen. 4.7 Die Qualifizierung im Gesundheitsbereich verbessern Für den Gesundheitsbereich gilt stärker noch als für andere Bereiche der Gesellschaft, dass das verfügbare Wissen durch die Informations- und Kommunikationstechnologien immer schneller wächst. Dies stellt wachsende Anforderungen an die im Gesundheitswesen Tätigen. Sie müssen die Bereitschaft zu lebensbegleitendem Lernen mitbringen. Gleichzeitig müssen die institutionellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass entsprechende Weiterqualifizierungs- und Weiterbildungsangebote verstärkt wahrgenommen werden können. Auch hierzu kann eine Verstärkung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen einen wesentlichen Beitrag leisten.

77 5 GKV Eckpunkte und Instrumente einer Strukturreform des Gesundheitssystems Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz und dem Gesundheitsreformgesetz 2000 sind wichtige Weichenstellungen für die Neuorientierung des Gesundheitswesens eingeleitet worden: - Mit der Einführung der Krankenkassenwahlfreiheit ist die Voraussetzung für eine wettbewerbliche Steuerung der Gesundheitsversorgung geschaffen worden. - Mit der integrierten Versorgung sind die Chancen verbessert worden, die Nachteile aus den abgeschotteten Versorgungsbereichen zu überwinden. - Mit der Einführung einer Positivliste ist eine wesentliche Voraussetzung für eine rationale Arzneimitteltherapie beschlossen worden. Auf diesen Eckpunkten muss eine neue Gesundheitsreform aufsetzen und vor allem auf die Wettbewerbs-, die Qualitäts-, Präventions- und Steuerungsdefizite des deutschen Gesundheitssystems abstellen. 5.1Eine moderne, solidarische Wettbewerbsordnung aufbauen Im Mittelpunkt einer neuen Gesundheitsreform muss der Aufbau einer modernen, solidarischen Wettbewerbsordnung stehen. Das Prinzip der solidarischen Ausrichtung des Gesundheitswesens bleibt richtig - die Solidarität zwischen Gesund und Krank, Jung und Alt, Einkommensstark und Einkommensschwach, Kinderlosen und Familien mit Kindern muss erhalten bleiben. Fest steht aber auch: Die bisherigen Möglichkeiten des Wettbewerbs werden kaum zur Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversicherung genutzt. Krankenkassen, aber auch Ärzte, Krankenhäuser und die übrigen Erbringer von Gesundheitsleistungen sind heute zu sehr durch starre Vorschriften eingeschränkt. Insbesondere sind die Krankenkassen in zu vielen Bereichen zu gemeinsam und einheitlich zu treffenden Entscheidungen verpflichtet, und es ist vorgeschrieben, mit wem sie auf der Seite der Leistungserbringer Verträge abschließen müssen. Damit ist der Wettbewerb, der durch das GSG eingeleitet worden ist, auf halber Strecke stehen geblieben. Es fehlen die notwendigen Instrumente in den Beziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, damit sich die wirtschaftliche und qualitätsgesicherte Versorgung im Wettbewerb herausbilden kann. Umgekehrt haben auch einzelne Leistungserbringer oder Gruppen von Leistungserbringern kaum Chancen, sich durch besondere Leistungsfähigkeit oder besondere Wirtschaftlichkeit zu profilieren und so einen größeren Marktanteil in der Versorgung der Versicherten an sich zu binden. Die Regeln, die heute gemeinsames und einheitliches Handeln vorschreiben, müssen revidiert werden. Eine wettbewerbliche Öffnung ist erforderlich, damit sich Innovationen in Qualität und Wirtschaftlichkeit durchsetzen können. Dabei darf Wettbewerb gerade im Gesundheitswesen kein Selbstzweck sein. Er soll vielmehr eine immer bessere Versorgung mit Diensten und Gütern im Krankheitsfall gewährleisten, indem er Kassen und Leistungserbringer dazu zwingt, - die im Rahmen der GKV vorgesehenen Gesundheitsleistungen nach Art und Qualität so bereit zu stellen, dass sie den Patientenwünschen entsprechen; - die Angebote des Gesundheitssystems effizient einzusetzen und die Gesundheitsleistungen möglichst wirksam und kostengünstig zu erbringen; - medizinische, technische und ökonomische Innovationen einzuführen und dadurch die Patienten qualitativ immer besser und effizienter zu versorgen; - die eingesetzten Ressourcen leistungsgerecht zu entlohnen und sie flexibel an medizinische, medizintechnische, ökonomische und politische Datenänderungen anzupassen. Ein so verstandener Wettbewerb lässt keine unangreifbaren Marktpositionen, Angebotsstrukturen, Produktionsverfahren oder Besitzstände zu. Notwendig ist ein neuer GKV-Ordnungsrahmen mit einem allgemeinen, dauerhaften Öffnungsgebot für alle Krankenkassen. Dies hat Konsequenzen - für die Organisation der GKV, - für das Verbänderecht und die Selbstverwaltungsorganisation, - für die Gründung von Krankenkassen, - für die Fusion von Krankenkassen, - für die Finanzierung der Verwaltungskosten. Ein von Solidarität und Wettbewerb geprägter Ordnungsrahmen hat sowohl Konsequenzen für die Krankenkassen wie die Leistungserbringer.

78 Insgesamt bedarf der gesamte erste Abschnitt des 6. Kapitels des SGB V einer Revision. Die erhöhten Anforderungen an die Einzelkassen erfordern eine weitere Professionalisierung im Kassenmanagement und eine Aufgabenkonzentration der Selbstverwaltung auf tatsächliche Kernaufgaben. Dies gilt auch für die Zwangsmitgliedschaft aller Vertragsärzte in den KVen. Diese können allenfalls formale Voraussetzungen zur Teilnahme an der GKV-Versorgung prüfen. Die Sicherstellung der Versorgung ist durch die Erfüllung gesetzlich normierter Vorgaben durch die Krankenkassen zu garantieren. Krankenkassen wie Leistungserbringer sollten ihre jeweils gemeinsamen Interessen auf Landes- und Bundesebene durch die Bildung von Dachverbänden organisieren. Ein neuer Wettbewerbsrahmen führt auch zu veränderten Inhalten und Formen staatlicher Aufsicht. Staatlicher Aufsicht sollte als wesentliche Aufgabenstellung zukünftig die Funktion zukommen, den einheitlichen Wettbewerbsrahmen zu sichern. Die Sicherung der potentiellen Vorteile wettbewerblichen Verhaltens durch die Krankenkassen für die Versicherten ist die zentrale Zukunftsaufgabe der Staatsaufsicht. Zu einer solidarischen Wettbewerbsordnung gehören: - Ein einheitlicher Leistungskatalog Um zu vermeiden, dass der Wettbewerb sich auf die Frage konzentriert, in welcher Form möglichst vieler "guter Risiken", d.h. junge und gesunde Versicherte für eine Krankenkasse gewonnen werden können, muss es neben einem morbiditätsorientierten und leistungsgerechten Risikostrukturausgleich auch einen einheitlichen Leistungskatalog geben. Ein sinnvoller Wettbewerb muss sich auf die Frage konzentrieren, welche Qualität und welche Kosten-Nutzen-Relation eine bedarfsgerechte Versorgung für alle Versicherten haben muss. Vermieden werden muss ein Wettbewerb, in dem sich die Versorgung nicht mehr am medizinisch notwendigen Bedarf, sondern an der Zahlungsfähigkeit der Versicherten oder ihrer Attraktivität für die Krankenkassen orientiert. Nicht die Frage, welche Leistungen von den Krankenkassen finanziert werden, sondern von wem und wie die Leistungen erbracht werden, sollte Gegenstand des neuen Wettbewerbs sein. - Ein Übergang des Sicherstellungsauftrags auf die Krankenkassen Der Sicherstellungsauftrag sollte in der Verantwortlichkeit der Krankenkassen liegen. Wie in jedem wettbewerblichen System muss die Leistung von demjenigen garantiert werden, der auch die Verantwortung für die Kosten trägt. Zwischen den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen bzw. den Krankenhäusern können gegenwärtig keine echten Verhandlungen stattfinden, da es weder für den Anbieter noch für den Nachfrager Alternativen gibt. Eine Krankenkasse wird vom Versicherten mit seinen Beiträgen verpflichtet, eine bedarfsgerechte Versorgung zu garantieren. Dieser Verantwortung entledigt sich die Krankenkasse heute durch die pauschale Weitergabe dieses Auftrags an einen Monopolanbieter. - Ein Fortfall des Kontrahierungszwangs gegenüber Leistungserbringern und Krankenkassen Voraussetzung für jede Form von Wettbewerb ist ein funktionierender Markt. Kein Markt kann funktionieren, in dem jeder Nachfrager gesetzlich verpflichtet ist, mit jedem Anbieter zu kooperieren. Dies bedeutet für den Nachfrager, dass er auch Leistungen einkaufen muss, von denen er weiß, dass sie seinen qualitativen Anforderungen nicht entsprechen. Dennoch müssen die Krankenkassen auch mit diesen Einrichtungen Verträge schließen, die keine gesicherte Versorgungsqualität bieten. Umgekehrt werden die Leistungserbringer gezwungen, auch Leistungen zu erbringen, die sie betriebswirtschaftlich nicht darstellen können. Dies führt dazu, dass die Leistungen unterhalb des notwendigen fachlichen Qualitätsstandards erbracht werden müssen. - Eine Rückführung einheitlicher und gemeinsamer Verträge Der Markt führt dann zu mehr Effizienz, wenn er Anbietern mit hoher Qualität und einer guten Kosten- Nutzen-Relation Vorteile ermöglicht. Diese Vorteile entstehen zu Lasten derer, die eine entsprechende Qualität nicht anbieten können. In der jetzigen Wettbewerbsordnung der gesetzlichen Krankenversicherung wird aber genau dieser Effekt des Wettbewerbs ausgeschaltet, da die Verträge grundsätzlich einheitlich und gemeinsam für alle Krankenkassen und alle Leistungserbringer gestaltet werden müssen. Dies führt zu einer Situation, in der sich die besonders hochwertige Vertragserfüllung nicht lohnt. Wenn der Sicherstellungsauftrag durch die Krankenkassen übernommen wird, darf es für die Leistungserbringer keine Pflicht geben, einen Einheitsvertrag aller Krankenkassen erfüllen zu müssen. Umgekehrt kann es einer Krankenkasse und den Patienten nicht zugemutet werden, über den Bedarf hinaus oder in Fällen inakzeptabler Qualität dennoch einheitlich Verträge abschließen zu müssen. - Eine Weiterentwicklung des Leistungskatalogs Die Prüfung des Leistungskatalogs auf Bedarfsgerechtigkeit kann weder den Krankenkassen noch den Leistungserbringern aufgetragen werden. Für Versichertengruppen, die als Mitglieder nicht attraktiv sind (z.b. ältere Versicherte oder chronisch Kranke), haben die Krankenkassen ein Interesse, den Leistungskatalog nicht über das unvermeidbare Maß auszudehnen. Die Prüfung neuer Verfahren für die Aufnahme in den Leistungskatalog bzw. die Prüfung bereits etablierter Verfahren im Lichte des technischen Fortschritts muss unabhängig geregelt und klar definiert und zugeordnet sein.

79 Dazu sollte auf wissenschaftlichen Sachverstand und dafür eingerichtete Institutionen zurückgegriffen werden, wie dies in England z.b. durch das National Institute of Clinical Excellence (NICE) getan wird. Gegenwärtig übernehmen diese Aufgabe die gemeinsamen Ausschüsse der Spitzenverbände. Wettbewerbsregulation muss frei von Interessenskonflikten sein, ein Management der Interessenskonflikte alleine reicht nicht aus. 5.2 Qualitätssicherung als Instrument einer modernen Gesundheitspolitik Sowohl die Weiterentwicklung des bedarfsgerechten Leistungskatalogs als auch die Definition von Qualitätsstandards dürfen in einem wettbewerblichen Gesundheitssystem dem Markt nicht vollständig überlassen werden. Insbesondere für sozial schwache Gruppen, für chronisch Kranke und für ältere Menschen muss auch in einer wettbewerblichen Gesundheitsversorgung die Qualität der Versorgung sichergestellt und weiterentwickelt werden. Wo solche Qualitätsmängel auftreten, muss der Wettbewerb durch die Vorgabe von Qualitätsstandards entsprechend gestaltet werden. Dies ist Aufgabe der staatlichen Aufsicht hinsichtlich des Sicherstellungsauftrags der Krankenkassen. Institutionen, die die Aufgabe der Qualitätssicherung und -weiterentwicklung übernehmen, dürfen nicht selbst Teil des Wettbewerbs sein oder von am Wettbewerb teilnehmenden Institutionen getragen werden oder abhängig sein. Selbstverständlich ist jeder einzelne Leistungserbringer zur ständigen internen Qualitätssicherung verpflichtet. Für viele medizinische Probleme gibt es eine aufwendige und eine weniger aufwendige Versorgung, die sich in ihrer Kosten-Nutzen-Relation häufig sehr stark unterscheiden. Daher sollten ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, Canada, Großbritannien, Schweden, Finnland, Norwegen, Italien, Australien und in den Niederlanden Institutionen geschaffen werden, die Vorgaben für einen Qualitätswettbewerb in der Medizin geben. Dazu sollte von dieser Institution in wichtigen Bereichen der Qualitätsstandard definiert werden, der für eine bedarfsgerechte Versorgung notwendig ist. Dies kann durch die Entwicklung oder Übernahme wissenschaftlich gesicherter Leitlinien (evidenzbasierte Leitlinien) geschehen. Die Institutionen sollten wie Verbraucherschutzeinrichtungen arbeiten, die die Interessen von Patienten und von Beitragszahlern hinsichtlich einer angemessenen und qualitätsorientierten Versorgung vertreten. Der Aufbau einer solchen Institution ist besonders wichtig im Bereich der Arzneimittelversorgung, wo Kosten-Nutzen-Relationen bei alten und neuen Arzneimitteln überprüft werden müssen, bevor sie flächendeckend und ohne Einschränkung in die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt werden können. Im Bereich der Arzneimittel sind eindeutige Regelungen und Instrumente vorzusehen: - Zulassung neuer Medikamente in die GKV, ggf. auch nur befristet - Endgültige Aufnahme in den Leistungskatalog der GKV nach Zulassungauf der Basis von Langzeitstudien - Arzneimittelpositivliste - Aufbau eines pharmaökonomischen Bewertungssystems - Zulassung von Versandhandel, wettbewerbliche Preisgestaltung - Zulassung von Krankenhausapotheken, auch bei der Versorgung ambulantbehandelter Patienten. Die Prüfung der Effizienz eines Arzneimittels führt dazu, dass Scheininnovationen und Produkte, die minimal besser und erheblich teurer als ihre Alternativen sind, langsamer und zu geringeren Kosten in das Gesundheitssystem einziehen, während sich der Prozess bei echten Innovationen und Arzneimitteln mit guter Wirtschaftlichkeit beschleunigt. 5.3 Bedarfsgerechte und effiziente Versorgungsstrukturen entwickeln Oberstes Ziel muss dabei die Neuausrichtung der Strukturen auf die Belange der Patienten sein. Es gilt, Behandlungsabläufe über die hergebrachten Sektoren des traditionellen Gesundheitssystems hinweg medizinisch zu definieren und in Kooperationen zwischen ambulant tätigen Ärzten, Krankenhäusern, Reha- und Pflegeeinrichtungen anzubieten. Diese Gesundheitsanbieter werden deshalb künftig Behandlungen von Beginn der Diagnose bis zum Abschluss der Betreuung gemeinsam organisieren und anbieten und damit die bisherigen Grenzen der Sektoren des Gesundheitssystems überwinden. Entscheidend ist, dass der Wettbewerb über Qualität und Preis erfolgt. Gruppen von Anbietern konkurrieren mit anderen Gruppen von Anbietern. Nicht der Umfang der Leistungen soll Differenzierungsmerkmal im neuen System sein, sondern die Art der Leistungserbringung. Das Prinzip des umfassenden Gesundheitsschutzes kann so in einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung gesichert werden. Die Krankenkassen müssen ihren Versicherten den gesetzlich garantierten Leistungsumfang sichern, indem sie entsprechende Verträge mit Gesundheitsdienstleistern abschließen. Jene Kassen, die eine

80 solche Garantie nicht abgeben können, da sie geeignete Verträge mit Leistungsanbietern nicht vorweisen können, dürfen in festgelegten Regionen, keine Versicherungsleistungen anbieten und kontrahieren. Definierte Notfallbehandlungen müssen auch künftig in allen Gesundheitseinrichtungen erhalten und von den Krankenkassen finanziert werden. Anbietergruppen oder Gesundheitsunternehmen sollen die Möglichkeit erhalten, den Krankenkassen künftig genau beschriebene Behandlungskonzepte für ambulante, stationäre etc. Versorgung anzubieten. Es soll sich dabei um eine umfassende Dienstleistung vom Beginn bis zum Ende oder für einen festgelegten Zeitraum der Behandlung handeln. Die Qualität wird durch staatlich festgelegte Normen bestimmt, die sich sowohl auf die Dienstleistungen als auch auf die Dienstleister bezieht. Dienstleistungen müssen beispielsweise definierte Mindestanforderungen für Behandlungskomponenten, Erfolgsquoten und Gewährleistungsverpflichtungen beinhalten. Dienstleister müssen z. B. jährliche Mindestmengen pro Behandlung erbringen und regional ein festgelegtes Mindestsortiment anbieten. Die vertraglichen Vereinbarungen zwischen einzelnen Anbietern oder Anbietergruppen und Krankenkassen oder Krankenkassengruppen enthalten neben den Leistungs- und Qualitätsfestlegungen insbesondere auch Preisfestsetzungen. Durch vereinbarte Rabattstaffeln lassen sich Effizienzgewinne auf die Krankenkassen und Beitragszahler übertragen. Der Staat bezieht die Sicherstellungsgarantie künftig konsequent auf die Patientenbedarfe. Er schafft deshalb eine gesetzliche Ordnung, die dieser Zielrichtung folgt. Er schützt damit nicht mehr die Existenz der Anbieter, sondern sichert einen fairen Wettbewerb. Durch geeignete Rahmenbedingungen kann der Wettbewerb folgende Strukturen schaffen: - Patienten werden in einer Versorgungspyramide betreut, die die Lösung eines Patientenproblems auf der jeweils effizientesten Stufe des Versorgungssystems bewirkt. Dazu gehören: - hausärztliche Versorgung - fachärztliche Versorgung flächendeckend außerhalb des Krankenhauses - fachärztliche Versorgung ambulant, aber krankenhausabhängig - stationäre Krankenhausversorgung. - Hausärztliche Versorgung wird auch in Zukunft vorwiegend in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen krankenhausunabhängig erbracht werden. Hausärzte werden neben der derzeit üblichen Basisbetreuung der Patienten die Lotsenfunktion im System und den Kanon der Grundversorgung im Rahmen des Disease-Managements beherrschen. Hausärztliche Versorgung kann durch die Krankenkassen in Form von Verträgen nach einheitlichen Mindestqualitäts- und Höchstpreis- Standards sichergestellt werden. - Fachärztliche Leistungen, die z.b. teuere Investitionen in Technik oder know how voraussetzen, werden in Zukunft häufig in räumlicher und personeller Einheit mit den Fachärzten am Krankenhaus erbracht werden. - Krankenhäuser werden in die Lage versetzt, sowohl stationäre Behandlung als auch fachärztlich ambulante Behandlungen anzubieten. - Ambulante und stationäre Rehabilitation wird in effizienter Weise mit der akut stationären Versorgung verzahnt. 5.4Präventive Instrumente einer modernen Gesundheitspolitik ausbauen Eine vorausschauende Gesundheitspolitik braucht Präventionsmaßnahmen bei Volkskrankheiten. Primärprävention dient dem Patienten, baut soziale Unterschiede bei den Gesundheitserwartungen ab und trägt zur langfristigen Finanzierbarkeit der GKV bei. Notwendig sind verbindliche Verpflichtungen und Instrumente für eine vorausschauende Präventionspolitik, die sich auch an sozial Benachteiligte richtet. Durch die Ernährung, das Bewegungsverhalten und den Tabakkonsum wird die Häufigkeit von Herzinfarkten, Herzschwäche, Schlaganfällen, Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Demenz und bestimmten Krebsarten gleichzeitig beeinflusst. Bei der Entwicklung eines rationalen Gesundheitssystem muss der Bekämpfung dieser Risikofaktoren eine hohe Bedeutung zukommen. Der Erfolg solcher Programme lässt sich durch internationale Erfahrungen belegen. So hat zum Beispiel ein übergreifendes Herz- und Kreislaufpräventionsprogramm in Finnland innerhalb von 20 Jahren fast eine Halbierung der Zahl der neuen Herzinfarkte verursachen können. Aufgrund der langen Vorlaufzeit für die Wirkung solcher Programme muss jetzt eine Verlagerung der Prioritäten hin zur Prävention erfolgen, wenn man den Herausforderungen, z.b. des demografischen Wandels erfolgreich begegnen will. Die wichtigsten notwendigen Initiativen sind - ein nationales Herz- und Kreislaufpräventionsprogramm, - ein Anti-Tabakprogramm

81 - ein Früherkennungsprogramm für Krebs, insbesondere ein qualitätsgesichertes nationales Mammographiescreeningprogramm für Brustkrebs. 5.5 Moderne und flexible Steuerungsinstrumente entwickeln Im Wettbewerb der Leistungserbringer und im Wettbewerb der Krankenkassen werden sich bedarfsgerechte und effiziente Versorgungsstrukturen entwickeln. Die Krankenkassen müssen dazu in ihren Verträgen mit den Krankenhäusern, Ärzten und übrigen Leistungserbringern Steuerungsinstrumente einsetzen, die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zum Durchbruch verhelfen. Gegenwärtig werden die Steuerungsinstrumente in der Gesundheitsversorgung größtenteils vom Gesetzgeber detailliert vorgegeben. Dies ist umso entbehrlicher, je wettbewerbsorientierter die gesundheitliche Versorgung ausgerichtet wird; also so viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig. Bis die stärker wettbewerbliche Orientierung des Gesundheitswesens greift, kann die Gesundheitspolitik nicht vollständig auf bisherige Steuerungsinstrumente verzichten. Insbesondere ist kurzfristig ein Verzicht auf die Budgetierung als Instrument nicht möglich. Die sektorale Budgetierung sollte durch ein sektorübergreifendes Globalbudget ersetzt werden. Das Parlament hat aus gesamtgesellschaftlicher Verantwortung heraus die Aufgabe, den Umfang der sozialstaatlich finanzierten Gesundheitsversorgung zu bestimmen. Zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die die Politik wahrnehmen muss, gehört auch die Bestimmung des Umfanges des Leistungskataloges der Krankenkassen. Die Gesundheitspolitik muss fortlaufend kritisch überprüfen und entscheiden, was sozialstaatlich finanziert werden soll. Die Bestimmung konkreter medizinischer Methoden und Verfahren, die die Krankenkassen sicherstellen sollen, ist hingegen nicht Aufgabe der Politik. Vielmehr sollte eine staatliche Agentur mit der Überprüfung beauftragt werden, welche Verfahren ihren Nutzen und ihre Wirtschaftlichkeit bewiesen haben, so dass eine solidarische Finanzierung vertretbar ist. 5.6Transparenz und differenzierte Nutzung der unterschiedlichen Angebote im Gesundheitswesen erhöhen Ein Gesundheitswesen, das die Patientenversorgung im Wettbewerb regelt, bedarf einer modernen Gesundheitsberichterstattung und einer systematischen Versorgungsforschung. Beide Instrumente müssen regional und überregional nutzbare Daten für Patienten, Versicherte, Krankenversicherungen, Leistungserbringer und Politik zur Verfügung stellen. Anhand der Daten muss es möglich sein, Aussagen über Quantität und Qualität von Leistungen zu treffen. Es muss überprüfbar sein, ob der Versicherte tatsächlich zum richtigen Zeitpunkt das medizinische Versorgungssystem bei Bedarf erreicht, an die richtige Stelle bzw. Ebene des Systems gelangt und dort effizient versorgt wird. Nur bei bestmöglicher Transparenz können die Akteure im Gesundheitswesen begründete Entscheidungen treffen. Die Gesundheitsberichterstattung mit ihren Daten muss - dem Patienten erlauben, sich selbst ein Bild von der Qualität und der Leistungsfähigkeit zu machen, - den Kassen ermöglichen, kassenspezifische, wettbewerbliche Analysen und Versorgungsanalysen ihrer Versicherten zu erstellen, - Leistungserbringern Auswertungen zur Quantität und Qualität ihrer Leistungen zu Verfügung zu stellen, um Vergleiche untereinander im Rahmen einer Wettbewerbsordnung machen zu können, - der Politik auf allen Ebenen Analysen über den medizinischen Versorgungsbedarf der Bevölkerung bereit zu stellen. Für eine qualifizierte Gesundheitsberichterstattung muss zudem Raum bestehen, eigene Auswertungen zu fertigen und darüber öffentlich zu berichten. Diese Veröffentlichung und Bewertung von Daten darf keinen Weisungen unterliegen. Die Ausgestaltung der Krankenversicherungskarte muss auf freiwilliger Basis auf die heutigen technischen Möglichkeiten angepasst werden. Das dient der Vermeidung von Doppeluntersuchungen, Unverträglichkeiten in der Arzneimittelversorgung sowie der Verbesserung und Dokumentation von Behandlungsabläufen. 5.7 Solidarische Elemente im Gesundheitssystem verbreitern Wettbewerb steht in einem Spannungsverhältnis zur Solidarität. Krankenkassen und Leistungserbringer, die dem Wettbewerb ausgesetzt sind, haben möglicherweise ein starkes Interesse daran, sich der solidarischen Verpflichtungen zu entledigen. Notwendig ist daher ein Ordnungsrahmen, der Solidarität sichert. Eine wesentliche Rolle in diesem Ordnungsrahmen spielt der jetzt gesetzlich neu geregelte Risikostrukturausgleich. Er muss morbiditätsorientiert weiterentwickelt werden, damit die Krankenkassen

82 sich auch dauerhaft um (insbesondere: chronisch) Kranke versicherte bemühen. Gerade, wenn die Krankenkassen mehr Wettbewerbsinstrumente als bisher erhalten sollen, ist es erforderlich, den Risikostrukturausgleich weiter zu entwickeln. Die Versichertenstrukturen der Krankenkassen sind sehr unterschiedlich. Seit Einführung der Kassenwahlfreiheit haben sie sich zudem auseinander entwickelt. Aber auch wenn sich die Strukturen stärker angleichen sollten, bleibt der Risikostrukturausgleich auf Dauer erforderlich. Sonst entstehen für die Krankenkassen rasch wieder falsche Anreize. Zur Sicherung und Verbreiterung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung gehört auch eine Weiterentwicklung ihrer Finanzierungsgrundlagen. Immer mehr Versicherungspflichtige haben nennenswerte Einkünfte auch aus anderen Einkunftsarten als ihrem Arbeitseinkommen. Diese Einkünfte sind bislang nicht beitragspflichtig. Die Höhe des Einkommens, nicht die Frage aus welchen Einkunftsarten dies kommt, sollte über die Höhe der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung entscheiden. Eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bzw. die Abkoppelung der Versicherungspflichtgrenze von den Löhnen ist daher sachgerecht und entspricht dem Prinzip der Finanzierung nach der Leistungsfähigkeit. Andere Einkunftsarten in die Beitragspflicht einzubeziehen, bedeutet nicht automatisch mehr Geld für die Gesundheitsversorgung. Vielmehr ermöglicht eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen bei gleichen Leistungsausgaben eine Senkung des Beitragssatzes. Damit wird auch eine Entlastung des Faktors Arbeit und der Lohnzusatzkosten ermöglicht. Auch wirtschaftspolitisch macht daher ein Einbezug anderer Einkunftsarten in die Beitragsbemessung Sinn. Die heutige Grenzziehung bei der Versicherungspflicht der Arbeitnehmer ist willkürlich. Die Versicherungspflichtgrenze führt dazu, dass finanzstarke Versicherte sich der Solidargemeinschaft GKV entziehen können. Richtig ist, dass die privat Versicherten im Krankheitsfall überproportionale Finanzierungsbeiträge leisten. Richtig ist aber auch, dass die Kalkulation der Prämien in der PKV nach dem Kapitaldeckungsverfahren einen Beitrag zur Entlastung der Wirkungen der demografischen Entwicklung leisten. Gleichwohl ist eine Überprüfung der Versicherungspflichtgrenze notwendig. Alternativ sollte auch geprüft werden, ob und wie die Privatversicherten hinsichtlich ihres deutlich höheren Einkommens in den Risikostrukturausgleich der GKV einbezogen werden können. Festzuhalten bleibt aber, dass eine solidarische (Zwangs)Versicherung eine Beitragsbemessungsgrenze erfordert, um den solidarischen Ausgleich zu begrenzen, um den Beitrag nicht zu einer Steuer werden zu lassen. Zur mittel- und langfristigen Sicherung der Finanzierungsbasis der GKV einerseits und zur Wiedergewinnung einer durchgängigen sozialen Symmetrie andererseits sind Strukturentscheidungen unerlässlich. Die Prinzipien der Leistungsfähigkeit und Beitragsgerechtigkeit in einem sozialen Krankenversicherungssystem sind den sozio-ökonomischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts entsprechend neu zu definieren. Mit entsprechenden Maßnahmen kann nicht nur der Anstieg der Beitragssätze in der GKV gestoppt werden, sondern können die Beitragssätze sinken. Der Einstieg ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. März 2000 zur notwendigen Gleichstellung der Rentner bei der Beitragsbemessung gemacht. Der seit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1993 umfassende Einkommensbegriff der freiwillig versicherten Rentner wird auch auf pflichtversicherte Rentner ausgedehnt. Damit wird sowohl eine der Leistungsfähigkeit als auch dem Gebot der Generationengerechtigkeit angemessene Finanzierung erreicht. Die Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze in der GKV sollte überprüft werden. Letztlich ist zu prüfen, in welchem Umfang der versicherte Personenkreis in der GKV mittelfristig auszudehnen ist. Sonderrechte für einzelne Gruppen von Erwerbstätigen, sich der Solidarität der GKV zu entziehen, sind kaum begründbar und bieten keine Antworten auf die Herausforderungen einer solidarisch finanzierten, zukunftsorientierten Gesundheitspolitik. Durch die GKV werden teilweise seit Jahrzehnten verschiedene Leistungssegmente finanziert, die mit dem für die GKV konstitutiven Solidarprinzip, dem internen sozialen Ausgleich innerhalb der Versichertengemeinschaft, nicht begründet werden können. Bei diesen Leistungen handelt es sich um primär sozial- und/oder familienpolitisch motivierte Ausgaben. Diese krankenversicherungsfernen Leistungen bedienen unabhängig vom Versicherungsfall Krankheit gesamtgesellschaftlich zu bearbeitende Aufgabenstellungen. Das Gesamtvolumen der durch die GKV finanzierten krankenversicherungsfernen Leistungen beträgt derzeit jährlich rund 4 Mrd. DM. Die Leistungen und ihre Finanzierung müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Hierdurch wird nicht zuletzt ein Beitrag zu Transparenz und aufgabenbezogener Zuordnung der Finanzverantwortung in unserem Sozialstaat geleistet. 5.8 Beschäftigungschancen im Gesundheitssystem nutzen, Qualifizierung und Fortbildung verbindlich regeln

83 Das Gesundheitswesen ist ein an Bedeutung zunehmender Wirtschaftsfaktor mit hohem Wachstumspotential. Rund 413 Mrd. DM fließen in diesen Sektor. Den größten Anteil daran hat weiterhin die GKV, die mit 232 Mrd. DM mehr als die Hälfte der Ausgaben für Gesundheit umsetzt. Auf die PKV entfallen 32 Mrd. DM und in der gleichen Größenordnung bewegen sich die direkten Ausgaben der privaten Haushalte für Gesundheit mit 45,5 Mrd. DM (Stand 1998). Das Gesundheitswesen sichert die Beschäftigung von rund 2,2 Millionen Menschen. Rund 20% der im Gesundheitswesen Tätigen sind ÄrztInnen, ZahnärztInnen und ApothekerInnen. Mit über Beschäftigten stellen Krankenschwestern und Krankenpfleger fast die Hälfte der Mitarbeiter des Gesundheitssektors. Vielfach gehen sie unter schwierigen Bedingungen bei hoher physischer, psychischer und zeitlicher Belastung ihrer Arbeit nach. Die Verbesserung dieser Arbeitsbedingungen muss ebenfalls Ziel von Strukturreformen im Gesundheitswesen sein. Die Effizienzgewinne durch am Wettbewerbsgedanken orientierte Strukturreformen müssen auch dazu genutzt werden, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen zu verbessern. Dies dient den Beschäftigten ebenso wie den Patienten. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt im Gesundheitswesen wird in den nächsten Jahren beschleunigt weitergehen. Das stellt neue Anforderungen an alle Beschäftigten im Gesundheitswesen. Die Qualität der erbrachten Leistungen kann nur so gut sein, wie das vorhandene Qualifikationsniveau. Daher müssen neben einer soliden Erstausbildung verbindliche Anforderungen an eine obligatorische Weiterbildung für alle im Gesundheitswesen Tätigen festgelegt werden. Dieses Prinzip des lebensbegleitenden Lernens sollte im Rahmen einer Weiterbildungsordnung im Gesundheitsbereich erfolgen. 6 Zukunft gewinnen durch Modernisierung und soziale Verantwortung Gesundheit ist die Voraussetzung für eine freies und erfülltes Leben eines jeden Menschen. Die Gesundheitspolitik ist deshalb eine der zentralen Aufgaben des Staates. Das deutsche Gesundheitssystem hat über lange Zeit einen weltweit anerkannt hohen Maßstab in der Versorgung von Kranken gesetzt. Durch seine heutigen Strukturen und eine quasi monopolisierte Erbringung von Versicherungs- und Versorgungsleistungen hat sich das System jedoch zunehmend selbst blockiert. Trotz hoher Aufwendungen der Versicherten und einer herausragenden Forschungsleistung erreicht das System als ganzes oftmals nur noch ein mittelmäßiges Leistungsniveau. Der Schlüssel zu einer Verbesserung der Versorgung der Patienten kann nicht in der Einschränkung von Leistungen oder einer Erhöhung der Versicherungsbeiträge liegen. Er liegt vielmehr in der Nutzung der immensen Effizienzressourcen, die im System enthalten sind. Die Einführung eines "solidarischen Wettbewerbs" im Gesundheitssystem ist deshalb der richtige Weg, den Menschen in Deutschland jene Versorgung zu garantieren, die sie aufgrund ihrer Versicherungsbeiträge und des medizinischen Wissenstandes verdient haben. Den Rahmen für eine solidarische Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen zu schaffen, bedeutet, einen kontrollierten Wettbewerb um Qualität und Preis zwischen den verschiedenen Gruppen von Anbietern von Gesundheitsleistungen einzuführen. Dabei wird nicht der Umfang der Leistungen, sondern die Art, wie diese Leistungen erbracht werden, der entscheidende Faktor des solidarischen Wettbewerbs sein. Auf diese Weise kann das Prinzip des umfassenden Gesundheitsschutzes im Rahmen eines solidarisch finanzierten Krankenversicherungswesens gesichert werden. Marktwirtschaft und soziale Sicherung miteinander verbinden - dieses Prinzip hat Deutschland zu einer der stabilsten und angesehensten Wirtschaftsordnungen der Welt gemacht. Es ist Zeit, diese Prinzipien nun auch im deutschen Gesundheitswesen zu nutzen. Zum Wohle der Patienten, zum Wohle der vielen Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, und nicht zuletzt zum Wohle des Gemeinwesens, das die Lasten der bestehenden Selbstblockade mitzutragen hat. Modernisierung und soziale Verantwortung - diese beiden Prinzipien gehören zusammen, wenn die Menschen den notwendigen Wandel akzeptieren sollen. Das vorgelegte Papier zeigt den Weg, wie die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems in sozialer Verantwortung gestaltet werden kann. [ document info ] Copyright Frankfurter Rundschau 2001 Dokument erstellt am um 21:06:04 Uhr Erscheinungsdatum

84 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht

85 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Peter O. Oberender Jürgen Zerth Wachstumsmarkt Gesundheit 3., grundlegend überarbeitete und aktualisierte Auflage mit 21 Abbildungen und 5 Tabellen und einem Glossar Lucius & Lucius Stuttgart

86 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Die Autoren: Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Oberender Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie Universität Bayreuth Universitätsstraße Bayreuth PD Dr. Jürgen Zerth Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie Universität Bayreuth Universitätsstraße Bayreuth Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar ISBN (Lucius & Lucius) ISBN (UTB) Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbh Stuttgart 2010 Gerokstr. 51 D Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: Fa. Pustet, Ulm Printed in Germany UTB-Bestellnummer:

87 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Vorwort zur dritten Auflage Das Gesundheitswesen ist im 21. Jahrhundert eine ständige Reformbaustelle geblieben. Gerade die fortschreitende Frage, wie die Versorgung in einer älter werdenden Bevölkerung gesichert werden kann, bleibt sowohl finanzierungs- als auch versorgungsseitig weiterhin größtenteils unbeantwortet. Auch wenn im Fortgang jüngerer Gesundheitsreformen die Ausgestaltung eines regulierten Wettbewerbs in Ansätzen erkennbar ist, zeigt sich doch die Problematik eines institutionell abgestimmten Reformkonzepts, das insbesondere die verschiedenen Anreizebenen der Beteiligten adäquat berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund und auch angesichts der Tatsache, dass die zweite Auflage in der Zwischenzeit schon länger vergriffen ist, stand eine Neuauflage des Wachstumsmarktes an. In bewährter Weise wurden einerseits die jüngeren gesundheitspolitischen Entwicklungen dargestellt und gesundheitsökonomisch analysiert. Andererseits wurde das gesamte Konzept gestrafft und versucht, die Anreizperspektive der Beteiligten in den Vordergrund zu rücken. Dies zeigt sich vor allem in Kapitel sechs, das verschiedene Reformoptionen beschreibt, als auch in der grundsätzlichen Überarbeitung des siebten Kapitels zur Gesundheitswirtschaft. An dieser Stelle bedanken sich die Verfasser vor allem bei der umfänglichen Unterstütztung von Herrn Maximilian Mai, B.Sc. Gesundheitsökonomie, der neben der Mitarbeit bei der Datenrecherche insbesondere bei der Vereinheitlichung des Layouts mitgewirkt hat. Dank gilt auch Herrn Diplom-Gesundheitsökonom Andreas Götz für den Abgleich aktueller statistischer Zahlen. Herrn cand. rer. pol. Henning Eichhorst gilt Dank für die Mitwirkung an der redaktionellen Endfassung. Bayreuth, im August 2010 Peter O. Oberender Jürgen Zerth

88 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Inhalt 5 Inhalt I Einleitung... 9 II Gesundheit als Gut II.1 Gesundheit zwischen Bedarf und Nachfrage II.2 Die Bedeutung des Versicherungssystems II.3 Zur Notwendigkeit einer Regulierung von Gesundheitsleistungen III Sicherheit im Krankheitsfall - Wie lange noch? III.1 Grundprinzipien der Krankenversicherung III.1.1 Krankenversicherung als Daseinsvorsorge III.1.2 Das deutsche Krankenversicherungssystem III.2 Struktur der Sicherung III.2.1 Versicherten- und Mitgliederstruktur III.2.2 Ausgabenstruktur der Gesetzlichen Krankenversicherung - Diagnose: Schieflage III.3 Das Dilemma eines Wachstumsmarktes III.3.1 Zielsetzungen der Gesundheitspolitik III.3.2 Immanente Steuerungsmängel im GKV-System III Versicherungsinduzierte Nachfrage nach Gesundheitsgütern III Synthese: Der Teufelskreis im Gesundheitswesen. 56 III.3.3 Organisationsdefizite der GKV III.3.4 Probleme der Angebotsstruktur IV Lösungsversuche: Anspruch und Wirklichkeit IV.1 Kriterien einer kritischen Würdigung IV.2 Kostendämpfungsgesetze IV.2.1 Maßnahmen IV.2.2 Ergebnisse und Bewertung IV.3 Gesundheits-Reform-Gesetz (GRG) IV.3.1 Zielvorstellungen und Maßnahmen IV.3.2 Bewertung IV.4 Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) IV.4.1 Maßnahmen und Ziele IV.4.2 Würdigung der Maßnahmen IV.5 Neuordnungsgesetze IV.5.1 Maßnahmen und Ziele IV.5.2 Würdigung der Maßnahmen... 87

89 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 6 Inhalt IV.6 Gesundheitsreform IV.6.1 Maßnahmen und Ziele IV.6.2 Bewertung der Maßnahmen IV.7 Reform des Risikostrukturausgleichs IV.7.1 Maßnahmen und Ziele IV.7.2 Bewertung der Maßnahmen IV.8 Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) IV.8.1 Maßnahmen und Ziele IV.8.2 Bewertung der Maßnahmen IV.9 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) IV.9.1 Maßnahmen und Ziele IV.9.2 Ergebnisse und Bewertung IV.10 Synthese und Zwischenergebnis V Herausforderungen für das Gesundheitswesen V.1 Sozioökonomische Herausforderungen V.1.1 Demographische Entwicklung V.1.2 Technischer Fortschritt Risiko oder Chance? V.2 Politisch-rechtliche Herausforderungen V.2.1 Europäische Union: Herausforderung und Chance V.2.2 Einfluss des Wählerstimmenmarktes V Spannungsfeld zwischen Subsidiarität und Solidarität 131 V Institutionelles Defizit in der Gesundheitspolitik V.3 Synthese aus Sicht des Sicherungssystems VI Reform des Gesundheitswesen: Szenarien VI.1 Diskussion jeder Reform: Grundfrage des Rationierungsphänomens 142 VI.2 Zur Reformdiskussion im deutschen Gesundheitswesen VI.3 Weiterentwicklung des Solidarprinzips VI.3.1 Mitgliedschaft und Versicherungspflicht VI Bürgerversicherungsmodelle VI Gesundheitsprämienmodelle VI Synthese VI.3.2 Gestaltung des Versicherungsverhältnisses VI Bürgerversicherungsmodelle VI Gesundheitsprämienmodelle VI Ausgestaltung der Finanzierung: eine Synthese

90 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Inhalt 7 VI.3.3 Zwischenergebnis: Problem der Nachhaltigkeit VI.4 Das Grundproblem der Solidaritätsdefinition VI.4.1 Ein alternatives Versicherungssystem VI.4.2 Konzeption eines sozialen Schutzes VI.4.3 Zur nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitswesens. 170 VI.5 Zusammenfassung: Die Frage nach der nachhaltigen Leitidee VII Wachstumsbranche Gesundheit: Perspektive und einzelwirtschaftlicher Ausblick VII.1 Langfristige Perspektive: Ein nachfragegesteuertes Gesundheitswesen VII.1.1 Veränderung der Versorgungsstrukturen VII.1.2 Die Problematik der Nutzenbewertung VII.2 Sozioökonomie der Gesundheitswirtschaft VII.3 Nachfrageentwicklung VII.4 Die Konsequenzen für die Leistungserstellung VII.5 Die veränderte Bedeutung der Eigenverantwortung und Prävention VII.6 Pflege VIII Resümee IX Glossar X Literaturhinweise XI Abkürzungsverzeichnis XII Verzeichnis der Abbildungen XIII Verzeichnis der Tabellen XIV Verzeichnis der Übersichten XV Stichwortverzeichnis

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92 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Einleitung 9 I Einleitung Die Frage nach einer Reform der Gesundheitsversorgung beherrscht die öffentliche Diskussion nun mehr seit über 30 Jahren. Gerade in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts ist der Zeitraum zwischen einer Gesundheitsreform zur nächsten immer geringer geworden. Gerade in jüngerer Zeit steht einerseits die Auseinandersetzung mit dem Gesundheitsfonds im Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung, als auch andererseits die wachsende Rolle des Patienten als Akteur des Gesundheitswesens. 1 Insbesondere kommt in allen öffentlichen Debatten immer wieder der Vorwurf oder Einwand, Gesundheit lasse sich nicht als (rein) ökonomische Kategorie behandeln und im Gesundheitswesen könne kein oder nur ein sehr eingeschränkter Markt möglich sein. Diese Fragestellung kennzeichnet seit vielen Jahren die Auseinandersetzung in der theoretischen wie angewandten Gesundheitsökonomie, und obwohl es eine Legion unterschiedlicher Beiträge dazu gibt, wird die Problemstellung, gerade angesichts der tendenziell nationalen Ausgestaltungsvarianten von Gesundheitssystemen immer wieder neu aufgeworfen (vgl. dazu beispielsweise Pauly 1988). Trotzdem scheint den politisch Handelnden bewusst zu sein, dass angesichts der demographischen und medizintechnischen Veränderungen das gegenwärtig noch prioritäre politische Ziel der Beitragssatzstabilität weitgehend unrealistisch und kaum noch glaubwürdig erscheint. Die Politik steht vor der Entscheidung, entweder den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) drastisch zu kürzen und insbesondere Preis- und Mengenrationierun- 1 Vgl. als Überblick im Kontext consumer-driven health care u. a. Herrick In der Debatte um eine stärke Patienten- oder gar Kundenorientierung im Gesundheitswesen spielen viele Aspekte der Informationsverteilung, der Patientenrechte sowie adäquate ökonomische Anreize eine Rolle, die im vorliegenden Aufsatz im Detail nicht ergründet werden können.

93 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 10 Einleitung gen vorzunehmen oder in eine Diskussion um die Reform des gesamten sozialen Sicherungssystems im Gesundheitswesen einzusteigen. Neben der Frage, wie eine langfristige Sicherung der Finanzierung des Gesundheitswesens organisiert werden soll, existieren zugleich mannigfaltige Mängel in der Versorgung mit Gesundheitsleistungen. Hierbei sind insbesondere die Unterversorgung im Bereich der psychosozialen Morbidität sowie die noch immer mangelnde Verzahnung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu nennen. Es zeigen sich vielfältige Symptome, deren Ursachen unbedingt einer Behandlung bedürfen. Von 1970 bis 2009 stieg das Sozialbudget der Bundesrepublik Deutschland von 86,3 Mrd. auf über 753,9 Mrd. an (vgl. Tabelle 1), was einem Zuwachs auf das 8,7fache entspricht. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg während des gleichen Zeitraums von auf was eine Zunahme auf das 1,99-fache darstellt. Damit wuchs gleichzeitig der Anteil des Sozialbudgets am Bruttosozialprodukt von 25 % auf rund 31,0 %.

94 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Einleitung 11 Tab. 1: Sozialbudget (in Mrd. ) der Bundesrepublik Deutschland 1970 (alte Bundesländer) und 2009 im Vergleich 2 Sozialausgaben insgesamt Zunahme 86,3 753,9 8,7 - fache Rentenversicherung 26,5 250,2 9,4 - fache Krankenversicherung 12,9 168,7 13,1 - fache Unfallversicherung 2,0 11,4 5,7 - fache Arbeitslosenförderung und Arbeitslosenversicherung 1,8 85,9 47,7 - fache Pflegeversicherung - 20,3 - Beamtenpensionen 8,1 40,5 5,0 - fache Entgeltfortzahlung 6,5 27,9 4,3 - fache Kindergeld 1,5 39,3 24,3 - fache Wohngeld 0,3 1,7 5,7 - fache Sozialhilfe 1,7 24,6 14,5 - fache Sozialquote in % des BIP 24,5 31,3 BIP je Einwohner ,99 - fache Quelle: Eigene Darstellung Institut der deutschen Wirtschaft (2010), S. 17 und S. 75, BMAS (2010) 2 Die Angaben für 1970 können sich nur auf die alten Bundesländer beziehen. Angaben 2009 nach Schätzung BMAS.

95 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 12 Einleitung In diesem Zusammenhang muss bedacht werden, dass in der Vergangenheit die Beitragssätze zur Sozialversicherung (Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosen- und Rentenversicherung) permanent angestiegen sind: Mussten Arbeitnehmer und Arbeitgeber 1950 noch insgesamt 19,8 % des Bruttoeinkommens an die Sozialversicherung abführen, so waren es ,05 %. Dabei hat sich der durchschnittliche Beitragssatz zur GKV von 5,8 % (1950) auf 14,9 % (2008) mehr als verdoppelt (vgl. Abbildung 1). Abb. 1: Beitragssätze der Sozialversicherung in % (Arbeitgeber und Arbeitnehmeranteil) 40,0% 41,0% 41,9% 41,9% 40,6% 40,1% 39,6% 35,6% 34,6% 32,4% 18,6% 19,3% 19,5% 19,5% 19,9% 19,9% 30,5% 19,9% 18,7% 18,7% 26,5% 24,3% 18,0% 23,8% 18,0% 6,5% 6,5% 6,5% 6,5% 4,2% 19,8% 20,1% 3,3% 2,8% 10,0% 11,0% 14,0% 14,0% 17,0% 3,0% 4,1% 4,3% 13,2% 13,5% 14,2% 14,2% 14,8% 14,9% 14,9% 4,0% 3,0% 2,0% 1,3% 2,0% 1,3% 5,8% 6,1% 7,8% 9,0% 8,2% 10,5% 11,4% 11,8% 12,6% ,7% 1,7% 1,7% 1,7% 1,7% 1,95% 1,95% Pflegeversicherung Arbeitslosenversicherung Krankenversicherung Rentenversicherung Quelle: Eigene Darstellung, Institut der deutschen Wirtschaft (2009), S. 76. Diese Entwicklung ist um so bemerkenswerter, da gleichzeitig die Beitragsbemessungsgrenze, d. h. die jährliche Einkommensgrenze, bis zu der für den einzelnen Bürger Versicherungspflicht in der Gesetzlichen Krankenversicherung besteht, von DM Jahres-

96 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Einleitung 13 bruttoeinkommen (1950) auf (2009) kontinuierlich angehoben wurde 3. Für viele handelt es sich bei den steigenden Beitragssätzen zwar um eine unerfreuliche und unerwünschte Erscheinung, dennoch beugen sie sich dieser Entwicklung schicksalsergeben. In Wirklichkeit liegt hingegen keine Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung vor. Vielmehr stellt sie das Ergebnis falscher Rahmenbedingungen, insbesondere falsch gesetzter Anreizstrukturen für die Beteiligten, Versicherten und Leistungsanbieter, dar. In diesem Zusammenhang muss auch bedacht werden, dass durch die steigenden Beitragssätze zur Sozialversicherung die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland zunehmend in Gefahr gerät: Steigende Beitragssätze führen zu steigenden Lohnnebenkosten. Durch die Finanzierung über das Umlageverfahren müssen steigende Ausgaben durch steigende Einnahmen (Produkt aus durchschnittlichem Beitragssatz und Grundlohnsumme der gesetzlich Versicherten) gedeckt werden. Wächst die Grundlohnsumme nicht in gleichem Maße wie die Ausgaben, so müssen unter Beachtung der weiteren Nebenbedingungen die Beitragssätze erhöht werden, was zur Gefährdung von Arbeitsplätzen führt. 4 Das von der Politik vorgegebene Prinzip der Beitragssatzstabilität versucht, diese Kette zu durchbrechen, scheitert letztlich aber daran, 3 Die Beitragsbemessungsgrenze in der GKV, das heißt das höchste Bruttoentgelt für das der Beitrag erhoben wird, liegt bei im Jahr (2010). 4 Die Lohnnebenkosten setzen sich allerdings aus vielen Faktoren zusammen. Die Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung haben an den Lohnnebenkosten nach einer Erhebung von IGES/BASYS nur einen Anteil von ca. 12 % (vgl. Ecker et. al. 2004). Da aber auch alle anderen Sozialversicherungsbeiträge zu den Lohnnebenkosten zählen und auch in Zukunft von einem Anstieg der Lohnnebenkosten ausgegangen werden kann, bleibt die Stabilisierung der Sozialabgaben bzw. ihre Entkoppelung von den Arbeitskosten eine wichtige Aufgabe. Weiterhin sind ökonomisch auch die Auswirkungen von Beitragssatzerhöhungen auf das Arbeitsangebot zu beachten, da Beitragssatzsteigerungen die Grenzabgabenbelastung erhöhen.

97 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 14 Einleitung dass die wirtschafts- und beschäftigungspolitische Dynamik des Gesundheitswesens unberücksichtigt bleiben. Damit stellt sich im Vorfeld einer jeden Reformüberlegung die Frage nach den Zielsetzungen des Gesundheitssystems und nach den Grundprinzipien, auf denen sich das Gesundheitssystem gründet. Eine Reformdebatte, die jedoch keinem Steuerungsoptimismus ausgesetzt sein soll, hat zunächst Rückgriff auf die grundlegenden Basisbeziehungen im Gesundheitswesen zu nehmen. Adäquate Maßnahmen zur Behebung der gegenwärtigen Schwierigkeiten können jedoch nur nach der vollständigen Aufdeckung der Ursachen vorgeschlagen und umgesetzt werden. Es werden deshalb zunächst im Rahmen einer Diagnose diese Ursachen dargestellt. Anschließend gilt es, die bisherigen staatlichen Maßnahmen vorzustellen und einer kritischen Analyse zu unterziehen. Schließlich werden die zukünftigen Herausforderungen an das soziale Sicherungssystem, insbesondere an das Gesundheitswesen, aufgezeigt. Im Rahmen der Diskussion von Reformalternativen werden schließlich Maßnahmen entwickelt, die zur Genesung des Patienten Gesundheitswesen beitragen können; vor allem gilt es auch darzulegen, unter welchen Bedingungen das enorme Wachstumspotential des Gesundheitsbereichs optimal zum Vorteil aller genutzt werden kann. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Beantwortung folgender Fragen: Welche institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen bestehen im deutschen Gesundheitswesen? Wie setzt sich die Gruppe der Leistungserbringer (Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser etc.) zusammen? Welche charakteristischen Verhaltensmuster weisen die Versicherten (Patienten) und die Leistungserbringer auf? Welche Ergebnisse stellen sich im deutschen Gesundheitswesen ein? Welche Ursachen liegen den vielfältigen Mängeln und Defiziten zugrunde?

98 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Einleitung 15 Welche Folgerungen sind aus dieser Diagnose zu ziehen? Mit welchen zukünftigen Herausforderungen wird das deutsche Gesundheitswesen konfrontiert werden? Welchen Einfluss wird die Bevölkerungsentwicklung auf die künftige Ausgestaltung unseres Gesundheitssystems nehmen? Warum ist eine ursachenadäquate Reform der GKV unumgänglich? Warum ist eine Weiterentwicklung des Systems der GKV notwendig? Wie sind die bisherigen staatlichen Maßnahmen zur Behebung der Probleme im Gesundheitswesen ordnungspolitisch, d. h. unter Bezugnahme auf unsere freiheitlich und marktwirtschaftlich organisierte Grundordnung, zu bewerten? Was ist der Anspruch und wie ist die Wirklichkeit der gesetzlichen Maßnahmen? Welche Reformmöglichkeiten stehen zur Gesundung der GKV zur Verfügung? Welche Maßnahmen können politisch erwartet werden? Ist das Gesundheitswesen in der Zukunft überhaupt noch finanzierbar? Unter welchen Bedingungen (Voraussetzungen) können die künftigen Wachstums- und Beschäftigungspotentiale des Gesundheitsbereiches optimal genutzt werden? Welchen Einfluss hat die europäische Integration auf unser Gesundheitswesen? Wie wird sich ein Wettbewerb der Systeme auswirken? Es handelt sich um eine Fülle von Fragen. Die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Dramatik wird zusätzlich verstärkt durch die Probleme der Arbeitslosigkeit, der europäischen Integration sowie der politischen und wirtschaftlichen, insbesondere währungspoliti-

99 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 16 Einleitung schen, Instabilitäten in Europa. So wird häufig von einer der größten Herausforderungen in der deutschen Sozialgeschichte gesprochen. Der Teufelskreis aus Beitragssatzerhöhung, zunehmendem Anspruchsdenken und daraus resultierender größerer Inanspruchnahme, steigenden Gesundheitsausgaben und somit weiter steigenden Beitragssätzen wird von vielen als eine unausweichliche Zwangsläufigkeit des sozialen Sicherungssystems gesehen. Gibt es aus dem scheinbar Unvermeintlichen keinen Ausweg? Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, damit ein im Grunde leistungsfähiges Gesundheitssystem dies auch in Zukunft noch bleibt? Bemerkenswert an der gegenwärtigen Diskussion des Kostenfiebers im Gesundheitswesen ist, dass hierbei häufig übersehen wird, dass Gesundheitskosten und Gesundheitsausgaben auch eine volkswirtschaftliche Wertschöpfung darstellen. Zugleich nimmt die Bereitschaft zu, sich über die Gesetzliche Krankenversicherung hinaus Gesundheitsleistungen zu verschaffen. Hierauf deuten die Entwicklungen im Bereich der Anbieter von nicht kassenerstattungsfähigen Leistungen hin, wie beispielsweise die expansive Entwicklung auf dem Selbstmedikationsmarkt. Aufgrund zunehmender individueller Vorsorgebestrebungen, eines veränderten Gesundheitsbewusstseins und nicht zuletzt wegen der verstärkten politischen Bemühungen um eine Neubestimmung des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung entwickelt sich das Gesundheitswesen zu einer ausgeprägten Wachstumsbranche. Häufig wird in diesem Zusammenhang zu Recht auch von der Gesundheitswirtschaft gesprochen. Auch dieser Aspekt verdient eine besondere Betrachtung und gibt dem vorliegenden Band seinen Namen.

100 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Gesundheit als Gut 17 II Gesundheit als Gut II.1 Gesundheit zwischen Bedarf und Nachfrage In einem volkswirtschaftlichen Kontext entsteht eine (kaufkräftige) Nachfrage aus der Berücksichtigung individueller, subjektiver Präferenzen über ein bestimmtes Güterbündel unter der Nebenbedingung der Knappheitsrestriktion, die in der Regel mit dem Haushaltsbudget abgegrenzt wird. Grundsätzlich lässt sich eine derartige einfache Nachfrage auch auf Gesundheitsleistungen konstruieren, vor allem da die Erfahrung, was letztendlich Gesundheit auf individueller Ebene ist, häufig als graduelle, subjektive Erfahrung deutlich wird. Gleichwohl ist sich die ökonomische Theorie der Gesundheitsnachfrage bewusst, dass zwar die Präferenzen der Patienten subjektiv und damit einer Objektivierung nicht zugänglich sind, dass die Restriktionen für die Ausbildung der Präferenzen und letztendlich die Interpretation der Gesundheitsbedürfnisse bestimmten Besonderheiten ausgesetzt sind. Anhand einer theoretischen Überlegung, die dem Vorgehen von Hurley 2000 folgt, lässt sich schreiben, dass der individuelle Nutzen eines Patienten idealtypisch vom Konsum und der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen abhängig ist. Mit dieser Abgrenzung lässt sich eine einfache substitutive Beziehung zwischen Gesundheitsleistungen und anderen Konsumgütern herleiten. Gleichwohl gibt es noch den produktiven Aspekt von Gesundheit (vgl. dazu die Ausführungen von Grossman 1972), der die Gesundheitsnachfrage in einen investiven und konsumtiven Part unterteilt. Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ist induziert durch die Fähigkeit, den individuellen Gesundheitskapitalstock GK zu nutzen. Darüber hinaus erlaubt der Gesundheitskapitalstock auch erst den Konsum anderer Güter und Dienstleistungen. Somit gilt, dass der Gesundheitskapitalstock Grundlage für die Erwerbsfähigkeit und damit für die Erlangung eines verfügbaren Einkommens ist.

101 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 18 Gesundheit als Gut Der Gesundheitskapitalstock selbst ist abhängig von der Ausgestaltung des Gesundheitssystems, was als Proxy für die technischen und organisatorischen Fähigkeiten des Gesundheitswesens interpretiert werden kann. Eine Mehrnachfrage nach Gesundheitsleistungen erhöht ceteris paribus den Patientennutzen, jedoch ist bei Gesundheitsleistungen auch ein abnehmender Grenznutzen zu konstatieren. Gerade letztgenannter Effekt ist abhängig vom Zusammenhang zum Gesundheitskapital: Der Zusammenhang zwischen Gesundheitsnachfrage im konsumtiven Sinn als auch im investiven Sinn kann konform mit der Idee von Pauly 1988 diskutiert werden, der die Nachfrage nach Gesundheit in eine originäre und sekundäre Komponente unterscheidet. Der Patient kann letztendlich nur seine individuelle Präferenz bezüglich eines Gesundheitszustandes einschätzen und wird aber im konkreten Gesundheitssystem im Arzt-Patienten-Kontakt in den meisten Fällen eine eher abstrakte Nachfrage nach Heilung oder Gesundung äußern. Die Interpretation der abstrakten Nachfrage und vor allem die Konkretisierung in adäquate Gesundheitsleistungen ist eine typische ärztliche Aufgabe und lässt sich als Sekundärnachfrage deuten, die mit einem Informationsvorsprung der medizinische Leistungserbringer verbunden ist. Ohne auf Detailprobleme im Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung eingehen zu wollen, wird doch unmittelbar deutlich, dass die Forderung nach einer stärkeren nachfrageseitigen Orientierung des Gesundheitswesen vor allem im Kontext der Arzt-Patienten- Beziehung ansetzt, da letztendlich die unmittelbare Gesundheitsproduktion dort abläuft. II.2 Die Bedeutung des Versicherungssystems Gerade in versichertenbezogenen Systemen steht die Krankenversicherung nicht nur als anonymer Kostenträger außerhalb der Arzt- Patienten-Beziehung, sondern kann integrativer Teil dieser Leistungsgestaltung sein. Bei einem Modell eines versicherungszen-

102 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Gesundheit als Gut 19 trierten Gesundheitswesens wird die Krankenversicherung in der Regel nicht nur als Kostenerstatter tätig, sondern übernimmt als Agent des Prinzipals Patient die Aufgabe, qualifizierte und preiswerte Leistungserbringer auszuwählen. Diese Übernahme der Qualitätsgarantie von Seiten der Versicherung ist insbesondere dann für den Patienten vorteilhaft, wenn die Krankenversicherung einen nennenswerten Vorteil im Kontext des Wissens über Qualität und Kosten der Leistungserbringung hat. 5 Gleichwohl wird der Patient ceteris paribus eingeschränkt, je stärker die Krankenversicherung direkt Einfluss auf die Leistungsgestaltung nimmt und insbesondere mit eigenen Investitionen an der Ausgestaltung von Leistungsversprechen beteiligt ist. 6 Mit dieser Einschränkung der Arztwahl ist jedoch nicht zwangsläufig ein Widerspruch mit der Idee eines nachfrage- oder patientenorientierten Gesundheitswesens verbunden, wenn die Beschränkung im unmittelbaren Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient mit einer Ausweitung von Optionen im Versicherungsvertrag verknüpft werden kann. Wie im theoretischen Kontext bereits abgebildet wurde, wird die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen sowohl vom präferenzorientierten Part der Nachfrageentscheidung als auch vom Einfluss des Gesundheitswesens beeinflusst. So kann ohne Beschränkung der Allgemeinheit die Schlussfolgerung getroffen werden, dass wettbewerbspolitische Überlegungen einerseits an den möglich unterschiedlichen Zielsetzungen von Arzt und Patienten ansetzen müssen namentlich den Kategorien Einkommen und Qualität und andererseits an der Kontrolle der ärztlichen Leistungserstellung. Diese ist aus wettbewerbspolitischer Sicht abhängig von den Marktbedingungen. Als Annährung an die Marktstruktur kann vermutet werden, dass bei ärztlichen Leistungserbrin- 5 Segal formuliert im Kontext möglicher Hemmnisse einer stärkeren Patientenbeteiligung, dass eine zwingende Notwendigkeit für patient empowerment in der Auseinandersetzung mit der Verfügbarkeit und des Umgangs mit Patienteninformationen stehen würde (1998, S. 41). 6 Vgl. zum Modell eines versicherungsbasierten Gesundheitssystems u. a. Oberender et. al

103 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 20 Gesundheit als Gut gern die Marktform der monopolistischen Konkurrenz das Marktgeschehen gut abbildet. In der Literatur gibt es dazu zwar unterschiedliche Positionen 7, es erscheint jedoch nur wichtig, dass sich durch den Dienstleistungscharakter der medizinischen Leistungserbringung eine unmittelbare Substitution der Leistungen nicht ohne Mühen der Inanspruchnahme, d. h. Transaktionskosten, realisieren lässt. So kann die Annahme gelten, dass jeder medizinische Leistungserbringer innerhalb eines regional abgrenzten Marktes über Marktmacht verfügt und diese in Form von Produkt- und Preisdifferenzierung nutzen kann und gleichzeitig die Substitutionsmöglichkeiten sowie die Kosten der Abwanderung aus Sicht des Patienten nicht unbegrenzt sind. Darüber hinaus führen prospektive Vergütungssysteme dazu, dass Leistungserbringer einen Anreiz haben, über Kooperationsstrategien Spezialisierungsvorteile in Form von economies of scale und vor allem economies of scope zu erzielen 8, was gegebenenfalls die regionale Marktmacht noch erhöhen kann. Ausgehend von diesen Überlegungen kann die Schlussfolgerung getroffen werden, dass es zwischen den verschiedenen medizinischen Anbietern sowohl einen Wettbewerb zwischen Produktangeboten aber auch um Standorte gibt. Krankenhäuser und niedergelassene Fachärzte stehen dabei, ausgehend von der Abgrenzung der Abbildung 2 in einem vertikalen Zusammenhang der Wertschöpfungskette. Wenn dabei zu berücksichtigen ist, dass die erweiterte Form der Definition einer Krankenhausleistung gilt, nach der das Krankenhaus innerhalb eines räumlichen und zeitlichen Kontexts spezialisierte Leistungen mit hoher Angebotselastizität anbieten kann, ist 7 Vgl. zur Hypothese einer monopolistischen Konkurrenz beispielsweise Gaynor/Vogt (2000). Auf der Problematik der theoretischen Grundlage verweisen insbesondere Zweifel und Grandchamp (2003, S. 49 ff.). 8 Eine stärkere regionale Angebotssituation wird durch Formen vertikaler Integration begünstigt, vgl. dazu Gaynor (2006, S. 175 ff.). Als Beispiel mögen Kooperationsverbünde zwischen Krankenhäuser höherer Versorgungsstufe, die überregionale Versorgung absichern, mit Krankenhäusern niedriger Versorgungsstufe gelten, deren Hauptaufgabe in der Absicherung der regionalen Notfallversorgung liegt.

104 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Gesundheit als Gut 21 es nicht unplausibel, Fachärzte innerhalb eines definierten räumlichen Zuschnitts ( Kaskade ) um das Krankenhaus zu positionieren (vgl. Abbildung 2). 9 Abb. 2: Kaskade einer räumlichen Versorgungsstruktur Quelle: APO PFL SFH HA HA SFH PFL FA FA HA Eigene Darstellung. FA APO APO HA FA KH FA FA FA FA HA SFH Gerade im Kontext einer fortschreitenden Spezialisierung der medizinischen Versorgung kann es aus Sicht des Patienten ein Vorteil sein, die Qualitätsentscheidung auf einen Kostenträger zu delegieren, der diese Entscheidung nicht nur formal sicherstellt, wie es im allgemeinen Kollektivvertragssystem in Deutschland üblich war, sondern der aktiv versucht, durch Auswahl und Steuerung der Leis- HA SFH HA HA PFL APO=Apotheke HA=Hausarzt FA=Facharzt KH=Krankenhaus SFH=Sanitätsfachhandel PFL=Pflegedienst PFL APO 9 Die idealtypische Abgrenzung geht von einem Krankenhaus innerhalb einer räumlich abgegrenzten Struktur aus, was für Ballungsgebiete sicherlich nicht zutreffend ist. Gleichwohl haben Krankenhäuser auf ihr räumliches Umfeld unmittelbaren Einfluss, da das Vorhandensein einer medizinischen Kapazität als potenziell nutzenstiftend interpretiert werden kann (vgl. Breyer et. al. 2005, S. 178).

105 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 22 Gesundheit als Gut tungserbringer, Wettbewerbs- und Qualitätsvorteile im Vergleich zu anderen Versicherungsunternehmen zu generieren. Aus Sicht des einzelnen Patienten kann eine Einschränkung des Rechts zur freien Arztwahl beispielsweise dann wohlfahrtserhöhend sein, wenn der Erwartungsnutzen aus einer spezialisierten Behandlungsstruktur, die von einer Versicherung angeboten wird, die Einschränkungen aus der Reduzierung freier Arztwahl und den u. U. höheren Wegekosten überkompensiert. Gerade im Kontext des Einsatzes hochwertiger medizinischer Innovationen lässt sich die Annahme plausibel begründen, dass im Zweifel eine spezialisierte fokussierte Versorgung bei ausgesuchten Spezialisten auch aus Sicht des Patienten gegenüber einem ungeordneten Behandlungsangebot bevorzugt wird. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass parallel dazu die Präferenz für wohnortnahe Versorgung bei vielen Patienten bestehen wird, insbesondere dann, wenn es sich um weniger spezielle, fakultative Behandlungsanlässe handelt, sondern eher um Fragen der Erstversorgung. Die aufgeführten Bedingungskonstellationen lassen sich auch dahingehend interpretieren, dass im Zuge einer weiteren Fortentwicklung des medizinisch-technischen Fortschritts und der damit einhergehenden Problematik einer Vergrößerung des Möglichkeitenraumes in der Medizin (vgl. Schneider et. al. 2008a), der Zusammenhang zwischen generellem Anspruch auf eine solidarisch gewährte Regelversorgung und die Frage der Umsetzung im Kontext eines Versicherungssystems an Bedeutung gewinnen werden. 10 Die Krankenversicherung, soweit sie sich als mitverantwortlich bei der Steuerung und Kontrolle des Leistungsgeschehens begreift, ist daher nicht nur an 10 Es sei an dieser Stelle auf die Literatur zur Bedeutung der demographischen Entwicklung sowie auf die Einflussfaktoren des medizinischtechnischen Fortschritts verwiesen. Exemplarisch werden diese Zusammenhänge beispielsweise bei Zweifel 2004 oder mit einem makroökonomischen Blickwinkel bei Ulrich 2006 aufgearbeitet. Gerade die Ambivalenz zwischen den wachsenden Behandlungsnotwendigkeiten einerseits und den veränderten Präferenzen andererseits führt manche Autoren dazu, vom Übergang des Gesundheitswesens in eine Gesundheitswirtschaft zu sprechen.

106 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Gesundheit als Gut 23 der Umsetzung einer Regelversorgung beteiligt, sondern wird, je stärker die Differenzierung im Versorgungswettbewerb der Krankenversicherung zutreffen sollte, an der Definition und Fortentwicklung der Regelversorgung beitragen können. II.3 Zur Notwendigkeit einer Regulierung von Gesundheitsleistungen Im Abschnitt II.1 wurde zwischen der primären Nachfrage nach Gesundheit und der abgeleiteten Nachfrage nach Gesundheitsleistungen unterschieden. Letztere können als Güter bezeichnet werden, die darauf gerichtet sind, ein Bedürfnis nach Gesundheit oder genauer: nach dem Erhalt oder der Wiederherstellung eines bestimmten Gesundheitszustandes zu befriedigen. Durch den Erwerb und den Einsatz dieser im Folgenden als Gesundheitsleistungen bezeichneten Güter (Beratungsleistungen, Rehabilitationsleistungen, stationäre Behandlungen, Medikamente, Hilfsmittel etc.) soll dieses Bedürfnis befriedigt werden. Dieses Phänomen der Gleichzeitigkeit des Konsums von Gesundheitsleistungen und der Produktion von Gesundheit wird auch als uno-actu-prinzip bezeichnet. Hierbei entspricht die Rolle der Gesundheitsleistungen derjenigen von Produktionsfaktoren (vgl. v. Schulenburg 1993, S. 77). Gesundheitsleistungen werden in der Literatur und in der Praxis häufig als besondere Güter bezeichnet, da die Koordination über Märkte nicht oder nur sehr unzureichend vonstattengehen kann. Eine andere Rechtfertigung von staatlichen Regulierungen findet sich in sozialpolitischen Argumenten, die eine notwendige Versorgung mit Gesundheitsgütern als Grundlage der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ansehen. Problematisch ist eine Vermischung beider Legitimationsarme, was in der praktizierten Gesundheitspolitik häufig passiert. Zunächst sollen daher die üblichen Argumente für ein Marktversagen im Gesundheitswesen vorgestellt und diskutiert werden (vgl. Neubauer 1988, 9 ff.): 1. Gesundheit produziert externe Effekte, die nicht über den Marktprozess ausgeglichen werden können (vgl. Blankart 2001, S.

107 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 24 Gesundheit als Gut 506). So führt beispielsweise eine erfolgreiche Impfung bei Krankheit nicht zum Erhalt der eigenen Gesundheit, sondern auch dazu, dass andere nicht angesteckt werden. Gleichzeitig würde dieser Nettovorteil für die Gesellschaft jedoch nicht adäquat in Preisen ausgedrückt und es könnte somit zu einer Unterversorgung mit Impfungen kommen, wenn allein der Marktprozess vorhanden wäre. Bei externen Effekten liegt also keine perfekte Verantwortungszuordnung auf den Märkten vor, da die Kosten oder die Nutzen einer Leistung nicht eindeutig zuordenbar sind und daher eine individuelle Internalisierung nicht möglich ist. 2. Eine Regulierung erscheint auch deswegen notwendig, weil die Informationen über Krankheiten und deren angemessene, erfolgreiche Behandlung asymmetrisch zwischen Anbietern von Gesundheitsleistungen und den Nachfragern verteilt sind. Nach dieser Argumentationslinie ist die Konsumentensouveränität des einzelnen Versicherten/Patienten derart eingeschränkt, so dass nicht mehr von einer marktwirtschaftlichen Steuerung ausgegangen werden, insbesondere könnte der Leistungserbringer den Patienten im Zweifel überfordern. 3. Häufig wird behauptet, dass Umfang und Ausmaß künftiger Erkrankungen systematisch unterschätzt werden (vgl. dazu Böhm- Bawerk 1961, S. 226 ff.). Aus diesem Grund liegt eine finanzielle Unterdeckung künftig notwendiger Ausgaben vor, so dass sich daraus ein Regulierungsbedarf ableiten lässt. Die angeführten Argumente gegen eine wettbewerbliche Steuerung im Gesundheitswesen sind jedoch nicht ausschließlich auf das Gesundheitswesen übertragbar, sondern finden Einzug in vielerlei Regulierungsdebatten. Ohne eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Legitimation von derartigen Regulierungen führen zu wollen, lassen sich folgende Argumente aus marktwirtschaftlicher Perspektive entgegenhalten. Gesundheitsleistungen sind private Güter im ökonomischen Sinn, da sich sowohl das Ausschlussprinzip als auch das Prinzip der Rivalität im Konsum realisieren lässt, d. h. eine Koordination von Gesundheitsleistungen über Märkte möglich ist. Gleichwohl existieren bei Gesundheitsleistungen, auch bei der Nutzung von Arzneimit-

108 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Gesundheit als Gut 25 teln, Wechselwirkungen, welche einen gewissen kollektiven Charakter aufweisen (vgl. Breyer et. al. 2005, S. 173 ff.). So ist es durchaus sachgerecht, davon auszugehen, dass Hygienestandards oder allgemeine Impfprogramme volkswirtschaftliche Kosten ersparen helfen und somit problemadäquat sein können; für die Gesellschaft ist somit ein positiver externer Effekt vorhanden. Zwingend ist daraus jedoch kein Marktversagen abzuleiten, da geprüft werden muss, ob die fehlende Internalisierung des externen Effektes ein Problem des Marktprozesses selbst ist oder die Spielregeln (Institutionen) für den Marktprozess geändert werden müssten. Beispielsweise könnte eine Lösung sein, dass der einzelne Patient im Marktprozess individuell gegen die Verbreitung des Ansteckungsrisikos haftet, was bei ansteckenden Krankheiten infolge der hohen Transaktionskosten 11 jedoch nicht sinnvoll erscheint, oder es ließe sich eine allgemeine Regel formulieren, die bei bestimmten Krankheiten eine Impfpflicht fordert. Unabhängig von der Ausgestaltung sind Markttransaktionen zwischen Anbietern und Nachfragern von Gesundheitsleistungen möglich, da durch eine Formulierung der Eigentumsund Haftungsregeln auf der Ebene der Rahmenordnung individuelle Rechte und Verantwortungsräume befördert werden können. Auch das Vorhandensein unterschiedlicher Grade individuell verfügbarer Information (asymmetrische Information) ist kein zwingendes Argument für ein generelles Marktversagen. Es ist vielmehr die Frage zu stellen, ob die Transaktionskosten aufgrund einer derartigen Informationsverteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt die Austauschbeziehungen derart behindern, dass Regulierungsbedarf vorhanden ist. Gleichwohl ist eine asymmetrische Informationsverteilung Kennzeichen vieler Marktbeziehungen und wird durch bestimmte Institutionen des Marktsystems wie Garantien, Standards usw. gelöst. Bei der Diskussion des Gesundheitswesens ist also weiterhin zu fragen, ob die Problematik der asymmetrischen Informationsvertei- 11 Im Gegensatz zur neoklassischen Vorstellung vollständiger Information sind bei der Durchsetzung von Markthandlungen die Durchsetzung von Rechtsregeln und die Übertragung von Verfügungsrechten zu organisieren (vgl. Williamson 1985).

109 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 26 Gesundheit als Gut lung nicht wiederum Resultat bestehender Regulierungen im System selbst ist. Bei Aufrechterhaltung des in Deutschland gültigen Sachleistungsprinzips, d. h. der Patient ist von der Kostenverantwortung entbunden, ist kaum ein Anreiz zur Herausbildung entsprechender Informationsmärkte vorhanden. Gleichwohl zeigt das Problem der asymmetrischen Informationsverteilung, welche marktkonformen Lösungswege möglich sind. Beispielsweise kann eine Krankenversicherung, die im Wettbewerb mit anderen Krankenversicherungsanbietern steht, gegenüber dem Leistungserbringer dem einzelnen Patienten als Informationsagent dienen und somit die Informationsasymmetrie zwischen Patient und Arzt abbauen helfen. Mit dem Einwand einer Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse ist auch kein Marktversagen im strengen Sinn festzustellen, da jeder einzelne Bürger grundsätzlich in der Lage ist, für künftige Bedürfnisse entweder Geldkapital anzusparen oder eine private Versicherung abzuschließen. Eine Regulierung ist jedoch aus sozialpolitischer Hinsicht sinnvoll. Es muss bei einer reinen Marktlösung die Frage beantwortet werden, ob eine Gesellschaft bereit ist, im Fall der mangelnden (finanziellen) Vorsorge den Einzelnen ohne entsprechende Hilfe zu belassen. Besteht innerhalb der Gesellschaft Konsens darüber, niemanden aufgrund mangelnder finanzieller Mittel von als notwendig erachteten medizinischen Leistungen auszuschließen, lässt sich eine allgemeine Versicherungspflicht als Regulierungsansatz legitimieren. Damit ist jedoch nicht zwangsläufig verbunden, die Angebotsbedingungen weitreichend staatlich zu regeln (Pflichtversicherung). Es wäre ausreichend, dass sich jeder Versicherte eine Versicherung wählt, die einen staatlich definierten Mindestschutz anbietet. Unabhängig davon ist die Frage zu lösen, wie ökonomisch Schwache finanziell unterstützt werden sollen. Das Problem der Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse legitimiert jedoch nicht nur eine allgemeine Versicherungspflicht, sondern es wird damit auch die Vorhaltefunktion von medizinischen Leistungen deutlich. Ist mit dieser Begründung eine allgemeine Regulierung erforderlich? Der Bedarf an Gesundheitsleistungen unterscheidet sich zwar von anderen Grundbedürfnissen dadurch, dass er in der Regel unvorher-

110 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Gesundheit als Gut 27 sehbar eintritt und im Einzelfall ein Ausmaß annehmen kann, das die individuelle Zahlungsfähigkeit übersteigt, gerade dies ist jedoch die Rechtfertigung für eine Krankenversicherung, die u. U. auch obligatorisch sein kann. 12 Wenn jedoch ein Bedarf nicht exakt voraussagbar ist, dieser häufig aber dringlich sein kann, spielt das Vorhandensein einer entsprechenden Kapazität eine besondere Rolle. Das Vorliegen eines öffentlichen Gutes ist zumindest teilweise festzustellen, wenn bedacht wird, dass die bloße Existenz eines Krankenhauses beispielsweise den Bewohnern einer Region, also den potenziellen Konsumenten der vorgehaltenden Krankenhausleistungen, einen Nutzen stiften kann. Sie wären damit u. U. bereit, für die Erhaltung der Einrichtung zu zahlen, unabhängig davon, ob sie das Krankenhaus jemals nutzen. Die Optionsnachfrage aller potenziellen Konsumenten kann mit Grenzkosten von Null befriedigt werden. 13 Ein freies Bett liefert mehreren Einwohnern einer Region Versorgungssicherheit. Die Option der Krankenhausbehandlung ist daher ein öffentliches Gut, weil somit Nichtrivalität als auch Nichtexklusivität vorliegen. Davon ist jedoch die Bereitstellung der tatsächlichen Kapazität zu unterscheiden. Innerhalb einer gegebenen Kapazitätsgrenze gilt sowohl das Prinzip der Nichtrivalität als auch der Nichtausschließbarkeit. Ein Ausschluss kann zwar grundsätzlich als technisch machbar gelten, jedoch dürfte dies vor allem aufgrund ethischer Rahmenbedingungen als nicht opportun gelten. Unter Bezugnahme auf eine wohlfahrtstheoretische Begründung wäre ein Ausschluss auch nicht effizient, da die Ausschließung zusätzliche Ressourcen verbrauchen würde, die nicht mehr zu Konsumzwecken zur Verfügung stehen 12 Natürlich können auch bei Versicherungsmärkten wieder Marktversagensprobleme diskutiert werden, dies soll aber in der vorliegenden Analyse nicht weiter verfolgt werden. 13 Dies gilt nur innerhalb einer bestimmten Kapazität, d. h. im Grunde liegt eine Form des Clubgutes vor. Bei Clubgütern spielt die Höhe der Ausschlusskosten eine entscheidende Rolle (vgl. Fehl/Oberender 2004, S. 512 ff.)

111 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 28 Gesundheit als Gut würden. 14 Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass die Bedingung der Nichtrivalität im Hinblick auf die tatsächliche Nutzung unmittelbar von der vorhandenen Kapazität abhängig ist. Es liegen somit ab dem Überschreiten der Mindestkapazität tatsächlich wieder positive Grenzkosten vor, und somit kann eine partielle Rivalität im Konsum unterstellt werden. Die Vorhaltung einer Reservekapazität kann daher eine Begründung für eine staatliche Regulierung darstellen, jedoch lässt sich daraus nicht zwangsläufig die staatliche Bereitstellung eines Gutes ableiten. 15 Gleichwohl lässt sich aus diesem Zusammenhang die Forderung nach einer ordnungspolitischen Definition des Notwendigkeitsbegriffs ableiten. Allerdings steht eine wesentliche, allgemein anerkannte Wertvorstellung, nämlich die des gleichen Zugangs zu den Gesundheitsleistungen, einer rein individualistischen Marktlösung der Versorgung mit Gesundheitsleistungen im Wege. Eine solche, über eine bloß formale Gleichheit hinausgehende Norm setzt einkommensumverteilende Maßnahmen voraus, um den Mitgliedern einer Gesellschaft die Möglichkeit zu eröffnen, Gesundheitsleistungen im Sinne einer Mindestsicherung nachzufragen. Unter Mindestsicherung können jedoch verschiedene Aspekte subsumiert werden. Zum einen lässt sich unter einer Mindestsicherung ein garantiertes Niveau von Transferleistungen ohne biographische Festlegung verstehen, das unbedingt, d.h. gänzlich unabhängig von eigenen Leistungen, festgelegt und idealtypisch aus Steuermitteln finanziert wird. 16 Das System der Mindestsicherung kann darüber hinaus an einen Kanon von zu erbringenden Leistungen gebunden sein. Diejenigen, 14 Vgl. zur wohlfahrtstheoretischen Bewertung von öffentlichen Gütern u. a. Breyer/Kolmar 2001, S. 186 ff. 15 Vgl. Zerth 2000, S. 56 ff. Eine ähnliche Problematik liegt in vielen leitungsgebundenen Industrien vor. So ist beispielsweise bei der Stromerzeugung die Absicherung eines Spitzenbedarfs eine Art Kollektivgut, die eine staatliche Regulierung erforderlich machen kann. 16 Eine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Abgrenzungsansätzen nimmt Stillfried 1996, S. 233 ff. vor.

112 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Gesundheit als Gut 29 die höhere Einkommen haben oder mehr konsumieren, erbringen dabei ein höheres Aufkommen als diejenigen, die nur ein geringes oder gar kein Einkommen haben. Allen Mindestsicherungskonzeptionen ist aber gemein, dass zunächst nur ein grundsätzlicher Anspruch auf Hilfe in einer Notsituation abgeleitet werden kann und nicht zwangsläufig ein konkretes Versorgungsangebotes in der Fläche vorhanden sein muss. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein wohlverstandenes Konzept der Versorgung mit notwendigen Leistungen nicht zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit der Zugangsgarantie auf medizinische Leistungen erforderlich macht, die zur Sicherstellung der notwendigen Versorgung relevant sind. Als thematische Annäherung an die Auseinandersetzung mit dem Ziel einer Zugangsgerechtigkeit scheinen die Aspekte Verfügbarkeit, Erreichbarkeit und Qualität von Gesundheitsleistungen als Diskussionsgegenstand sachgerecht. 17 Gleicher Zugang zu medizinischen Leistungen macht daher nur dann Sinn, wenn auch der gleiche Bedarf allgemeingültig unterstellt werden kann. 18 Zunächst ist aber die Einschränkung zu machen, dass gesellschaftlich nicht die Gesundheitsleistungen an sich, sondern die gesundheitlichen Ergebnisse von Bedeutung sind, zu denen die Gesundheitsleistungen jedoch nur partiell beitragen. Wie aus der Gesundheitssystemforschung bekannt ist, zeigen mittlerweile zahlreiche Studien die signifikanten Effekte, die vom sozialen Status sowie vom Bildungsgrad und der beruflichen Position ausgehen. Unter Verfügbarkeit wird das quantitative Leistungsangebot an Gesundheitsleistungen verstanden, das in einer definierten Region vorrätig ist. 17 Jede Auseinandersetzung mit einem Notwendigkeitsbegriff bleibt im Kontext der Diskussion von Gesundheitszielen haften. In Anlehnung an unterschiedliche wohlfahrtstheoretische Abgrenzungsmuster hat Anand die Zielbildung und die Zielintegration bei der Gesundheitsversorgung untersucht (vgl. Anand 2003, S. 733 ff.). 18 Williams und Cookson diskutieren die Problematik unterschiedlicher Gleichheitsideale von Gesundheit. Eine strenge Interpretation des Prinzips gleicher Zugang zu Gesundheitsleistungen würde die anderen Faktoren, die zum Gesundheitsoutcome beitragen, vollständig ausblenden (vgl. Williams/Cookson 2000, S f.).

113 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 30 Gesundheit als Gut Die Verfügbarkeit von Gesundheitsleistungen wird im statistischen Sinne häufig mit der Kennziffer Versorgungsdichte von Gesundheitsleistungen operationalisiert (vgl. Robra et al. 2004, S. 137 ff.). Dieses Maß beschreibt den Begriff der Verfügbarkeit aber nur unzureichend, da die räumliche Nähe von Bürgern zu medizinischen Einrichtungen trotz hoher Versorgungsdichte nicht in allen Gebieten einer Versorgungsregion gegeben sein muss. 19 Ein gerechter Zugang der Bevölkerung zu Gesundheitsleistungen bedingt außerdem die Gewährleistung von bestimmten Qualitätsstandards (vgl. Hellbrück 1997, S. 122 ff. ). Aufgrund der Knappheit der Ressourcen, die auch bei Gesundheitsleistungen gilt, ist jedoch ein derartiger Zugang in der Regel mit einem ex ante definierten Qualitätsniveau verbunden. Eine Gewährleistung eines gerechten Zugangs zu Gesundheitsleistungen ist abhängig von der Zugrundelegung einer entsprechenden gerechtigkeitstheoretischen Interpretation. 20 Auch wenn es Konsens in einer Gesellschaft sein soll, dass niemand von der Versorgung von notwendigen medizinischen Leistungen ausgeschlossen werden darf, bleibt die Interpretationsnotwendigkeit hinsichtlich des Ausmaßes, des Zugangs und der Regelung der Finanzierung bestehen. Jeder Bedarfsansatz ist aber Ausdruck eines normativen Standpunkts, jedenfalls solange er von politischen, wissenschaftstheoretischen, medizinischen und auch ökonomischen Aspekten begründet wird (vgl. Williams/Cookson 2000, S ff.). Ohne Beschränkung der Allgemeinheit lässt sich festhalten, dass der Versorgungsbedarf abstrakt als Kombination von Behandlungsanlass und Therapie beschrieben werden kann. Ein wichtiger Indikator für eine Festlegung der Versorgungsnotwendigkeit und daraus ableitbarer Mindestkapazitäten stellt daher die Morbiditätsentwicklung in einer definierten Sicherstellungsregion dar. In diesem Sinne werden Vorgaben für die 19 Eine sehr umfassende theoretische Abhandlung verschiedener Indexverfahren zur Versorgung mit medizinischen Leistungen geben Wagstaff/Doorslaer 2000, S ff. wider. 20 Vgl. die Gegenüberstellungen verschiedener gerechtigkeitstheoretischer Konzepte und die daraus abgeleiteten Notwendigkeitsüberlegungen bei Williams/Cookson 2000, S ff.

114 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Gesundheit als Gut 31 Angebotsgestaltung gemacht, die aus ökonomischer Sicht einer entsprechenden Legitimation bedürfen. Es stellt sich nun die Frage, welche institutionelle Gestaltung eine derartige Einbettung von Gerechtigkeitselementen in ein Gesundheitssystem finden soll. Da es in einer freiheitlichen Ordnung eines gesellschaftlichen Konsenses über das Ausmaß der Umverteilungsmaßnahmen bedarf, kann den einkommensstärkeren Gruppen immer nur ein bestimmtes Maß an Solidarität abverlangt werden. In einer freiheitlichen Gesellschaft, die das Maß an individuell konsumierbaren Gesundheitsleistungen nicht nach oben begrenzt, werden von daher immer ungleiche Möglichkeiten des Konsums bestehen. Von der Wertvorstellung eines (partiell) gleichen Zugangs zu Gesundheitsleistungen ausgehend, lässt sich aber nicht auf völlig unterschiedliche Eigenschaften der Gesundheitsleistungen im Vergleich zu anderen Gütern schließen. Auch muss die Verwirklichung der Gleichheitsnorm nicht zwangsläufig die Vornahme von einkommensumverteilenden Maßnahmen innerhalb des Krankenversicherungssystems nach sich ziehen. Entsprechende Formen einer Umverteilung finden sich zwar in den meisten Ländern, sind aber in der Regel historisch zu erklären. Ökonomisch sinnvoll ist es, die Einebnung von Einkommensunterschieden zur Finanzierung einer gleichen Absicherung im Krankheitsfall getrennt von der Absicherung des Krankheitsrisikos vorzunehmen. Den beispielsweise gegenwärtig kaum zu erfassenden, geschweige denn zu kontrollierenden Einkommensumverteilungsprozessen innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland könnte auf diesem Wege ihre Bedeutung genommen werden. Dies könnte beispielsweise in Form eines Zuschlags zur Sozialhilfe geschehen, der Sozialhilfeempfänger in die Lage versetzt, auf dem Markt für Krankenversicherungspolicen als Nachfrager aufzutreten.

115 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht

116 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 33 III Sicherheit im Krankheitsfall - Wie lange noch? Gegenwärtig befindet sich das Gesundheitswesen in Deutschland aufgrund der vielfältigen Mängel und Defizite an einem Wendepunkt. Auch wenn durch die verschiedenen Reformanstrengungen der letzten Jahre zwar augenscheinlich die Notwendigkeit einer Reform des Sicherungssystems von fast allen Beteiligten akzeptiert worden ist, bleibt die Frage nach der Ausgestaltung noch immer offen. Bevor jedoch die Auseinandersetzung mit der Fortentwicklung des Gesundheitssystems geführt werden soll, ist zunächst eine Analyse des Status quo der Sicherung erforderlich. In diesem Kapitel bietet es sich an, einige allgemeine Grundüberlegungen zum Krankenversicherungssystem zu diskutieren. III.1 III.1.1 Grundprinzipien der Krankenversicherung Krankenversicherung als Daseinsvorsorge Krankheiten können zu physischen und/oder psychischen Einschränkungen führen und sowohl immaterielle wie auch materielle Folgen haben. Durch die Erkrankung können zusätzliche Ausgaben für Gesundheitsleistungen erforderlich werden (Krankheitskostenrisiko). Außerdem kann die Fähigkeit zur Einkommenserzielung durch die Krankheit zeitweise oder dauerhaft eingeschränkt werden (Einkommensausfallrisiko). Es werden daher Vorsorgemaßnahmen gegen finanzielle Krankheitsrisiken getroffen, um den Mittelbedarf im Krankheitsfall zu decken. Hierbei lassen sich die beiden Ordnungsprinzipien Individual- und Sozialprinzip unterscheiden. Das Individualprinzip stellt auf die individuelle Vorsorge, das Sozialprinzip auf die gesetzlich verfügte staatliche kollektive Vorsorge ab. Als Gestaltungsprinzipien existieren das Versicherungs-, das Versorgungs- sowie das Fürsorge-

117 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 34 Sicherheit im Krankheitsfall prinzip. Das Individualprinzip stellt das Leitbild der Leistungsgesellschaft dar; jeder hat die Freiheit, seine Lebensbedingungen selbst zu gestalten. Der Einzelne ist selbst dafür verantwortlich (Eigenverantwortung), für die Wechselfälle des Lebens vorzusorgen. Neben der Individualvorsorge gibt es Möglichkeiten der Vorsorge, die über das Individuum als Vorsorgeinteressent hinausgehen und die Sicherheit durch die Zusammenarbeit mit anderen Individuen gewinnen. Solche Vorsorgemaßnahmen, die auf der Zusammenarbeit mit anderen Individuen beruhen, werden unter dem Begriff der Kollektivvorsorge zusammengefasst. Charakteristisch für die Versorgungsformen der Kollektivvorsorge ist daher, dass hier das individuelle Risiko auf eine Gruppe von Individuen verlagert wird. Abb. 3: Grundprinzipien der Daseinsvorsorge Individuelle Vorsorge (Individualprinzip) Schadensverhütung Kinder Formen der Daseinsvorsorge Sparen Vermögen Versicherung (Äquivalenzoder Solidarprinzip) kollektive Versorgung (Sozialprinzip) Versorgung (Solidarprinzip) Quelle: Eigene Darstellung, vgl. auch Oberender/Ecker/Zerth 2005, S. 28. III.1.2 Das deutsche Krankenversicherungssystem Fürsorge Die GKV ist eine am Versicherungsprinzip orientierte Organisation. Ihre Mitglieder verfolgen durch ihre Mitgliedschaft das Ziel, einen möglichen Vermögensschaden, hervorgerufen durch den Eintritt eines definierten Versicherungsfalles wie hier der Krankheit, zu begrenzen oder zu eliminieren. Die Eintrittswahrscheinlichkeit des bedrohlichen Ereignisses ist für den einzelnen Versicherten in der

118 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 35 Regel unkalkulierbar, bezogen auf die Gesamtheit der Versicherten ist das Risiko und der wahrscheinliche auf einen Zeitraum bezogene Finanzbedarf zur Deckung der Versichertenansprüche jedoch ermittelbar. Aufgabe der Versichertengemeinschaft ist es, diesen Schaden, von dem ungewiss ist, welches Mitglied er betreffen wird, durch Mitgliedschaftsbeiträge (Prämien) auszugleichen. In jeder Krankenversicherung, ob nun als privat geführte Versicherung oder in Form der Gesetzlichen Krankenversicherung, wird das (Vermögens-)Risiko einer Erkrankung zwischen Gesunden und Kranken umverteilt. Private Krankenversicherungen, die sich als klassische Marktteilnehmer am Versicherungsmarkt beteiligen, beschränken sich jedoch auf diesen Umverteilungsvorgang. 21 Da es sich bei ihnen nicht um eine Zwangsversicherung handelt, müssen sie ein Finanzierungsverfahren anwenden, das auf die Zustimmung potenzieller Kunden stößt. Dieses Verfahren ist das so genannte versicherungstechnische Äquivalenzprinzip. Es besagt, dass sich die Versicherungsprämie und der Versicherungsanspruch entsprechen sollen. Die Prämie, die der Versicherte bezahlen muss, richtet sich nach dem Risiko, das die private Krankenversicherung mit Abschluss des individuellen Versicherungsvertrages übernommen hat. Soziale Aspekte und das Einkommen bleiben, da sie nicht unmittelbar das übernommene Risiko determinieren, unberücksichtigt. Die Versicherten werden bei Abschluss des Vertrages in bestimmte, untereinander abgegrenzte Versichertengruppen aufgenommen, die jeweils autonom einen Risikoausgleich herbeiführen sollen. Diese Gruppen, auch Kohorten genannt, zeichnen sich durch ein gewisses Maß an Homogenität hinsichtlich des Alters aus. Die Beiträge der Gruppenmitglieder müssen ausreichen, um die in dieser Gruppe entstehenden Kosten ausgleichen zu können. Da sich 21 Es muss in diesem Zusammenhang zwischen einer idealtypischen, privatwirtschaftlich agierenden Versicherung im Marktmodell und den Ausprägungen der Privatkrankenversicherung (PKV), wie sie in Deutschland zu finden sind, unterschieden werden. Die allgemeinen Aussagen beziehen sich zunächst auf das Referenzmodell einer idealtypischen privatwirtschaftlich agierenden Krankenversicherung.

119 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 36 Sicherheit im Krankheitsfall mit steigendem Alter der Mitglieder einer Kohorte die Morbidität und die damit verbundenen Kosten erhöhen, wäre an sich ein immer höherer Beitrag von den einzelnen Mitgliedern zu entrichten. In diesem Zusammenhang müssen gemäß der versicherungsökonomischen Literatur zwei unterschiedliche Risikosituationen Berücksichtigung finden: Versicherungsschutz gegen Eintritt einer Erkrankung bei gegebenem Erkrankungsrisiko und Versicherungsschutz gegen Verschlechterung des individuellen Erkrankungsrisikos. In der versicherungsökonomischen Literatur wird zwischen Zufalls-, Irrtums- und Änderungsrisiko unterschieden (vgl. Strassl 1988). Die Risiken des Zufalls und des Irrtums können durch eine Optimierung des Rückgriffs und der Auswertung auf möglichst viele Daten minimiert werden. Problematisch kann es beim Änderungsrisiko 22 werden, das sich vor allem auch durch das Altersrisiko erfassen lässt. Das Änderungsrisiko kann idealtypisch durch zwei Verfahren aufgefangen werden. Eine Möglichkeit wäre, die Versicherungskontrakte in kurzen Zeiträumen neu zu verhandeln und somit die potenziell sich veränderte Morbidität durch neue Verträge zu adjustieren. 23 Die Übernahme des Änderungsrisikos ist wiederum abhängig von der Vertragslaufzeit. Weder bei einperiodigen Verträgen noch bei langfristigen Verträgen mit jährlich neuen Verhandlungen und entsprechenden Anpassungen der Prämien ergibt sich aus dem Änderungsrisiko aus Sicht der Versicherungsunternehmen ein Kalkulationsproblem. In diesen Fällen trägt der Versicherungsnehmer das Risiko der Schwankung seiner Versicherungsprämien aufgrund der neuen Risikolage. Es muss jedoch folgendes Problem Berücksichtigung finden. Unter der Annahme von so genannten zeitkonsistenten kurzfristigen Versicherungsverträgen ließe sich eine langfristige Versicherungsbin- 22 Das Änderungsrisiko ergibt sich daraus, dass die Erwartungswerte für Eintrittswahrscheinlichkeiten und Höhe der Schäden sowie deren Ursache im Zeitverlauf nicht konstant bleiben. Vgl. auch Thielbeer 1999, S. 48 f. 23 Vgl. zur Idee der renewable contracts grundsätzlich Cochrane 1995, S. 445 ff. Vgl. auch Cutler/Weber 1998, S. 433 ff.

120 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 37 dung simulieren, die sicherstellen würde, dass nur die tatsächliche Risikoveränderung Grundlage für einen neuen Kontrakt bilden würde (vgl. Cochrane 1995, S. 448). Ein Wechsel von einer Versicherung zu einer anderen wäre unter diesen Bedingungen problemlos möglich. Der Versicherte könnte sich beispielsweise gegen die Veränderung des individuellen Krankheitsrisikos wiederum auf einem zweiten Versicherungsmarkt versichern. Gerade im Hinblick auf die Probleme der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen Versicherung und Versicherten sowie auch bei Berücksichtigung, dass angebotsseitig die Entwicklung der Krankheitsausgaben neben der individuellen demographischen Prognose noch von den Bedingungen des medizinisch-technischen Fortschritts abhängig sind, ist es für eine Krankenversicherung aus Sicht der Transaktionskostenökonomie sinnvoll, auf derartige kurzfristige Kontrakte zu verzichten. 24 Darüber hinaus spielt bei kurzfristigen Verträgen die Marktmachtposition zwischen Versicherten und Versicherungen eine viel größere Rolle. Gerade aus Sicht eines Versicherten ist daher der Anreiz zu unterstellen, einen langfristigen Kontrakt mit weitgehend konstanten Prämien abzuschließen. Wenn jedoch ein derartig langfristiger Vertrag vorliegt, der nicht jährlich individuell neuverhandelt wird, liegt ein Abweichen von idealtypischen risikoorientierten Prämien vor, und es besteht u. U. ein neues Problem der Risikoselektion oder die Wechselmöglichkeit für den Versicherten wird eingeschränkt. Folgende Überlegung soll dies verdeutlichen: Grundsätzlich wird die Versicherungsprämie durch den Aufbau von Altersrückstellungen für das jeweilige Versichertenkollektiv geglättet. Es liegt eine Form des Kapitaldeckungsverfahrens vor. Die Versicherten, vor allem in jungen Jahren, zahlen zu Beginn der Vertragslaufzeit eine Prämie, die oberhalb der erwarteten Krankheitskosten liegt. Aus den Beitragsüberschüssen der Versicherten wird durch die Bildung von Altersrückstellungen ein Kapitalstock für das jeweilige Kollektiv aufgebaut. In diesem Kontext ist nun das Ände- 24 Die angebotsseitige Problematik betonen insbesondere Zweifel/Breuer 2003, S. 49.

121 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 38 Sicherheit im Krankheitsfall rungsrisiko zu berücksichtigen. Verändern sich die Morbiditätsbedingungen eines Versicherten über die zu Vertragsbeginn vereinbarten Bedingungen, so muss diese Morbiditätsveränderung innerhalb des Versichertenkollektivs ausgeglichen werden. Dieser Ausgleich kann durch adjustierte Altersrückstellungen unterstützt werden, wenn die jeweiligen Altersrückstellungen entsprechend individuell angehoben oder reduziert würden. Einerseits müssten die Prämien nicht zwangsläufig angepasst werden, andererseits wäre ein Wechsel zu einer anderen Versicherung möglich, wenn genau nur die risikoangepasste Altersrückstellung mitgegeben würde. Diese idealtypische Vorstellung muss aber kritisch hinterfragt werden. Wenn beispielsweise, wie es in der deutschen PKV bis zur grundsätzlichen Möglichkeit der Weitergabe der Altersrückstellungen in Folge des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes üblich war, nur durchschnittliche Altersrückstellungen gebildet werden, wäre ein Anreiz für eine Krankenversicherung vorhanden, vor allem wieder gute Risiken anzuwerben, da bei nicht korrigierten Altersrückstellungen für die entsprechende Kasse ein Nettovorteil verbleibt. 25 Um diese Gefahr der Risikoselektion zu verhindern, ist die Ablehnung der Übertragung von Altersrückstellungen zwar konsequent, führt aber zu einem eingeschränkten Versicherungswettbewerb, der bis zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz in Konsequenz bei der PKV nur ein Einstiegswettbewerb war. Durch die Einführung eines Basistarifs im Zusammenhang mit der Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) und der potenziellen Weitergabe der Altersrückstellungen auf dem Niveau des Basistarifs ist dieser Ansatz im Prinzip verändert worden, gleichwohl sind individualisierte Altersrückstellungen immer noch nicht institutionell möglich. Unabhängig von der langfristigen Ausgestaltung der Prämienzahlung verlangt eine konsequente Anwendung des Äquivalenzprinzips die Prämienentrichtung von jedem einzelnen Versicherten nach einer idealisierten Risikoeinschätzung. Eine private Krankenversicherung wird von daher keine kostenlose Mitversicherung für Familienange- 25 Vgl. zu dieser Problematik beispielsweise Jankowski/Zimmermann 2004, S. 12 ff.

122 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 39 hörige anbieten können. Auch für Kinder sind, da sie eigenständig dem Krankheitsrisiko ausgesetzt sind, risikoäquivalente Prämien zu entrichten. Die Prämien werden sich zum Zeitpunkt der Geburt am erwarteten Schadensverlauf eines Mannes oder einer Frau orientieren; damit wird die Risikoorientierung tendenziell am Durchschnittswert des Versicherungskollektivs angenähert sein. Da zu diesem Zeitpunkt außer dem Geschlecht wesentliche Merkmale, die den späteren Lebensweg beeinflussen und zugleich auch von der Person beeinflusst werden können wie etwa Lebensstil, Ausbildungsstand, Berufswahl u. ä., noch nicht bekannt sind, kann eher von risikoorientierten statt von risikoäquivalenten Prämien gesprochen werden. Eine Individualisierung der Prämien tritt demzufolge erst zu einem späteren Zeitpunkt, insbesondere beim Versicherungswechsel auf. Die Konstruktionsprinzipien der GKV als Solidargemeinschaft sind hingegen anders. Neben dem versicherungstypischen Risikoausgleich (primäre Umverteilungsaufgabe) zwischen Gesunden und Kranken finden im Rahmen der GKV weitere Umverteilungen statt. Abgeleitet werden diese Umverteilungsmaßnahmen heute aus dem Grundgesetz. Der Verfassungsgrundsatz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip verpflichten die staatliche Gemeinschaft zur Sicherung von Mindestbedingungen eines menschenwürdigen Daseins für jene Bürger, die ökonomischer Hilfe bedürfen. 26 Ein wesentliches Element der gesetzlichen Krankenversicherung basiert auf der zuvor beschriebenen Aufgabe: dem sogenannten Solidarausgleich (sekundäre Umverteilungsaufgabe). Dieser ist durch eine einkommensabhängige Beitragserhebung und eine beitragsunabhängige Gewährung von Leistungen gekennzeichnet (Solidarprinzip). Jeder gibt somit nach seiner Leistungsfähigkeit und empfängt nach seiner Bedürftigkeit. Das Solidarprinzip hat zur Folge, dass guten Risiken, d. h. Personen mit relativ geringem Krankheitsrisiko, eine wirtschaftliche Mehrbelastung auferlegt wird. Da für diese Versichertengruppe ein hoher 26 Vgl. BVerfGE 40, 121 S. 133 ff.

123 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 40 Sicherheit im Krankheitsfall Anreiz besteht, sich einer Versichertengemeinschaft anzuschließen, die ihre Prämien ausschließlich am Risiko des versicherten Mitglieds orientiert, muss für eine große Personenzahl die Pflichtmitgliedschaft in der GKV gesetzlich vorgeschrieben werden (Prinzip der Zwangsmitgliedschaft), um die Finanzierbarkeit der sozialen Krankenversicherung zu gewährleisten. Das Solidarprinzip ist im Rahmen der GKV allerdings nur unvollkommen verwirklicht. So ist die Pflichtmitgliedschaft nicht für alle Bürger vorgesehen, sondern nur für einen als schutzbedürftig eingestuften Personenkreis. Dies geschieht auch mit dem Ziel, das historisch gewachsene private Krankenvollversicherungswesen nicht seiner Funktion zu berauben. Die Leistungsfähigkeit wird bei den Pflichtversicherten nur am Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit gemessen. Andere Einkünfte finden bisher nur sehr rudimentär Eingang in die Beitragsbemessungsgrundlage. Freiwillige Mitglieder mit einem versicherungspflichtigen Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze sind somit nicht entsprechend ihrer vollen Leistungsfähigkeit an der Finanzierung der Einnahmen der Versichertengemeinschaft beteiligt, da Einkünfte oberhalb dieser Grenze nicht mehr in die Beitragsberechnung einbezogen werden. Anders als bei der Einkommensteuer wird die Bemessungsgrundlage nicht um Beträge gekürzt, welche die Leistungsfähigkeit mindern, und der Beitragssatz wirkt nicht progressiv, sondern belastet nur proportional das zugrunde liegende Einkommen. Dieser Aufbau der Versicherung, der einen einkommensabhängigen Beitrag und eine bedürfnisorientierte Leistungsgewährung im Krankheitsfall vorsieht, führt zu einer Umverteilung von besserverdienenden Mitgliedern hin zu geringverdienenden Mitgliedern. Die Finanzierung der Ausgaben der GKV erfolgt nach dem Umlageverfahren. Dies bedeutet, dass die laufenden Ausgaben durch laufende Einnahmen der Mitglieder gedeckt werden. Altersrückstellungen werden dabei nicht gebildet. Da die Versichertengemeinschaft nicht in Kohorten eingeteilt ist, hat dies zur Folge, dass ältere Versicherte, also Personen, die aufgrund einer höheren Morbidität höhere Kosten verursachen, in der Regel von jüngeren Mitgliedern subventioniert werden (Generationenvertrag).

124 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 41 Da die GKV als Familienmitversicherung ausgelegt ist, wird der Versicherungsschutz von nicht berufstätigen Frauen und Kindern externalisiert. Durch die Einführung eines Steuerzuschusses zum Gesundheitsfonds hat der Gesetzgeber die Mitfinanzierung der Beiträge für Kinder als allgemeine Staatsaufgabe anerkannt, gleichwohl wird durch die Idee der Familienmitversicherung, das Prinzip der Risikoäquivalenz zusätzlich ausgehöhlt. Bei der GKV handelt es sich um eine Krankheitskostenvollversicherung. Es besteht im Gegensatz zur privaten Krankenversicherung für die Mitglieder nicht die Möglichkeit, bestimmte Leistungskomplexe aus dem Versicherungsschutz auszuschließen. Bei einer privaten Krankenversicherung hat der Versicherte in der Regel die Möglichkeit, den artmäßigen Umfang der versicherten Heilbehandlungsformen mitzubestimmen und aus einer Vielfalt von Tarifen auszuwählen. Eine solche Versicherung wird als Krankheitskostenteilversicherung bezeichnet (Berufsbildungswerk der Deutschen Versicherungswirtschaft 1992, S. 149). Dieser Teilversicherungsschutz wird besonders von Mitgliedern der GKV bei privaten Versicherungsanbietern zusätzlich abgeschlossen, um Umfang und Qualität der GKV-Leistungen über das dort gewährte Maß hinaus auszudehnen. Zudem bieten private Krankenversicherungen die Möglichkeit, den Leistungsumfang und verschiedene Formen von Selbstbeteiligungen individuell zu vereinbaren. Es existiert somit im Gegensatz zur GKV kein Einheitstarif. Jedoch haben die gesetzgeberische Veränderungen der letzten Jahre, insbesondere die Einführung eines Basistarifs auf Grundlage einer standardisierten Regelversorgung und die damit einhergehende Kontrahierungspflicht für Versicherte im Basistarif eine Annährung der Versicherungsprinzipien zwischen GKV und PKV zur Folge gehabt. Im Rahmen der Leistungsgewährung der GKV wird als grundsätzliches Prinzip das Sachleistungsprinzip angewandt: Der Versicherte erhält alle Leistungen als Naturalleistungen und ist von einer Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Leistungserbringer weitgehend befreit. Für die Inanspruchnahme der Leistungen wird ihm von der Krankenkasse ein Berechtigungsschein ausgestellt, die Krankenversicherungschipkarte (der frühere Krankenschein ), die dem Leis-

125 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 42 Sicherheit im Krankheitsfall tungserbringer im Behandlungsfall präsentiert wird. Der Leistungserbringer rechnet die von ihm erbrachten Leistungen mit der Krankenkasse ab. Eingelöst werden kann dieser Anspruch im Krankheitsfall nur bei denjenigen Ärzten, die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen sind (Kassenärzte). Der Arzt seinerseits gibt den Leistungsanspruch nach Eintragung der von ihm erbrachten Einzelleistungen in Form von Gebührenziffern an die kassenärztliche Vereinigung weiter, die dann eine Abrechnung mit dem jeweiligen Versicherungsträger der GKV vornimmt. Dieses Verfahren setzt voraus, dass der Versicherungsträger umfangreiche vertragliche Beziehungen mit den Leistungsanbietern unterhält, in denen Art, Inhalt, Qualität und Vergütung für die erbrachten Leistungen geregelt sind. Durch dieses Geflecht von Verträgen zwischen der GKV und den verschiedenen Gruppen von Leistungserbringern ist die GKV daher an der Struktur und Entwicklung des gesamten Gesundheitssystems maßgeblich beteiligt. Man stelle sich vor, die Kfz-Haftpflichtversicherer würden Schäden generell in Form des Sachleistungsprinzips regulieren. Unvermeidbares Ergebnis wäre ein zentraler Einfluss der Versicherer auf das gesamte Geschehen in der Automobilindustrie wie auf Hersteller und Reparaturwerkstätten. Wo dies tatsächlich geschieht, bei der Bereitstellung eines Ersatzfahrzeugs nach einem Unfall, ist der Einfluss der Versicherer auf die Leistungsanbieter, in diesem Fall die Branche der Autovermieter, enorm. Systeme privater Krankenversicherungen können zwar auch Elemente des Sachleistungsprinzips integrieren, beispielsweise durch vertragliche Beziehungen mit speziellen Leistungserbringern, deren Leistungsinanspruchnahme für die Versicherten zunächst verbindlich ist (als Beispiel können etwa Managed-Care-Strukturen dienen). Gleichwohl finden die traditionellen Formen der privaten Krankenversicherung ihre Ausprägung in Form des Kostenerstattungsprinzips: Der Versicherte tritt hierbei meist in Vorleistung, indem er die an ihn gerichtete Rechnung des Leistungserbringers bezahlt und sie anschließend zur Kostenerstattung bei seinem Versicherer einreicht. Dieser erstattet den ausgelegten Betrag vollständig oder teilweise, je nach zugrundeliegendem Versicherungsvertrag.

126 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 43 Da zwischen der privaten Versicherung und den Leistungsanbietern bei Gültigkeit des Kostenerstattungsprinzips dementsprechend auch keine vertraglichen Beziehungen bestehen müssen, ist der Einfluss der Privatversicherer auf die Leistungsanbieter eher als gering einzustufen Der einzelne Versicherte in der GKV besitzt wie bereits erwähnt - im Krankheitsfall eine weitgehende Kostenvolldeckung. In der Regel wird aus gesundheits- und sozialpolitischen Gründen die individuelle Nachfrage nach Gesundheitsleistungen bewusst nicht durch das Preisausschlussverfahren begrenzt. Eine Lenkung der Nachfrage mit Hilfe einer Preissteuerung für die nachgefragten Gesundheitsleistungen findet daher mit Ausnahme der Selbstbeteiligungselemente insbesondere bei Arznei- und Hilfsmittel, kaum statt. Je geringer die individuelle Nachfrage nach Gesundheitsleistungen vom direkten Preis der Gesundheitsleistung abgekoppelt ist, je mehr ist mit einem Verantwortungsvakuum zu rechnen. Dieses entsteht, weil individuelles Handeln ohne entsprechende direkte finanzielle Verantwortung stattfindet. Dies hat zur Konsequenz, dass sich die Gesundheitsnachfrage weitgehend losgelöst vom Preis bildet. In der Ökonomie spricht man von einer starren, völlig preisunabhängigen Nachfrage, mit der Folge, dass die Leistungen oft über Gebühr in Anspruch genommen werden (vgl. Oberender/Ecker/Zerth 2005, S. 22 ff.). Jede Selbstbeteiligungsregelung ist daher ein Versuch, die Gesundheitsnachfrage wieder preisbewusst zu gestalten. III.2 Struktur der Sicherung III.2.1 Versicherten- und Mitgliederstruktur Anfang des Jahres 2009 waren 70,0 Millionen Personen in Deutschland in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Der Anteil der gesetzlich Krankenversicherten an der deutschen Gesamtbevölkerung betrug demnach ,4 %. Innerhalb der Versichertengemeinschaft der GKV kann zwischen freiwilligen und Pflichtmitgliedern sowie mitversicherten Familienangehörigen unterschieden werden.

127 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 44 Sicherheit im Krankheitsfall Pflichtmitglieder der GKV sind jene Arbeitnehmer und Angestellte, deren Einkommen die Versicherungspflichtgrenze nicht übersteigt. Die Versicherungspflichtgrenze lag zum 1. Januar 2010 bei jährlich. Die Beitragsbemessungsgrenze gibt im Unterschied zur Versicherungspflichtgrenze an, bis zu welcher Einkommenshöhe die Beiträge berechnet werden. Die Beitragsbemessungsgrenze lag zu Beginn des Jahres 2010 bei Pflichtmitglieder der GKV sind jene Arbeitnehmer und Angestellte, deren regelmäßiges Brutto-Jahresentgelt 75 % der Beitragsbemessungsgrenze in der Gesetzlichen Rentenversicherung nicht übersteigt. Pflichtversichert sind darüber hinaus auch bestimmte nicht erwerbstätige Bevölkerungsgruppen. Hierzu gehören insbesondere Rentner und andere Bezieher von Ruhestandszahlungen, Studenten und Arbeitslose. Rentner sind, falls keine Befreiung vorliegt, insbesondere durch Abschluss eines privaten Vollversicherungsschutzes, in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) versichert, an der als Träger die Krankenkassen aller Kassenarten mitwirken. Die Beiträge werden in der Regel zu gleichen Teilen vom Versicherten und vom Träger der Rentenversicherung gezahlt. Personen mit einem regelmäßigen Jahresbruttoentgelt von mehr als der Versicherungspflichtgrenze sowie Landwirte, Künstler und andere Selbständige haben die Möglichkeit, nach ihrem Ausscheiden aus der Krankenversicherungspflicht eine freiwillige Mitgliedschaft in der GKV zu wählen. Sie können aber auch einer privaten Krankenversicherung beitreten. Dieser Kreis hat dann nur noch einen Anspruch auf Krankenhilfe oder vorbeugende Gesundheitshilfe im Rahmen der Sozialhilfe. Beitragsfrei mitversichert in der GKV sind nicht erwerbstätige Ehegatten und Kinder von Mitgliedern. Grundvoraussetzung hierfür sind ein Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland und bestimmte Einkommensgrenzen, welche die Familienmitglieder nicht überschreiten dürfen (vgl. Alber 1992, S. 52 f.). Pflichtversichert waren in Deutschland im Jahr ,7 Mio. Menschen, freiwillig versichert 4,5 Mio. und als Rentner versichert 16,9 Mio. Personen. Darüber hinaus waren zu diesem Zeitpunkt noch 18,9 Mio. Familienangehörige mitversichert. Von diesen waren mit

128 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 45 Abstand die meisten über ein Pflichtmitglied versichert. Die restlichen Mitversicherten genossen Versicherungsschutz über ein freiwilliges Mitglied oder gehörten der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) an (vgl. Tabelle 2). Tab. 2: Mitgliederstruktur der GKV 2009 alte Länder neue Länder Gesamt Pflichtmitglieder 24,3 Mio. 5,4 Mio. 29,7 Mio. freiwillige Mitglieder 4,0 Mio. 0,5 Mio. 4,5 Mio. Rentner 13,3 Mio. 3,6 Mio. 16,9 Mio. mitversicherte Familienangehörige 16,6 Mio. 2,3 Mio. 18,9 Mio. Gesamt 58,2 Mio. 11,8 Mio. 70,0 Mio. Gesamtbevölkerung 68,8 Mio. 13,2 Mio. 82,0 Mio. Anteil der Gesamtbevölkerung Quelle: auf Grundlage des BMG, GKV-Statistik KM/ ,6% 89,4 % 85,4 % Ferner waren im Rahmen einer privaten Krankenversicherung Ende des Jahres ,8 Mio. Menschen in der Bundesrepublik vollversichert. Dies entsprach 10,6 % der Gesamtbevölkerung. Durch eine engere Form der Kooperation zwischen gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversicherungsunternehmen stieg der Anteil der Zusatzversicherungen an. Eine ambulante Zusatzversicherung hatten 6,63 Mio. Personen, eine stationäre Zusatzversicherung für Wahlleistungen im Krankenhaus 5,48 Mio. 27 Neben Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung wurde die restliche deutsche Bevölkerung durch die freie Heilfürsorge für Beamte abgesichert, oder es bestand ein Anspruch auf Krankenhilfe oder vorbeugende Gesundheitshilfe als Sozialhilfeempfän- 27 Vgl. Verband der privaten Krankenversicherung e.v. (2010), Internet.

129 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 46 Sicherheit im Krankheitsfall ger, Kriegsschadensrentner oder Empfänger von Unterhalt aus dem Lastenausgleich. Ein verschwindend geringer Teil war nicht krankenversichert. Die historische Entwicklung der GKV hat zu einer Vielfalt von Trägern geführt. Mitte 2009 entfiel der größte Anteil der Mitglieder auf die Ortskrankenkassen mit 34,01 %, gefolgt von 31,2 % bei den Ersatzkassen der Angestellten. 19,76 % waren 2009 bei einer Betriebskrankenkasse und 8,97 % bei einer Innungskrankenkasse versichert. Daneben bestehen noch die Bundesknappschaft mit 2,37 %, Ersatzkassen der Arbeiter mit 2,39 %, landwirtschaftliche Krankenkassen mit 1,22 % sowie die See-Krankenkasse mit 0,1 % der GKV- Mitglieder als selbständige Träger der GKV. 28 III.2.2 Ausgabenstruktur der Gesetzlichen Krankenversicherung - Diagnose: Schieflage 2008 wurden in Deutschland insgesamt ca. 263 Mrd. für Gesundheit ausgegeben. Wird nach Ausgabenträgern unterschieden, so wird deutlich, dass auf die GKV 2009 mit 170,8 Mrd. über die Hälfte der Ausgaben entfiel. Die Zunahme des Anteils der GKV gegenüber 1970 von 35,5 % auf weit über 50 % macht deutlich, wie sehr die GKV durch Leistungsausweitungen und Erweiterung des Kreises der Pflichtversicherten zu Lasten der anderen Träger an Bedeutung gewonnen hat. Der Anteil, den die privaten Haushalte tragen, ist im gleichen Zeitraum nur von 8,4 % auf 8,8 % gestiegen. Im Zeitraum von 1960 bis 2009 stieg das Bruttoinlandsprodukt von etwa 150 Mrd. auf Mrd.. Gleichzeitig entwickelten sich die GKV-Ausgaben von ca. 5 Mrd. (West-Deutschland) im Jahr 1960 auf Gesamtausgaben von 170,8 Mrd. im Jahr 2008 (vgl. Institut der deutschen Wirtschaft 2009, S. 17). Während also das Bruttoinlandsprodukt lediglich um das 16fache zunahm, ist eine Steigerung der GKV-Ausgaben um das 34,9fache zu konstatieren (vgl. Tabelle 3). Dieser Vergleich zeigt aber noch nicht die tatsächliche Entwicklung der Finanzierungsfähigkeit des sozialen Sicherungssystems an. Rele- 28 Vgl. BMG, Tabelle KM6 Bund, Juli 2009.

130 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 47 vant dafür ist erst ein Vergleich mit der Einnahmenbezugsgröße der GKV, der Entwicklung der Lohn- und Gehaltssumme der abhängig Beschäftigten. Bezogen auf ein gewähltes Basisjahr 1960 stellt sich die Entwicklung wie folgt dar (vgl. Tabelle 3). Tab. 3: Ausgabenstruktur der Gesetzlichen Krankenversicherung; alte Bundesländer 1960 und Deutschland Mrd. relativ Mrd. relativ Bruttoinlandsprodukt ,0 fache Gesamtausgaben 4,9 100,0% 170,8 100% 34,9 fache darunter: Verwaltungskosten 0,3 6,3% 8,9 5,2% 29,7 fache Leistungsausgaben 4,6 100,0% 161,9 100,0% 35,2 fache darunter: ärztliche Behandlung 1,0 21,7% 30,6 18,9% 30,6 fache zahnärztliche Behandlung / Zahnersatz 0,4 8,7% 8,5 5,3% 21,3 fache Arzneimittel 0,6 13,0% 32,4 20,0% 54,0 fache Heil- und Hilfsmittel 0,1 2,2% 10,0 6,2 % 100,0 fache Krankenhaus 0,8 17,4% 56,4 34,8% 70,5 fache Krankengeld 1,4 30,4% 7,2 4,4% 5,1 fache Hinweis: Die relativen Ausgaben der Verwaltungskosten beziehen sich auf die Gesamtausgaben, alle anderen relativen Ausgaben auf die Leistungsausgaben. Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage BMG Pressemitteilung Nr. 15 vom

131 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 48 Sicherheit im Krankheitsfall Wird auf die Ausgabenentwicklung der GKV nach Leistungsarten abgestellt, so lässt sich ein Anstieg der Leistungsausgaben insgesamt von 1960 bis 2009 auf das 34,9fache, nämlich von 4,9 Mrd. auf 170,8 Mrd. nachweisen. Gleichzeitig wird deutlich, dass 2009 über 34,8 % der gesamten Ausgaben der GKV auf den Krankenhausbereich entfallen. Gleich danach rangieren die Arzneimittelausgaben sowie die ärztliche Behandlung. Auch wenn der statistische Vergleich dahingehend hinkt, dass 1960 nur die alten Bundesländer berücksichtigt wurden, kann trotzdem die Trendentwicklung abgelesen werden. Überdurchschnittlich nahmen hierbei die Ausgaben für Heilund Hilfsmittel (100fache), für das Krankenhaus (70,5fache) sowie für zahnärztliche Behandlung/Zahnersatz (21,3fache) zu. Wie Abbildung 4 zeigt, stiegen die Beitragsbemessungsgrenze und damit das Einnahmenvolumen der GKV von 1970 bis 2007 um das 5,8fache an. Gleichzeitig nahmen die Leistungsausgaben pro Mitglied jedoch um das 7,6fache zu. Als Referenz stieg während des gleichen Zeitraums das Bruttosozialprodukt pro Einwohner um das 6,4fache an. Abb. 4: Entwicklung wichtiger Indikatoren der GKV im Vergleich (Basisjahr 1970) 800 Leistungsausgab 700 en/mitglied Beitragsbemessu 400 ngsgrenze BSP/Einwohner Quelle: Eigene Darstellung nach BMG Tabelle KF03 Bund 2008

132 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 49 Um den fortwährenden Anstieg der Gesamtausgaben zu decken, wurden sowohl die Beitragsbemessungsgrenze als auch der Beitragssatz kontinuierlich angehoben. Da sich die Grundlohnsumme je Mitglied der Allgemeinen Krankenversicherung (AKV), die das beitragspflichtige Jahresarbeitsentgelt bildet und damit die Basis für die Beiträge zur Sozialversicherung ist, nur unterproportional entwickelt hat, ist im System der Gesetzlichen Krankenversicherung ein kontinuierliches Erodieren der Finanzierungsgrundlage und damit ein inhärentes Einnahmenproblem bei wachsenden Ausgaben zu konstatieren. Es entstand eine Schere zwischen Einkommens- und GKV- Ausgabenentwicklung. Vor allem die bereits erwähnten Umstände, wie die permanente Ausdehnung des Leistungskatalogs in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, sind für den enormen Zuwachs auf der Ausgabenseite verantwortlich. Neben der ständigen Fortentwicklung auf dem Gebiet der Medizintechnik und einer veränderten Altersstruktur trugen maßgeblich die Erweiterung des Mitgliederkreises, die geänderte Finanzierung der Krankenhäuser und auch die Rechtsprechung der Sozialgerichte ihren Teil dazu bei. Der auf gesetzlich begründeter Leistungsausweitung basierende Ausgabenanstieg der GKV belegt eindrucksvoll, wie es sich auswirkt, wenn soziale Leistungen zu politischen Gütern werden. So wurde der Mitgliederkreis der GKV um Behinderte (Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter in geschützten Einrichtungen vom 7. Mai 1975), Rehabilitanden und Studenten (Gesetz über die Krankenversicherung der Studenten [KVSG] vom 24. Juni 1975) erweitert. Neben der quantitativen Ausdehnung des Leistungskataloges um Leistungen wie Vorsorge- und Früherkennungsprogramme (2. Krankenversicherungsänderungsgesetz vom 21. Dezember 1970) und Rehabilitationsmaßnahmen war auch qualitativ eine Aufwertung zu verzeichnen, insbesondere bei der Krankenhauspflege durch das Gesetz zur Verbesserung von Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 19. Dezember 1973 (KLVG). Wesentlich zu einer Ausdehnung der Ausgaben für die stationäre Versorgung trug die Einführung des Selbstkostendeckungsprinzips für die laufenden Kosten der Krankenhäuser durch das Kran-

133 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 50 Sicherheit im Krankheitsfall kenhausfinanzierungsgesetz (KHG) vom 29. Juni 1972 und die Bundespflegesatzverordnung (BPflV) vom 25. April 1973 bei. Über die Sozialrechtsprechung gelangten die Kieferorthopädie und später auch der Zahnersatz (Urteil des Bundessozialgerichtes vom 24. Januar 1974) umfassend in den Leistungskatalog der GKV. Es wurde immer deutlicher, dass sich eine Deckung der wachsenden Ausgaben nicht allein durch die Anhebung der Beitragssätze oder die Anbindung der Beitragsbemessungsgrenze an die Lohn- und Gehaltsentwicklung erreichen ließ. Es erfolgte ein Paradigmenwechsel zum Leitbild einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik, nachdem vorher eine ausgabenorientierte Einnahmenpolitik politische Grundlage war. III.3 Das Dilemma eines Wachstumsmarktes Die Gesundheitswirtschaft in Deutschland steht vor einem besonderen Dilemma. Einerseits versucht die Politik seit Mitte der siebziger Jahre, durch unzählige Kostendämpfungsgesetze die Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen einzudämmen, andererseits kann der Anstieg der Gesundheitsausgaben und der damit korrespondierenden Versorgungskennzahlen sowohl auf einer höheren Wertschätzung als auch auf Preiseffekten beruhen. Wie Knappe und auch Pimpertz herausarbeiten, bleibt die Analyse der einfachen empirischen Daten ambivalent. Es sind Preiseffekte zu konstatieren, die aber auch auf das politische Regulierungshandeln zurückgeführt werden müssen; andererseits sind auch deutlich Bereiche der Versorgung zu erkennen, die auf Mengensteigerungen beruhen und damit auch Ausdruck von Nachfragepräferenzen sind (vgl. Knappe 2001, S. 139 f.; vgl. auch Pimpertz 2002, S. 11 ff.). So kann der Gesundheitsmarkt durchaus als volkswirtschaftlicher Wachstumsmarkt und Beschäftigungsmotor verstanden werden. In diesem Sinne schätzte bereits 1996 der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen einen positiven Netto- Beschäftigungseffekt von ca Beschäftigten bei Erhöhung der

134 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 51 Gesundheitsausgaben um eine Mrd. DM 29 ein. Unter Berücksichtigung der arbeitsmarktpolitischen Situation mutet daher die Politik der Kostendämpfung als sonderbar an, da diese die Wachstumspotenziale des Gesundheitswesen unterschätzt. Die Ausgaben im Gesundheitswesen und die Veränderung der Ausgaben sind aus volkswirtschaftlicher Perspektive zunächst Ausdruck des normalen Strukturwandels einer Wirtschaft. Die Bedeutung der Ausgabenproblematik in der Gesundheitswirtschaft entsteht erst durch die Koppelung der Krankenkassenbeiträge an die Lohnkosten, was unter Berücksichtigung schwach steigender Produktivität Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit mit sich bringen kann und letztlich muss. Das Prinzip der Beitragssatzstabilität, das daraus abgeleitet ist, ist jedoch rein sozial- oder wirtschaftspolitisch begründet und hat mit der Gesundheitsversorgung per se nichts zu tun (vgl. Oberender/Zerth 2002, S. 47). Damit wird aber unmittelbar die Bedeutung der Steuerungsprinzipien des Gesundheitswesens deutlich. III.3.1 Zielsetzungen der Gesundheitspolitik Bei Betrachtung der Steuerungsprinzipien der deutschen Gesundheitsversorgung lassen sich durch einen Blick in die wesentliche Rechtsvorschrift des SGB V drei Grundziele der deutschen Gesundheitspolitik identifizieren: Beitragssatzstabilität ( 71 SGB V), ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung ( 72 SGB V) und 29 Im Sondergutachten 1996 wurde bei einer Erhöhung der Gesundheitsausgaben um 1 Mrd. DM ein Beschäftigungseffekt im Gesundheitssektor von Erwerbstätigen erwartet, reduziert um den negativen Effekt in anderen Wirtschaftszweigen von bleibt ein positiver Saldo von (Sachverständigenrat 1996, S. 244). Hierbei würde besonders der nachfragewirksame Effekt von Gesundheitsausgaben berücksichtigt, der im Zusammenhang mit hoher Arbeitsintensität im Gesundheitswesen beispielsweise in der Pflege zu einer Mehrnachfrage nach Beschäftigten führen kann.

135 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 52 Sicherheit im Krankheitsfall angemessene Honorierung der Leistungserbringer ( 72 SGB V) Diese Grundziele können als Versuch der Außensteuerung verstanden werden, anhand derer versucht wird, die politische Zukunftsfähigkeit der Gesundheitspolitik zu sichern und weiterzuentwickeln. 30 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass jede Außensteuerung auf die Innensteuerung des Gesundheitssystems Rücksicht nehmen muss. Es ist also gerade die Aufgabe einer ökonomischen Analyse, die Kompatibilität zwischen Außensteuerungszielen und den entsprechenden Anreizsystemen auf der Mikroebene zu untersuchen. Die Überprüfung der genannten Ziele bedarf aber zunächst einer Analyse der konstituierenden Steuerungsprinzipien im Gesundheitswesen (immanente Steuerung). Dabei ist zu überprüfen, ob die Zielsetzungen der Makroebene Sicherstellung einer ausreichenden, notwendigen Versorgung der Patienten bei gleichzeitiger Sicherstellung des Prinzips der Beitragsatzstabilität durch das System überhaupt erfüllbar ist. Im Gesundheitswesen liegt ein System unterschiedlicher Prinzipal- Agenten-Beziehungen vor. Prinzipal und Agent haben nicht zwangsläufig die gleiche Interessenlage, u. U. liegt beim Agenten (Arzt) ein Informationsvorsprung vor, und es existieren noch Kontrollkosten (vgl. Sauerland 1999, S. 281 f.). Während der Patient (Prinzipal) vor allem die Zielgröße Qualität anstrebt, ist für den Kostenträger die Effizienz der Behandlung relevant. Gleichzeitig ist für den Arzt (Agent) tendenziell die Zielgröße Qualität und angemessene Honorierung entscheidend, wohingegen die Versicherung wiederum die Zielgröße Effizienz anstrebt. Ein derartiges Auseinanderfallen unterschiedlicher Zielgrößen ist Grundlage vieler Austausch- und Wettbewerbsbeziehungen und grundsätzlich nicht problematisch, solange es institutionelle Vorkehrungen gibt, die einen Ausgleich der gegenläufigen Interessen erlauben. 30 Okruch 2001, S. 122 f. stellt sehr ausführlich die Defizite der Innensteuerung und die Versuche gesundheitspolitischer Außensteuerung dar.

136 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 53 Durch die Finanzierung über das Umlageverfahren müssen wie bereits erwähnt steigende Ausgaben durch steigende Einnahmen (Produkt aus durchschnittlichem Beitragssatz und Grundlohnsumme der gesetzlich Versicherten) gedeckt werden. Wächst die Grundlohnsumme nicht im gleichen Maße wie die Ausgaben, so müssen unter Beachtung der weiteren Nebenbedingungen die Beitragssätze erhöht werden. Durch diesen inhärenten Zielkonflikt ist die politische Diskussion ständig von neuen Gesundheitsreformdebatten geprägt, die letztendlich immer wieder am Solidarprinzip und an der Finanzierung der Krankenversicherung ausgerichtet sind. III.3.2 Immanente Steuerungsmängel im GKV-System III Versicherungsinduzierte Nachfrage nach Gesundheitsgütern Die Eintrittswahrscheinlichkeit von Schadensfällen ist nicht unabhängig von der Existenz eines Versicherungsschutzes. Es lässt sich beobachten, dass Versicherte Gesundheitsgüter nachfragen, die sie ohne Versicherungsschutz nicht nachgefragt hätten. Dieses Phänomen wird als versicherungsinduzierte Nachfrage nach Gesundheitsgütern bezeichnet. Es gilt dabei festzuhalten, dass dieser Effekt zunächst wirtschafts- und sozialpolitisch erwünscht ist und gerade die Effizienz einer Versicherungslösung gegenüber einer Situation der Nichtversicherung deutlich macht. Durch die Einführung der Versicherung und das damit einhergehende Poolen von Risiken wird der einzelne in die Lage versetzt, Gesundheitsgüter nachzufragen, die er ohne Versicherung nicht hätte nachfragen können. Dieser Wohlfahrtseffekt wird dann problematisch, wenn die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zum bereits beschriebenen Verantwortungsvakuum führt. Gerade bei der Idee einer Vollversicherung ohne jede Form der Selbstbeteiligung lässt sich das Problem des Freifahrereffekts charakterisieren. Erfolgt eine Vollversicherung gegen das Krankheitskostenrisiko, dann muss der Versicherte für entstandene Krankheitskosten nichts selbst bezahlen. Der von ihm wahrgenommene Kaufpreis beträgt also null. Die Differenz zwischen dem Preis für die Versicherten und dem Preis, den der Anbieter für ein Gesundheitsgut fordert, wird von

137 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 54 Sicherheit im Krankheitsfall der Krankenversicherung bezahlt. Solange die Versicherung die entstandenen Kosten der Nachfrage trägt, ist es für den Versicherten rational, Gesundheitsgüter bis zu einem Grenznutzen (= Nutzen der zuletzt verbrauchten Einheit) von Null (Sättigungsmenge) nachzufragen, da mit der Nachfrage kein Verzicht auf andere Güter verbunden ist unabhängig vom Preis. Sein Nachfrageverhalten ist also vollkommen preisunelastisch. Erschwert wird die Prämienkalkulation aber auch durch das Problem der unvollständigen Information. Einerseits haben die Versicherungsunternehmen nur begrenze Information über die Risikogüte der Versicherten, was zur Folge hat, dass eine Durchschnittsprämie ermittelt wird und gute Risiken einen höheren Anreiz haben, nur eine Teilversicherung zu wählen (adverse Selektion). Andererseits sind Verhaltensänderungen nach Versicherungsabschluss zu berücksichtigen (Moral-Hazard). Damit werden Verhaltensänderungen von Versicherten bezeichnet, die nach dem Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages auftreten. Verfügt der Versicherte über einen Versicherungsschutz, so ist es für ihn rational, bestimmte bisher durchgeführte Maßnahmen zur Schadensvermeidung (Risikominderung und Risikovorsorge) zukünftig zu unterlassen. Aus ökonomischer Sicht ist es wichtig, zwei Erscheinungsformen von Moral-Hazard zu unterscheiden. Es ist nämlich ökonomisch durchaus rational, Maßnahmen zur Schadensverhütung zu unterlassen, wenn die Versicherung das effizientere Verfahren zur Sicherheitsschaffung darstellt. Hierin liegt gerade das Motiv zum Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages. Bei der anderen Erscheinungsform von Moral-Hazard handelt es sich um absichtlich gefahrgeneigtes und damit gesundheitsgefährdendes Verhalten. In diesem Fall zielen die Versicherten darauf ab, mittels einer Verhaltensänderung den Versicherungsfall eintreten zu lassen, weil sie aus dem Versicherungsfall einen Nutzenzuwachs erwarten. Dieses Problem stellt sich besonders bei Versicherungsleistungen in Geldform dar. Als Folge des Moral-Hazard steigen die Schadenswahrscheinlichkeit und die Schadenshöhe an. Dies führt zu einem zusätzlichen

138 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 55 Bedarf an Gesundheitsgütern. Hierdurch nimmt die Sättigungsmenge der Nachfrage nach Gesundheitsgütern zu. Darüber hinaus kann in vielen Leistungsbereichen das Phänomen der sogenannten angebotsinduzierten Nachfrage konstatiert werden. Häufig ist es den Anbietern von Gesundheitsleistungen (Ärzte, Krankenhäuser) nämlich möglich, die nachgefragte Menge über das medizinisch notwendige Maß hinaus zu erhöhen. Die Leistungsanbieter verhalten sich hierbei rational, weil für sie durch ein Mehr an Gesundheitsleistungen der Umsatz und damit in aller Regel auch der Gewinn wächst, ohne dass dies für sie innerhalb bestimmter Grenzen mit negativen Sanktionen verbunden wäre. Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass die sogenannte Ärzteschwemme zu einer Aufteilung der Nachfrage auf eine größere Zahl der Leistungsanbieter führt und aufgrund der preisunabhängigen Nachfrage der Umsatz des einzelnen Anbieters reduziert wird. Dies ist jedoch nicht der Fall. Aufgrund der bestehenden Anreizstruktur findet eine Ausdehnung der Nachfrage statt. Noch Ende der neunziger Jahre zeigte sich ein direkter Zusammenhang zwischen Arztdichte und Ausgaben der GKV: Je höher die Arztdichte ist, desto höher sind auch die Krankheitsausgaben. Im Vergleich der Zahlen von 1998 zu 1997 war ein Anstieg aller abgerechneten Fälle in der ambulanten Versorgung zu verzeichnen. Die im Jahre 1998 abgerechneten Krankenbehandlungen (Fallzahlen insgesamt) waren im Vergleich zu 1997 um 3,3 % gestiegen. Der Anstieg aller abgerechneten Fälle war in erster Linie bedingt durch die steigende Fallzahlenentwicklung bei den Fachärzten. Betrachtet man die Veränderung der Fallzahlen pro Arzt, so zeigte sich eine differenzierte Entwicklung in den einzelnen Facharztgruppen. Es kam fast bei allen Arztgruppen zu einer Erhöhung der Fallzahlen je Arzt. Ausnahmen bildeten lediglich die Kinderärzte (-0,1%). Die höchsten Steigerungsraten fanden sich bei Laborärzten (+4,9%) und Urologen (+4,0%) (vgl. Zentralinstitut für die vertragsärztliche Versorgung 2000, S. 78 ff.). Zudem trägt die steigende Zahl der Leistungserbringer zu einer Ausgabensteigerung bei, weil deren Leistungen in Form der Einzelleistungshonorierung abgerechnet werden. Dieses Verfahren birgt für

139 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 56 Sicherheit im Krankheitsfall Ärzte den Anreiz, immer mehr Leistungen zu verordnen und zu erbringen. Der Arzt wird zwar versuchen, die einzelnen Leistungen möglichst effizient zu erbringen, an einem günstigen Kosten- Leistungs-Verhältnis der Gesamttherapie eines Krankheitsbildes ist er hingegen wegen fehlender Anreize nicht unbedingt interessiert. Den Anbietern im Gesundheitswesen ist eine derartige Ausweitung der Nachfrage primär durch ihren Informationsvorsprung gegenüber dem Patienten (Informationsasymmetrie) möglich. Der Patient merkt nur sehr selten, wann der Leistungsumfang das erforderliche Maß übersteigt. Für den Patienten besteht unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen auch kein Anreiz, sich die fehlenden Informationen zu beschaffen, empfindet er doch die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen bei häufig vollständiger Kostenübernahme durch die Krankenkassen als kostenlos. III Synthese: Der Teufelskreis im Gesundheitswesen Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass sowohl angebots- als auch nachfrageseitig ein Steuerungsproblem im Gesundheitswesen zu konstatieren ist. So stellt lediglich die zur Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen erforderliche Zeit ein Begrenzungskriterium für die nachgefragte Menge dar, nicht aber die individuelle Zahlungsbereitschaft der Patienten. Ganz generell kann somit bei allen Beteiligten der Eindruck entstehen, die Gesundheitsleistungen würden zum Nulltarif zur Verfügung gestellt, und bei diesen handele es sich nicht um knappe, sondern um freie Güter und Dienste. Dieses Verhalten wird häufig noch dadurch verstärkt, dass bei den meisten Menschen die Vorstellung besteht, je teurer eine Gesundheitsleistung ist, um so effektiver sei sie auch. Dadurch werden häufig sowohl zu viele als auch zu teure Gesundheitsleistungen nachgefragt. Es besteht eine Rationalitätenfalle: Der Einzelne handelt aufgrund der vorhandenen Rahmenbedingungen aus seiner Sicht rational, indem er möglichst viele und teure Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt. Gesamtwirtschaftlich aber liegt eine Verschwendung vor, weil weniger und günstigere Gesundheitsleistungen für eine erfolgreiche Therapie ausreichen würden. Insoweit besteht eine Diskrepanz zwischen individueller und gesellschaftlicher Rationalität.

140 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 57 Ein wesentlicher Anteil an der Ausgabenentwicklung ist auf die besondere Dynamik des Fortschritts in der Medizin zurückzuführen. In diesem Fall kann tatsächlich von einer Besonderheit des medizinisch-technischen Fortschritts gesprochen werden, die wesentlich auf die Anreizwirkungen, die von den Einrichtungen des Gesundheitswesens ausgehen, zurückzuführen ist. Durch die konsequente Entökonomisierung des Gesundheitswesens ist der technische Fortschritt dort in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass bei immer mehr Patienten zunehmend neue Krankheiten diagnostiziert und therapiert werden können. Diese sogenannten Add-On- Technologien sind daher fast immer mit Kostensteigerungen verbunden. Klassische Prozessinnovationen, mit deren Hilfe der für ein gegebenes Ziel erforderliche Faktoreinsatz gesenkt werden kann, findet man im Gesundheitswesen nur selten. da sie bisher von der medizintechnischen Industrie als nicht lukrativ genug erachtet werden. Das Sachleistungsprinzip in der Form der Vollversicherung und die damit einhergehende Kollektivierung der durch individuelle Nachfrageentscheidungen verursachten Kosten lassen den Kosten- Nutzen-Kalkülen, die in anderen Bereichen typischerweise der Anwendung neuen Wissens vorausgehen, keinen Raum mit dem Resultat eines ständig steigenden Anspruchsniveaus (vgl. Prosi 1988, S. 68). Da vor allem auf Seiten der Anwender der neuen Technologien kein Zwang zu einem Wettbewerb über Kostensenkungen besteht, sondern komparative Vorteile scheinbar nur über eine Steigerung des quantitativen und qualitativen Behandlungsinputs aufgebaut werden können, haben sich kostensenkende Prozessinnovationen bislang kaum durchsetzen können. Die zuvor beschriebenen Rahmenbedingungen lassen jenes Verantwortungsvakuum entstehen, welches zu einem für das Gesamtsystem fatalen Verhalten aller Beteiligten führen muss. Die Schuld hierfür darf nicht den beteiligten Leistungserbringern und Patienten angelastet werden, denn sowohl die Ärzte, die auf eine maximale Sicherheit und maximale Versorgung ihrer Patienten bedacht sind, als auch die Patienten, die möglichst viele medizinische Leistungen nachfragen, verhalten sich aus ihrer subjektiven Perspektive rational.

141 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 58 Sicherheit im Krankheitsfall Die Ursachen für diese gesamtgesellschaftlich unerwünschten Erscheinungen liegen vielmehr in den staatlich festgesetzten Rahmenbedingungen begründet. Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive sind die Verhaltensanreizstrukturen für die Beteiligten des Gesundheitswesens als kontraproduktiv zu werten, weil sie eine Verschwendung knapper Mittel fördern. Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen funktioniert das von dem Moralphilosophen und Nationalökonomen Adam Smith ( ) beschriebene Prinzip der unsichtbaren Hand im Gesundheitswesen nicht. Hierunter verstand er das Phänomen, dass in einem wettbewerblich organisierten Markt das individuelle Vorteilsstreben des einzelnen das Wohl der Allgemeinheit steigert. Zusammenfassend lässt sich die Situation im Gesundheitswesen als Teufelskreis bezeichnen (vgl. Abbildung 5), der als Grenzbetrachtung interpretiert, das Verantwortungsvakuum dokumentieren hilft. Das Freifahrerprinzip in Form der Vollversicherung sowie das Solidaritätsprinzip verleiten Versicherte und Leistungserbringer dazu, sich nicht mehr mit den monetären Konsequenzen ihres Handelns auseinander zu setzen. Der Nutzen der Gesundheitsleistungen ist individualisiert, die Kosten werden kollektiviert. Dieses Verantwortungsvakuum, das versicherungstypische Moral- Hazard-Phänomen, der mangelnde Widerstand seitens der Leistungsanbieter und auch deren Anreize zur Leistungsausweitung induzieren ein ständig steigendes Anspruchsdenken. Individuelle Kosten-Nutzen-Abwägungen, die dieser Entwicklung Einhalt gebieten könnten, sind aufgrund der Rahmenbedingungen kaum möglich. Die Rationalitätenfalle führt zu gravierenden Folgen für das finanzielle Gebaren der GKV. Ständig steigende Leistungsausgaben führen zu permanenten Ausgabenunterdeckungen, denen mit einer ständigen Ausweitung der Mitgliedschaftspflicht sowie Erhöhungen der Beitragssätze begegnet wird. Mussten bis zur Einführung des Gesundheitsfonds die Krankenkassen diesem Trend durch individuelle Beitragserhebungen begegnen, so ist im Kontext des Gesundheitsfonds mit einem Anstieg des vom Bundesgesundheitsministerium festzulegenden Beitragssatzes, einer Erhöhung der Steuerzuschüsse oder eine Einführung der Zusatzbeiträge zu rechnen. Letzt-

142 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 59 lich findet auf diese Weise eine Ausbeutung aller durch alle statt, verbunden mit einem zunehmenden Missbrauch und zunehmender Aushöhlung des Solidarprinzips. Abb. 5: Teufelskreis der GKV Quelle: Eigene Darstellung

143 um 13:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 60 Sicherheit im Krankheitsfall Es stellt sich also die Frage nach den Mitteln, mit denen den aus bestimmten Strukturelementen resultierenden Mängeln der GKV begegnet werden kann und wie ihre Ursachen bekämpft werden können. Wie kann die Nachfrage nach kostensenkenden Behandlungsmethoden wirksam gestärkt werden? Wie ist eine angebotsinduzierte Nachfrage zu reduzieren? Welche Wege sind einzuschlagen, um individuelle und kollektive Rationalität wieder stärker zusammenzuführen? III.3.3 Organisationsdefizite der GKV Aus der vorwiegenden Bemessung des Versicherungsbeitrages an den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit resultieren Verzerrungen, da viele Versicherte weitere Einkünfte aus anderen Quellen beziehen. Die Beschränkung auf eine Einkunftsart als Maßstab für die Leistungsfähigkeit eines Mitglieds ist von daher nicht sachgemäß. Darüber hinaus findet ein Solidarausgleich nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze statt, was dazu führen kann, dass Bezieher höherer Einkommen als freiwillige Mitglieder, die in der Regel mehr Familienangehörige mitversichern als Bezieher niedriger Einkommen, von den Versicherungspflichtigen sogar noch subventioniert werden. Im Ergebnis werden die aus Sicht der Solidargemeinschaft guten Risiken bestrebt sein, diese zu verlassen. Zugleich werden Personen mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze, die aber aufgrund ihrer persönlichen Umstände für die Solidargemeinschaft der GKV-Versicherten ein eher schlechtes Risiko darstellen, versuchen, als freiwillige Mitglieder in der GKV zu verbleiben oder als Mitglieder einer privaten Krankenversicherung wieder zurückzuwechseln. Die Abwanderung der guten und der Verbleib und die Rückkehr der schlechten Risiken wird als adverse Selektion bezeichnet. Häufig wird übersehen, dass aus einer Mitgliedschaft in der Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten erwachsen. Für die Leistungsinanspruchnahme bedeutet dies, dass nur die Lasten unverschuldeter Krankheitsfälle auf die Solidargemeinschaft verteilt werden dürfen. Gegenstand von Versicherungsleistungen der GKV sind aber seit langem nicht nur unverschuldete Krankheitsfälle. Auch Krankheiten, die

144 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Sicherheit im Krankheitsfall 61 infolge ungesunder Lebensweise etwa durch übermäßigen Alkoholoder Nikotingenuss und Fehlernährung eingetreten sind, werden auf Kosten der Solidargemeinschaft behandelt. Ebenso für Unfälle, die bei besonders risikoreichen Sportarten eintreten, tritt die Solidargemeinschaft GKV ein. III.3.4 Probleme der Angebotsstruktur Gravierende Probleme erwachsen aus dem Prinzip der gemeinsamen Selbstverwaltung. Sowohl auf Seiten der Versicherten als auch auf Seiten der Leistungsanbieter besteht die gesetzliche Pflicht zur verbandlichen Selbstorganisation. Diesen, in der Regel mehrgliedrigen Organisationen auf der Seite der Versicherten die Verbände der Krankenkassen, auf der Seite der Ärzte die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) wird gesetzlich die Aufgabe zugeschrieben, Verhandlungen über den Leistungsumfang und die Leistungsentlohnung durchzuführen. Diese Konstellation stellt ökonomisch ein bilaterales Monopol dar. Auch wenn durch die jüngere Gesetzgebung der Einfluss der Kassenärztlichen Vereinigungen gesunken ist und vor allem der Idee der selektiven Verträge ein größerer Stellenwert eingeräumt werden soll, bleibt die wettbewerbliche Situation ambivalent. Gerade wenn Krankenversicherungen dazu übergehen, regional mit Leistungserbringern selektiv zu kontrahieren oder mit Arzneimittelherstellern Rabattverträge zu schließen, spielt der Aspekt der Nachfragemacht von Krankenversicherungen eine immer wichtigere Rolle. Allgemein lässt sich festhalten, dass je stärker zwischen den Kostenträgern ein Wettbewerb um Versicherte zu konstatieren ist, desto geringer wird die Gefahr einer regionalen Nachfragemacht der Krankenversicherungen sein. Dies gilt insbesondere, wenn die Patienten bereit sind, Versorgungsangebote beispielsweise durch die Fortentwicklung der Medizintechnik unterstützt auch überregional zu substituieren. In dieser Folge sinkt zunächst die Abhängigkeit der Patienten von regionalen Leistungserbringer und abgeleitet auch die Abhängigkeit von den Kostenträgern, die mit den regionalen Leistungserbringern kontrahieren. Damit wird aber deutlich, dass die Frage regionaler Nachfrage-

145 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 62 Sicherheit im Krankheitsfall macht von Krankenkassen eine wichtige Rolle spielt und insofern Missbrauchsaufsicht sowie Fusionskontrolle ebenfalls auf die Krankenkassen angewendet werden müssen. Letztendlich gilt es noch, die Strategievariablen der Leistungserbringer im veränderten Krankenversicherungswettbewerb zu betrachten. Diese können entweder durch Kooperation innerhalb des regionalen Marktes oder außerhalb des regionalen Marktes Verhandlungsmacht gegenüber der Versicherung anstreben und so die Monopsonmacht des Kostenträgers begrenzen. 31 Vor diesem Hintergrund ist insbesondere die Integrationsentwicklung zwischen Leistungserbringern, die im Gesundheitswesen an Bedeutung gewinnen, näher zu beleuchten. Der Verhandlungsspielraum der Leistungserbringer wird durch Integrationsbestrebungen zwischen den Leistungserbringern teilweise erweitert, zumindest dann, wenn sie Teil eines größeren Unternehmensverbundes wird. Interessant ist jedoch die Frage, wie sich ein diskretes Verhandlungsergebnis wiederum auf die Situation des Patienten auswirkt. Ob bei einer derartigen Entwicklung die Versicherten noch die Möglichkeit haben, einem Leistungsbündel, das zwischen Versicherungs- und Leistungsunternehmen verhandelt worden ist, auszuweichen und damit eine wettbewerbliche Kontrollfunktion vorhanden ist, ist neben der grundsätzlichen Abgrenzung der Versicherungspflicht und damit des Umfangs eines vom Versicherten zu kontrahierten Leistungsumfangs von den Bedingungen des Versicherungswettbewerbs abhängig. 31 Einen Überblick über die allgemeine Problematik monopsonistischer Strukturen im Gesundheitswesen geben Gaynor und Vogt (2000).

146 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 63 IV Lösungsversuche: Anspruch und Wirklichkeit Die politische Entwicklung im Bereich der GKV lässt sich sehr instruktiv anhand der Ausgabenfieberkurve der GKV (alte Bundesländer bis 1990) von 1962 bis 2007 darstellen (vgl. Abbildung 6). Es zeigt sich deutlich, dass insbesondere ab 1971 unter der sozialliberalen Koalition der Leistungskatalog der GKV ausgedehnt wurde, was zu einer Zunahme der Gesamtausgaben von 25 Mrd. DM 1970 auf 61 Mrd. DM 1975 geführt hat. Dies entspricht einer Zunahme um 144 %. Angesichts dieser rasanten Entwicklung der Ausgaben der GKV sowie konjunkturbedingter Einnahmeausfälle geriet das Gesundheitswesen immer stärker in den Mittelpunkt der politischen und wissenschaftlichen Diskussion. Abb. 6: Fieberkurve KVKG GKV-Leistungsausgaben Veränderung in Prozent KVEG und KH- KDG GRG GMG GKV-WSG G NOG GSG ,3 88,7 55% 45% 35% 25% 15% 5% -5% Quelle: Eigene Darstellung nach BMG (2010)

147 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 64 Lösungsversuche Die in dieser Zeit aufgekommene und seither nicht mehr abgeflaute Kostendämpfungsdebatte offenbarte das Fehlen einer für die politische Diskussion hilfreichen ökonomischen Fundierung. Die Entstehung einer eigenständigen Forschungsrichtung Gesundheitsökonomie datiert aus dieser Zeit. Aufgrund der zunehmenden finanziellen Atemnot der GKV, die vor allem durch die vehemente Ausgabenexpansion ausgelöst wurde, griff die Politik seit Mitte der siebziger Jahren verstärkt zu Maßnahmen, die den Ausgabenanstieg bremsen sollten. Inwieweit diese Kostendämpfungsbemühungen von Erfolg gekrönt waren, soll im Folgenden untersucht werden. IV.1 Kriterien einer kritischen Würdigung Sozialpolitische Maßnahmen haben sich, wie bereits weiter oben gezeigt, nach dem Prinzip der Nichtdiskriminierung und infolgedessen der Subsidiarität auszurichten. Eine Begrenzung erfahren alle sozialpolitischen Maßnahmen in der Tradition Euckens durch die notwendige Gewährleistung der Markt- und Wettbewerbswirtschaft in ihrer Gesamtheit (vgl. Eucken 1975, S. 312 f.). Daraus lässt sich als weiteres Kriterium zur Subsidiarität eine Konformitätsprüfung konzipieren. Das Kriterium der Ordnungskonformität bezieht sich auf die Vereinbarkeit mit der ökonomischen und politischen Rahmenordnung. Mit der Unterscheidung zwischen Ordnungs- und Prozesspolitik werden Anhaltspunkte für staatliche Interventionen geliefert, weil der Eingriff in den Koordinationsprozess des Marktes bzw. den freiwilligen Austauschprozess auf der Mikroebene besonders verdächtig oder in hohem Maße legitimationsbedürftig ist. 32 Ordnungspolitische 32 Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass es viele Grauzonen zwischen Ordnungs- und Prozesspolitik gibt und damit im Rahmen der vorliegenden Analyse lediglich eine erste Orientierung vorgenommen werden soll. Wegner 1996, S. 15 ff. nimmt beispielsweise eine anderweitige Abgrenzung vor, in dem er bei marktwidrigen Interventionen von

148 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 65 Maßnahmen haben allgemeine Rahmenbedingungen zum Ziel, nach deren abstrakten Grundlagen die individuellen Handlungen auf Märkten frei gestaltbar sind. Eine typische Ordnungsregel ist die Formulierung des allgemeinen Eigentumsrechts. Mit prozesspolitischen Maßnahmen greift der Staat direkt in die individuelle Entscheidung des einzelnen Bürgers ein, indem er den Möglichkeitenraum deutlich verengt oder gar nur noch einen Durchführungsweg offen lässt. Hinsichtlich Zielkonformität wird der Zielerreichungsgrad der Maßnahmen hinterfragt, namentlich bei den gesundheitspolitischen Reformen die Minimierung oder gar das Einfrieren des Ausgabenanstiegs (vgl. ausführlich Oberender/Zerth 2005c). IV.2 Kostendämpfungsgesetze Angesichts der Ausgabenentwicklung in der GKV fand Mitte der 70er Jahre ein Umdenken in der Gesundheitspolitik statt. An die Stelle einer ausgabenorientierten Einnahmenpolitik trat die einnahmenorientierte Ausgabenpolitik. Am 1. Juli 1977 traten das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) und am 1. Januar 1982 das KostendämpfungsErgänzungsgesetz (KVEG) in Kraft. Mit Hilfe dieser Gesetze sollte der für die GKV bedrohlichen Entwicklung der Finanzlage Einhalt geboten werden; insbesondere sollte durch ein preisbewussteres Verhalten von Ärzten und Patienten die weitere Zunahme der Gesundheitsausgaben der GKV gebremst werden. IV.2.1 Maßnahmen Das KVKG sah halbjährliche Plenarsitzungen einer Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen (KAiG) vor. Die der gesamtwirtschaftlich ausgerichteten Konzertierten Aktion des Stabilitätsgesetzes vom 8. Juni 1967, 3, nachempfundene Einrichtung wurde mit der Ablaufpolitik spricht, die wirtschaftspolitische Ziele verfolgt und im weitesten Sinne (Sic!) ergebnisorientiert ist.

149 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 66 Lösungsversuche Rolle bedacht, unter Berücksichtigung einer bedarfsgerechten Versorgung und einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen medizinische und wirtschaftliche Orientierungsdaten sowie Vorschläge zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu erarbeiten. Dieses Gremium, dessen gesetzliche Basis sich heute in den 141, 142 SGB V findet, ist dem Grundsatz einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik verpflichtet. Bei der KAiG handelte es sich um einen Versuch der Globalsteuerung von volkswirtschaftlich bedeutsamen Aggregaten: Einnahmenentwicklung und Ausgabenentwicklung der GKV (vgl. Deutscher Bundestag 1990, S ). Auf der Grundlage eines durch die Politik vorgegebenen Paradigmas, der einnahmenorientierten Ausgabenpolitik, sollte die Konzertierte Aktion eine Verhaltensabstimmung der beteiligten Gruppen herbeiführen und so die Diskrepanz zwischen individueller und kollektiver Rationalität im Gesundheitswesen beseitigen helfen. Konkret sollten Ausgabenspielräume ausgelotet, begrenzt und auf die einzelnen Bereiche des Gesundheitswesens verteilt werden (vgl. grundsätzlich Gitter/Oberender 1987, S. 28 ff.). Der KAiG konnte somit eine allokative Funktion zugeschrieben werden, indem sie Empfehlungen für die Ausgabenstruktur sowie für die absolute Höhe der Gesundheitsausgaben abgeben sollte. Daneben hatte sie aber auch eine distributive Aufgabe, indem sie eine ausgewogene Verteilung der Belastungen ( 141 Abs. 1 SGB V) herzustellen hatte. Im Wege einer freiwilligen Verhaltensabstimmung soll die Kostenentwicklung, die maßgeblich auch auf den ungebremsten Verteilungskampf zwischen den Partikularinteressen der einzelnen Leistungserbringer zurückzuführen war, gesteuert werden. Unter anderem war im Gesetzestext auch vorgesehen, gemeinsam einen Arzneimittelhöchstbetrag für die GKV festzulegen. Geschah dies nicht, so sollten die Spitzenorganisationen der Kassenärzte und der Krankenkassen eine solche Empfehlung abgeben. Bei der Festlegung des Höchstbetrags waren die durchschnittliche Grundlohnsumme der beteiligten Krankenkassen, die Entwicklung der Arzneimittelpreise und die Zahl der Behandlungsfälle zu berücksichtigen.

150 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 67 Daneben verlangte das KVKG die Erstellung von Transparenzund Preisvergleichslisten für Arzneimittel. Mit Hilfe von Transparenzlisten der Transparenzkommission Arzneimittel beim Bundesgesundheitsamt sowie durch die Preisvergleichsliste des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen sollte die Preistransparenz bei Arzneimitteln für die Ärzte erhöht werden. Durch Preisinformationen sollten die Ärzte zu einem unter Kostengesichtspunkten effizienteren Verschreibungsverhalten bewegt werden. Die Preisvergleichsliste enthielt von wenigen Ausnahmen abgesehen nur Monopräparate. Sie sollte zu einer verbindlichen Informationsquelle für Ärzte werden. Bei der Erstellung dieser Liste galt es, gravierende methodische Hindernisse zu überwinden. So mussten möglichst allgemeingültige Kennzahlen für eine rationelle Arzneimitteltherapie gefunden werden. Gelöst wurden diese methodischen Probleme mit der Definition einer durchschnittlichen mittleren Tagesdosis (DDD). Darüber hinaus wurden Kombinationspräparate vernachlässigt, da nur Monopräparate erfasst und empfohlen wurden. Kombinationspräparate gelten fälschlicherweise nach wie vor als unwirtschaftlich und tauchen daher in großem Umfang auf der später eingeführten Negativliste auf. Die Transparenzliste enthielt neben den Preisen auch Informationen über therapeutische, pharmakologische und pharmazeutische Merkmale der Arzneimittel. IV.2.2 Ergebnisse und Bewertung Die Wirksamkeit der KAiG war bereits von Anfang an eingeschränkt. Wegen der Unverbindlichkeit der KAiG-Vorschläge entstand bei den Adressaten ein Verantwortungsvakuum; sie fühlten sich in ihrem Handeln nicht an diese Empfehlungen gebunden. In den bilateralen Verhandlungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungsanbietern gelang es den Vertragspartnern bisher immer, eigene Verbandsinteressen unabhängig von den Beschlüssen der KAiG zu verfolgen und durchzusetzen. Da die eigentlichen Ursachen der von allen Seiten konstatierten Probleme des Gesundheitswesens aber nicht aus der dezentralen

151 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 68 Lösungsversuche Planerstellung der Individuen, sondern vielmehr aus den Schwächen der zu ihrer Koordinierung vorgesehenen Regulierungen und Instanzen resultierten, hat die Konzertierte Aktion bis heute keinen grundlegenden Wandel der Situation herbeiführen können, eher hat sie den Blick auf die wirklichen Ursachen weiter verstellt. Daneben stellt eine derartige Instanz in einer freiheitlich demokratischen Ordnung eine höchst fragwürdige Einrichtung dar: Entscheidungsbefugnisse werden demokratisch nur unzureichend legitimierten Verbandsfunktionären zugeordnet, deren Beschlüsse letztlich jeden einzelnen Zwangsversicherten treffen. Folglich ist weder das Subsidiaritätsprinzip gewahrt, noch sind die Maßnahmen grundsätzlich ordnungskonform (vgl. Gitter/Oberender 1987, S. 28). Durch den Arzneimittelhöchstbetrag sollte eine Parallelentwicklung von Einkommen und Gesundheitsausgaben festgeschrieben werden. Die zu erwartende Verbrauchsentwicklung bei Arzneimitteln sah jedoch anders aus. Die demographische Entwicklung, die Veränderung des Morbiditätsspektrums und die Verbesserungen der medikamentösen Therapie selbst ließen eher eine Zunahme des Arzneimittelkonsums erwarten, die über einem erzwungenen paritätischen Anstieg von durchschnittlicher Grundlohnsumme und Arzneimittelausgaben liegt. Unwirtschaftlichkeit wäre die Konsequenz einer strikten Durchsetzung dieser Form der Budgetierung gewesen, wenn eine medikamentöse Therapie durch eine teurere operative Therapie substituiert werden muss. Wie die weitere Ausgabenentwicklung zeigt, hat sich dieses Instrument jedoch nicht bewährt, so dass sich in der Realität sehr wohl Strukturveränderungen ergaben. Die ebenfalls vorgesehenen Transparenz- und Preisvergleichslisten fanden nur sehr zögernd Eingang in die ärztliche Verschreibungspraxis. Als Steuerungsinstrumente vermochten es weder Preisvergleichs- noch Transparenzliste, wesentlichen Einfluss auf das Verschreibungsverhalten der Ärzte von Arzneimitteln zu nehmen. Es zeigte sich, dass ohne pekuniäre Anreize ein Preis- und Kostenbewusstsein auf Seiten der Nachfrage nicht erzeugt werden kann. Im Rahmen des KVEG reagierte der Gesetzgeber nicht mit einem verstärkten Einsatz pekuniärer Anreize, sondern mit einem Verbot der Kostenerstattung durch die GKV. Die Kosten sogenannter Ba-

152 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 69 gatellarzneimittel zur Behandlung geringfügiger Gesundheitsstörungen wurden ab sofort nicht mehr oder nur noch in begründeten Ausnahmefällen von der GKV erstattet ( 34 SGB V). Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) wurden mit Wirkung zum 1. Januar 2004 die bislang noch erstattungsfähigen nicht verschreibungspflichtigen Medikamente endgültig aus der Übernahme durch die Gesetzliche Krankenversicherung herausgenommen. IV.3 Gesundheits-Reform-Gesetz (GRG) Auch die in den Folgejahren weiter steigenden Beitragssätze (1988 betrug der durchschnittliche Beitragssatz der GKV 12,9 % des Bruttoeinkommens) sowie die permanente Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze vermochten es nicht, die Finanzierungsprobleme der GKV dauerhaft zu lösen. Die Defizite der GKV der Jahre 1984 bis 1988 addierten sich zu über 8 Mrd. DM, so dass einschneidende Maßnahmen unabdingbar wurden. Mit Hilfe des am 20. Dezember 1988 verabschiedeten Gesundheits- Reformgesetzes (GRG) wurde der Versuch unternommen, die unbefriedigende Situation der GKV grundlegend zu verbessern. Daneben wurde das gesamte Recht der Krankenversicherung neu kodifiziert und mit Ausnahme der Leistungsbereiche sonstige Hilfen und der Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, die ihre Rechtsgrundlage auch nach dem 31. Dezember 1988 in der Reichsversicherungsordnung haben, als Fünftes Buch in das Sozialgesetzbuch (SGB) eingefügt (Art. 1 GRG). IV.3.1 Zielvorstellungen und Maßnahmen Im Zentrum des GRG standen die bereits erwähnten drei Grundsätze ( 70 ff. SGB V): Beitragssatzstabilität, Sicherung einer notwendigen medizinischen Versorgung, Angemessene Vergütung ärztlicher Leistungen.

153 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 70 Lösungsversuche Die politische Priorität lag auf der Beitragssatzstabilität. Da es sich bei den vorgestellten Grundsätzen um konfligierende Zielvorstellungen handelt, konnte diese Prioritätssetzung nicht ohne Konsequenzen für die notwendige medizinische Versorgung sowie für die angemessene Vergütung der ärztlichen Leistung bleiben. Entweder musste, sollte Beitragssatzstabilität erreicht werden, der Leistungsumfang der GKV beträchtlich reduziert werden, und/oder es mussten die ärztlichen Honorare merklich beschnitten werden. Das GRG war mit einer Reihe von Instrumenten ausgestattet worden, die primär auf eine Reduktion des Leistungskataloges und eine Einschränkung der Diagnose- und Therapiehoheit des Arztes hinausliefen. Das Sachleistungsprinzip wurde grundsätzlich festgeschrieben, damit war eine Kostenerstattung nur ausnahmsweise möglich. Bei der zahnmedizinischen Versorgung waren hingegen Zuzahlungsregelungen in Verbindung mit einer Stärkung der Individualprophylaxe vom Gesetzgeber aufgenommen worden. Zur Zielerreichung der Beitragssatzstabilität wurden hauptsächlich Maßnahmen im Bereich der Arzneimittel eingeführt. So wurde die Erstellung einer Negativliste gesetzlich vorgeschrieben, die alle Medikamente enthalten sollte, die Ärzte nicht mehr zu Lasten der GKV verschreiben dürften. In eine solche Negativliste sollten gemäß 34 Abs. 3 Satz 2 SGB V gemäß des GRG insbesondere Arzneimittel aufgenommen werden, die für das Therapieziel oder zur Minderung von Risiken nicht erforderliche Bestandteile enthalten; oder deren Wirkungen wegen der Vielzahl der enthaltenen Wirkstoffe nicht mit ausreichender Sicherheit beurteilt werden können; oder deren therapeutischer Nutzen nicht nachgewiesen ist. Objektive Kriterien für die Festlegung der auszugrenzenden Präparate existierten jedoch nicht und konnten von daher auch nicht gesetzlich kodifiziert werden, infolgedessen bestanden große Ermessensspielräume der Verantwortlichen. Neben diesen Arzneimitteln, die aufgrund ihrer Wirkstoffzusammensetzung von einer Erstattung ausgeschlossen wurden, wurden auch

154 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 71 die medikamentösen Therapien ganzer Indikationsgebiete aus der Erstattungspflicht genommen ( 34 SGB V). Hiervon betroffen waren die sogenannten Bagatellarzneien. Ferner wurde eine Festbetragsregelung eingeführt, mit der ebenfalls beträchtliche Einsparungen bei der Arzneimittelversorgung erzielt werden sollten. Die Festbetragsregelung sollte zugleich die als zu gering erachtete Wettbewerbsintensität auf dem Pharmamarkt spürbar erhöhen ( 35 Abs. 5 Satz 1 SGB V). Bei Festbeträgen handelt es sich um eine besondere Form der Selbstbeteiligung, bei der für bestimmte GKV-Leistungen Höchstbeträge der Erstattung festgelegt werden. Nach 35 SGB V hatte der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in Richtlinien vorzugeben, für welche Arzneimittelgruppen Festbeträge festzusetzen sind. Diese Arzneimittelgruppen bestehen jeweils aus Arzneimitteln, die gegeneinander ohne Therapiebeeinträchtigung austauschbar sein sollen. Das GRG sah Maßnahmen vor, die das Verschreibungsverhalten der Ärzte im Sinne einer umfassenden Senkung der Arzneimittelausgaben beeinflussen sollten. So sollten nach 84 SGB V gemäß des GRG zwischen den Partnern der Gesamtverträge, also den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen, Richtgrößen vereinbart werden. Diese stellten arztgruppen- und patientengruppenspezifische Vorgaben für eine mengenmäßig zurückhaltende ärztliche Verschreibungspraxis dar. Das Verschreibungsvolumen wurde zwar nicht für jeden Arzt individuell festgelegt, dennoch bestand die Möglichkeit der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach 106 Abs. 2 Nr. 2 SGB V gemäß des GRG bei Richtgrößenüberschreitungen. Die Richtgrößen sollten Ärzte nicht nur veranlassen, sich auf die Verordnung von Festbetragspräparaten zu konzentrieren, sondern auch durch eine reduzierte Verschreibungsmenge Einsparpotentiale zu erschließen. Richtgrößen stellten daher ein zentrales Instrument zur Unterstützung der Ziele des Festbetragskonzepts dar (vgl. Vogelbruch 1992, S. 27). Neben der gesetzlichen Verankerung verschiedenster Kostendämpfungsmaßnahmen wurden aber auch neue Leistungskomplexe aufgenommen, so die ambulante häusliche Pflege. Ab dem 1. Januar 1989 wurde langjährig Versicherten ein Anspruch auf eine maximal

155 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 72 Lösungsversuche vierwöchige professionelle pflegerische Versorgung (Urlaubspflege) zuerkannt. Voraussetzung hierfür war, dass bereits mindestens zwölf Monate lang Schwerpflegebedürftigkeit bestand. Ab dem 1. Januar 1991 wurde den Versicherten ein Anspruch auf Dauerpflege (25 Pflegeeinsätze pro Monat mit Maximalkosten in Höhe von 750 DM je Versicherungsfall) eingeräumt. Darüber hinaus hat das Gesetz Änderungen in der Abgrenzung des versicherten Personenkreises beinhaltet, wie z. B. die Gleichstellung von Angestellten und Arbeitern durch Wegfall der Versicherungspflicht für Arbeiter mit einem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze. IV.3.2 Bewertung Die Einführung der Negativliste hat dazu geführt, dass Ärzte, denen es aufgrund des mit der zunehmenden Ärztedichte verbundenen härter werdenden Wettbewerbs immer schwerer fiel, Patientenwünsche für die Verschreibung von Medikamenten zurückzuweisen, sich gezwungen sahen, teure, dafür aber als wirksam erachtete Arzneimittel, die nicht Bestandteil der Negativliste sind, zu verschreiben. Das Auftreten derartiger Substitutionsvorgänge macht klar, dass es sich bei Unwirtschaftlichkeit, dem Attribut, mit dem die Präparate der Negativliste abqualifiziert werden sollen, um ein Kriterium handelt, das sich nicht allein aus der isolierten Bewertung eines Medikamentes ergibt. Erforderlich sind vielmehr Ziel-Mittel-Betrachtungen. Der Festbetrag spaltet den Arzneimittelpreis in einen Krankenkassenpreis und einen Patientenpreis. Damit ist nicht zwangsläufig ein Höchstpreis de jure intendiert, aber in der Regel de facto, insbesondere wenn die Marktsituation derart ausgestaltet ist, dass der größte kumulative Nachfrager, die Kassen der GKV für die gesetzlich Versicherten, nur noch den Festbetrag übernehmen. Sobald Generikanbieter im Markt sind oder die Möglichkeit zu günstigeren Re-Importen besteht, zeigte die bisherige Entwicklung eine generelle Entwicklung zur Preisanpassung auf die Höhe der Festbeträge an Als Beispiels sei das Präparat Adalat genannt. Durch die verzögerte Anpassung des Herstellers an die Festbetragshöhe waren deutliche

156 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 73 Hersteller von Generika, deren Preise unterhalb des einzuführenden Festbetrags liegen und deren vornehmliches Verkaufsargument bisher der niedrige Preis war, werden vermutlich ihre Preise langfristig in Richtung des Festbetrags erhöhen. Das Ergebnis der Festbetragsregelung ist also keine Intensivierung des Wettbewerbs bezüglich des Aktionsparameters Preis, sondern vielmehr eine Reduzierung des Preiswettbewerbs. Ordnungspolitisch ist zu beanstanden, dass die Festbeträge von den Spitzenverbänden der Krankenkassen und Ärzte zentral festgelegt werden und so einem in der Wirkung an die pharmazeutische Industrie gerichteten Preisdiktat nahe kommen. Neben großen Spielräumen bei der Einordnung von Medikamenten in Festbetragsgruppen bestehen erhebliche Differenzen zwischen Krankenkassen und Herstellern aufgrund zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe. Für die Patienten wurde durch die Einführung des Festbetragskonzepts eine umfassende Versorgung ohne jede Zuzahlung verankert. Aus wahltaktischen Gründen ist dies eine verständliche Zielvorstellung, die aber mit dem grundsätzlichen Reformziel einer erhöhten Eigenverantwortung nichts mehr gemein hat. Aus der Regelung resultierte daher auch nur ein kurzfristiger Preissenkungseffekt, wogegen eine effizientere Durchführung medikamentöser Therapien, bezogen auf die Gesamtkosten und nicht nur auf den Packungspreis, nicht erzielt werden konnte. Das Pflegekonzept des GRG muss als gescheitert angesehen werden, da es an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeizielt. So hatte das Bundesarbeitsministerium für das Jahr 1992 hierfür zwar 6,4 Mrd. DM eingeplant, in Anspruch genommen wurden jedoch nur 1,2 bis 1,3 Mrd. DM. Die Gründe für diese Nichtbeanspruchung sind vielfältig: Ein großer Teil der Pflegebedürftigen konnte die Leistung gar nicht in Anspruch nehmen, weil der Gesetzgeber lange Vorversicherungszeiten zur Bedingung gemacht hatte. Die Schwerpflegebedürftigkeit wurde vom Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen unter medizinischen Gesichtspunkten sehr restriktiv definiert, vor allem mit dem Ziel, eine mögliche Überinanspruchnahme von vorn- Umsatzeinbußen feststellbar. Hauptprofiteur in diesem Fall war ein Re-Importeur von Adalat (vgl. ausführlich Litsch et al. 1990, S. 126 f.).

157 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 74 Lösungsversuche herein auszuschließen. Darüber hinaus musste die Schwerpflegebedürftigkeit vorab vom Hausarzt und vom Medizinischen Dienst (MDK) der Krankenkassen in einem komplizierten und zeitraubenden Antragsverfahren bescheinigt werden. Es hat sich herausgestellt, dass die Anspruchsberechtigten Geldleistungen den Sachleistungen vorzogen, welche aber nur in wertmäßig geringerem Umfang gewährt werden konnten. Nahezu alle Kernziele des GRG wurden verfehlt (vgl. Übersicht 1). Übersicht 1: Blüms Reform: Wunsch und Wirklichkeit Einsparungen durch Ziel 1992 erreicht 1992 Festbeträge Mio. DM 600 Mio. DM Struktureffekt durch Transparenz Mio. DM 0 Mio. DM Wirtschaftlichkeit im Krankenhaus Mio. DM 0 Mio. DM Neue Leistungen, häusliche Pflege Mio. DM Mio. DM Beitragssatz 12,6 % 12,7 % Defizit Quelle: Oberender, P./Zerth, J. 2001, S Mio. DM > Mio. DM Erreicht wurden zwar jene Sparziele, die durch Leistungsabbau (Sterbegeld und Selbstbeteiligung der Patienten, z. B. Zahnersatz) bewirkt werden sollten, hingegen wurden die auf strukturelle Wirkungen ausgerichteten Kostendämpfungsziele völlig verfehlt. Besonders eklatant sind die Defizite zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei den Struktureffekten durch eine höhere Transparenz des Arzneimittelmarktes für die Ärzte sowie bei der Festbetragsregelung. Es muss darauf hingewiesen werden, dass im GRG die Kostendämpfung und nicht das Ziel einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung im Mittelpunkt stand. Die im GRG enthaltenen kostendämpfenden Maßnahmen konzentrierten sich außerdem auf wenige Gesundheitsbereiche, vor allem auf die Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln sowie auf zahnärztliche Leistungen. Keine Berücksichtigung fanden im Rahmen des GRG, wie zum Teil bereits erwähnt, der Krankenhausbereich, die ambulante Versorgung sowie die zukünftigen Herausforderungen, auf die im folgenden noch eingegangen wird.

158 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 75 Zusammenfassend kann das GRG nur als punktuell ansetzende Symptomtherapie bezeichnet werden, bei der die kostentreibenden Strukturen im Wesentlichen unbehandelt blieben. Es traten zwar kurzfristige Spareffekte ( Blüm-Delle ) als Folge der Vorwegnahme von Leistungen im zahnärztlichen Bereich im Jahre 1988 ( Blüm- Bauch ) ein, die eigentlichen kostenverursachenden Strukturen blieben hiervon aber unberührt. Die Behauptung, wonach die erzielten Einsparungen als Zeichen eines Umbruchs oder als Beginn eines anhaltenden strukturellen Abschmelzungsprozesses der Gesundheitsausgaben zu deuten seien, mochte zwar wahltaktisch verständlich sein, erwies sich aber sehr bald schon als unhaltbar. Ordnungspolitisch stellte das GRG das Ergebnis planwirtschaftlichen und dirigistischen Denkens zentralverwaltungswirtschaftlicher Provenienz dar. Es ging von einem kollektivistischen Menschenbild aus, das beherrscht wurde vom Glauben der Planbarkeit und der Illusion der Machbarkeit. Der einzelne Bürger, ob Patient oder Leistungserbringer, wurde zunehmend entrechtlicht und bevormundet.

159 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 76 Lösungsversuche IV.4 Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) Die nach Inkrafttreten des GRG sich abzeichnende Erholung auf der Ausgabenseite 1989 ergab sich ein Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben in Höhe von fast 10 Mrd. DM hielt nur kurzzeitig an. Bereits 1990 stiegen die Ausgaben wieder stärker als die Einnahmen. Der Überschuss verringerte sich 1990 auf 6 Mrd. DM, 1991 ergab sich wieder ein Defizit. Aufgrund des Defizits des Jahres 1992 in Höhe von fast 9 Mrd. DM und der Gefahr steigender Beitragssätze sah sich die Bundesregierung zum Handeln gezwungen (vgl. Bundesarbeitsblatt 1993, S. 92 ff.). Steigende Beitragssätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bedeuten nicht nur eine höhere Belastung der Lohneinkommen und hemmen damit die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer, sondern zugleich nehmen die Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber zu, was die Beschäftigungschancen negativ beeinflusst. Dies gilt insbesondere in den Branchen, die in einer wachsenden weltwirtschaftlichen Verflechtung steigende Lohnnebenkosten nur schwer verkraften können, d. h. über Preiserhöhungen überwälzen können. IV.4.1 Maßnahmen und Ziele Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) wurde in einer Rekordzeit von vier Wochen zum 21. Dezember 1992 verabschiedet. Insgesamt sollte mit seiner Hilfe eine Entlastung der Ausgabenseite der GKV von über 10 Mrd. DM erzielt werden. Das Gesetz folgte in seinen wesentlichen Zügen dem Grundgedanken von der totalen Budgetierung aller Leistungsbereiche und der Verwaltungsausgaben. Die Budgets stellten Obergrenzen dar, Steigerungen sollten nur noch im Rahmen der Steigerung der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder zulässig sein, d.h., es wurde eine Bindung an die Grundlohnsumme implementiert. Besondere Schwerpunkte im Rahmen des GSG waren der Krankenhausbereich, die ambulante ärztliche und zahnärztliche Versorgung, die Organisa-

160 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 77 tionsreform der GKV und wiederum die Versorgung mit Arzneimitteln. Die größten Veränderungen der Krankenkassenlandschaft rief die Organisationsreform der GKV hervor. Die Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten bei der Wahl ihrer Gesetzlichen Krankenkasse sowie die berufsbezogenen Gliederungskriterien der GKV hatten in beträchtlichem Umfang zu divergierenden Risikostrukturen, Risikoselektionsmöglichkeiten und Beitragssätzen geführt. Die Regelungen des 173 SGB V i. d. F. des GSG sahen daher die grundsätzlich freie Wahl einer Krankenkasse, deren Zuständigkeit sich auf den Beschäftigungs- oder Wohnort erstrecken musste, erstmals ab 1. Januar 1997 vor. Mitglieder konnten am 1. Januar 1996 die Mitgliedschaft bei ihrer Krankenkasse mit einjähriger Kündigungsfrist kündigen und einer anderen Kasse beitreten, deren Zuständigkeit sich auf ihren Beschäftigungs- oder Wohnort erstrecken musste. Damit wurde die Wahlfreiheit für Versicherungspflichtige bezüglich der GKV eingeführt. Die Krankenkassen unterliegen seit dem GRG einem Kontrahierungszwang, d. h., sie sind dazu verpflichtet, beitrittswillige Personen in ihren Versichertenkreis aufzunehmen. Zugleich dürfen sie diese nicht diskriminieren (Diskriminierungsverbot). Mit dem Ziel, Wettbewerbsverzerrungen zu neutralisieren, wurde vorgesehen, bereits ab 1. Januar 1994 in der allgemeinen Krankenversicherung und ab 1. Januar 1995 unter Einbeziehung der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) einen permanenten, bundesweiten und kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich zu implementieren, der Unterschiede in den beitragspflichtigen Einnahmen (Grundlohn), in der Zahl der kostenfrei mitversicherten Familienangehörigen (Familienlast), von alters- und geschlechtsbedingten Risikofaktoren sowie Invalidität ausgleichen sollte. Einnahmen- und Ausgabenunterschiede, die nicht auf den im Risikostrukturausgleich einbezogenen Faktoren beruhten, sollten nicht ausgeglichen werden. Weitere bestehende Wettbewerbsungleichheiten sollten durch eine Vereinheitlichung des bisher noch unterschiedlichen Vertragsrechts von Ersatz- und Primärkassen erreicht werden, so dass die Sonderstellung der Ersatzkassen entfiel.

161 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 78 Lösungsversuche Das GSG sah weiterhin vor, die duale Finanzierung der Krankenhäuser, bei der die Investitionskosten von der öffentlichen Hand ( 2 Abs. 2 KHG), die Betriebskosten hingegen durch tagesgleiche Pflegesätze der Krankenkassen finanziert wurden, schrittweise durch eine Finanzierung rein über Fallpauschalen, Sonderentgelte und differenzierte Pflegesätze abzulösen. Zum 1. Januar 1993 wurde das Selbstkostendeckungsprinzip in Form der begleitenden prospektiven Budgetierung auf der Basis tagesgleicher Pflegesätze, das wesentlich zu unwirtschaftlichen Verhaltensweisen im Krankenhausbereich beigetragen hatte, durch Gesamtbudgets abgelöst. Das Selbstkostendeckungsprinzip war eine Konsequenz der staatlichen Angebotsplanung durch selektive Investitionsförderung im Krankenhaussektor, in dem die Art der Betriebskosten weitgehend fremdbestimmt wurde. Neben der Veränderung der Vergütungsform griffen erleichterte Kündigungsmöglichkeiten seitens der Krankenkassen in den Fällen, in denen das Krankenhaus nicht mehr den Erfordernissen einer bedarfsgerechten, leistungsfähigen und zugleich wirtschaftlichen Behandlung der Versicherten genügte. Diese grundsätzliche Abkehr von dem bisher vorwiegend angewendeten dirigistischen Instrumentarium wurde allerdings konterkariert durch eindeutig dirigistische Vorschriften, zu denen die Pflegepersonalverordnung und auch die weiter ausgebaute Großgeräteplanung gezählt werden mussten (vgl. Neubauer 1993, S. 83). Auch die Ausgaben für Arzneimittel wurden budgetiert. Dem Budget für 1993 wurden die Ausgaben des Jahres 1991 zugrundegelegt, erhöht um den Anstieg der Vertragsärzte und bereinigt um die finanziellen Auswirkungen der Festbetragsregelung, die Veränderungen der Arzneimittelpreise, die Effekte einer Neuregelung der Zuzahlungen und der Leistungspflicht der Krankenkassen ( 84 SGB V). Ein Überschreiten des Arzneimittelbudgets von 24 Mrd. DM war mit finanziellen Einbußen der Ärzteschaft verbunden. Für die Deckung eines Defizits bis zu 280 Mio. DM hafteten die Ärzte, bei einer höheren Überschreitung haftete zusätzlich die pharmazeutische Industrie ebenfalls bis zu 280 Mio. DM.

162 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 79 Eine Ausgleichsforderung gegenüber der Industrie wurde durch eine Verlängerung des Preismoratoriums, das ebenfalls durch das GSG eingeführt wurde, geschaffen. Hierbei handelte es sich um eine gesetzlich vorgeschriebene Preissenkung von festbetragsfreien Arzneimitteln. Nach Artikel 30 GSG war beabsichtigt, die Preise festbetragsfreier, verschreibungspflichtiger Medikamente ab 1. Januar 1993 um fünf Prozent und die Preise für festbetragsfreie, aber zu Lasten der GKV verordnungsfähige, nicht verschreibungspflichtige Präparate, die der Apothekenpflicht unterliegen, um zwei Prozent zu senken und bis zum 31. Dezember 1994 im Preis unverändert zu lassen. Ausgenommen von dieser Regelung waren Präparate, die gemäß der Negativliste nach 34 Abs. 3 SGB V nicht zu Lasten der GKV verordnet werden können. Nach 84 Abs. 4 SGB V sollte das Budget frühestens zum 1. Januar 1994 durch eine indikationsbezogene Richtgrößenvorgabe abgelöst werden. Hierbei war geplant, die im GRG vorgesehene Einführung von arztgruppenspezifischen Richtgrößen für das Volumen verordneter Leistungen weiter zu differenzieren. Mit Hilfe von indikationsbezogenen Richtgrößen sollte die Verantwortung für eine sparsame Verordnung von Arzneimitteln weg vom Kollektiv auf die Ebene des einzelnen Arztes verlagert werden. Dies ist aber in den meisten Bundesländern nicht geschehen, so dass auch 1994 die Budgetregelung fortgeführt wurde. Daneben war geplant, eine wirtschaftliche Verschreibungsweise von Arzneimitteln wieder durch die Einführung einer Positivliste, die jene Medikamente enthält, die zu Lasten der GKV verordnet werden dürfen, zu fördern ( 34a i.v.m. 92a SGB V). Dieses Vorhaben wurde jedoch nicht realisiert und wurde auch obwohl anders geplant bei der Gesundheitsreform 2000 sowie dem eigens geplanten Gesetz zur Positivliste nicht umgesetzt.

163 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 80 Lösungsversuche IV.4.2 Würdigung der Maßnahmen Durch die Einführung der Kassenartenwahlfreiheit sind erste zentrale reformpolitische Forderungen erfüllt worden. Dennoch sind die Mängel nicht zu übersehen, die auch gegenwärtig noch Bestand haben. Der Risikostrukturausgleich wurde und wird über die Gefahr des Wettbewerbsversagens legitimiert (vgl. Cassel 1993). Die Begründung dafür ist aber im Prinzip der Beitragserhebung zu suchen. Die Beiträge einer einzelnen Kasse werden gemäß dem Solidarprinzip nach einem einheitlichen Beitragssatz erhoben. Dieser Beitragssatz ergibt sich als Quotient aus den Krankheitsausgaben, die eine Krankenkasse zu tragen hat, und den beitragspflichtigen Einkommen ihrer Mitglieder. Wenn der Beitragssatz de facto der wichtigste Aktionsparameter für die Krankenversicherungen im Wettbewerb um Versicherte ist, vor allem dann, wenn die Möglichkeiten zur eigenständigen Leistungserstellung durch einen weitgehend gesetzlich vorgegebenen Leistungskatalog eingeschränkt sind, resultiert zwangsläufig daraus ein Anreiz zur Risikoselektion. Durch den Risikostrukturausgleich (RSA) versuchte man nun, die nachfrageseitig gezahlten solidarischen Beiträge aus Anbietersicht in risikoäquivalente Prämien zu transferieren. Grundsätzlich lässt sich die Idee des Risikostrukturausgleichs mit folgendem Gedankenmodell skizzieren: Alle Versicherten zahlen in eine einheitliche Finanzierungsstelle ein, die Kassen erhalten dann die Zahlungen, die entsprechend das Ausgabenrisiko der Versicherten abbilden. Ziel ist es, damit eine Form der Quasi-Risikoäquivalenz zu schaffen. 34 Gelänge es den Kassen, bei einem perfekten Risikostrukturausgleich das Ausgabenrisiko vollständig abzubilden, so wären schlechte Risiken aus Sicht der Krankenkasse gar keine schlechten Risiken mehr, und die Kasse könnte sich lediglich auf das Leistungsmanagement für 34 Die Idee einer Risikoäquivalenz skizziert die Vorstellung, dass über eine Angebotsregulierung ein als-ob-risikomarkt vorhanden wäre. Vgl. dazu Oberender/Fleischmann 2001, S. 602.

164 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 81 ihre Versicherten konzentrieren. Allerdings funktioniert dieses Modell realiter nur mit erheblichen Schwierigkeiten, die vor allem darin begründet liegen, dass der Risikostrukturausgleich als reguliertes Verfahren zwangsweise ein einheitliches und für alle Kassen geltendes Verfahren der Einnahmen- und Ausgabenzuweisung vorsieht. Darüber hinaus wurden weitgehend nur die Faktoren Alter und Geschlecht als Indikator für das Risiko herangezogen. Ansatzpunkte zur Reform wurden mit der Veränderung des RSA betrieben und sollen daher an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen werden. Der Risikostrukturausgleich setzt grundsätzlich ein einheitliches Basisniveau voraus, das exogen vorgegeben werden muss. Von diesem Niveau aus erfolgt der Ausgleich. Ohne ein einheitliches Basisniveau an Leistungen könnten sich gute Risiken durch Wahl eines niedrigeren Versicherungsniveaus vom Einkommenstransfer an die schlechten Risiken zumindest teilweise befreien. 35 Jegliche Differenzierung des Leistungsangebotes muss sich daher immer dem Vorwurf ausgesetzt sehen, es läge eine versteckte Risikoselektion vor. 36 Das Problem wird beispielsweise bei der Ausgestaltung von Wahlleistungen in Form der freiwilligen Abwahloption deutlich. Solange eine solidarische, risikounabhängige Beitragssatzerhebung erfolgt, wird eine Inanspruchnahme von freiwilligen Abwahloptionen wahrscheinlich tendenziell von jungen, gesünderen Versicherten gewählt werden. Dies führt aber dann zu einem Problem für die Finanzierungsfähigkeit des Krankenversicherungssystems, wenn die durch die Abwahloption resultierende Beitragsreduzierung die Finanzierung derjenigen, die diese Leistung in Anspruch nehmen, in Gefahr gerät. Dies ließe sich nur vermeiden, wenn der Beitrag in einen Risikoanteil und einen Solidaranteil aufgegliedert werden könnte. Genau dies wird jedoch beim Solidarprinzip nicht intendiert. 35 Vgl. dazu Zweifel/Breuer 2003, S. 22; vgl. ähnlich auch Oberender/Ecker 1999, S. 56 f. 36 Knappe 2003, S. 30 ff. weist auf das Problem einer möglichen Entsolidarisierung bei Abwahloptionen hin, wenn es nicht gelingt, Risikoanteil und Solidaranteil im Beitragssatz trennscharf auseinander zu halten.

165 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 82 Lösungsversuche Wettbewerbliche Prozesse sind jedoch immer mit ungleichen Marktlagen für die Wettbewerber verbunden. Die Aufgabe des Gesetzgebers liegt darin, gleiche rechtliche Rahmenbedingungen für die Wettbewerber zu schaffen sowie den Marktzutritt für neue Krankenversicherungsanbieter, aber auch den Marktaustritt von Krankenkassen zu ermöglichen. Gerade Letzteres geschah nicht. So sah das GSG Erschwernisse bei der Neugründung von Betriebsund Innungskrankenkassen sowie auch bei deren Schließung vor. Absicht des Gesetzgebers war es, Entsolidarisierungsprozesse durch die Neugründung von Betriebs- und Innungskrankenkassen zu vermeiden. Konzentrationsprozesse auf der Seite der Krankenkassen, erstaunlicherweise nicht kassenartenübergreifend, wurden ausdrücklich gefördert. Den Landesregierungen wurde explizit das Recht zugestanden, Krankenkassen zwangsweise zu fusionieren. 37 Aber auch der erschwerte Marktaustritt bei nicht nachfragegerechtem Angebot der Krankenkassen förderte konzentrative Tendenzen. Eine freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Prinzipien genügende Ausgestaltung des Krankenkassenwettbewerbs in der GKV hätte den Kassen weitere Aktionsparameter auf Seiten des Leistungseinkaufs eröffnet. Dies hat der Gesetzgeber im Rahmen des GSG nicht ermöglicht. Auf die vom jeweiligen Honorierungssystem der Leistungsbereiche (Ärzte, Krankenhäuser, Medikamente) ausgehenden Anreize zur unwirtschaftlichen Leistungserbringung und zur Mengenausweitung reagierte der Gesetzgeber bisher (Arzneimittelhöchstbetrag des KVKG) und auch im Rahmen des GSG mit der Vorgabe von festen, an die Grundlohnentwicklung gebundenen Jahresbudgets, für deren Einhaltung die Leistungsanbieter haften. Neu war hingegen die vollständige Anbindung der Ausgabenentwicklung aller Leistungsbereiche an die Grundlohnentwicklung, wenn auch nur befristet bis einschließlich Die Anbindung an den Anstieg der Grundlohnsumme mag dem Anspruch der Beitragssatzstabilität genügen, den Bedürfnissen der 37 Als Beispiel mag die Fusion der Orts-AOKen zu Landesverbänden der AOK dienen.

166 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 83 Versicherten wird mit einer solchen Anbindung aber kaum Rechnung getragen. In vielen Ländern haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass, unabhängig von den politischen und sozialen Verhältnissen, die Gesundheitsausgaben mit einem höheren Prozentsatz als das Einkommen ansteigen. Wird eine Anbindung der Gesundheitsausgaben an die Grundlohnentwicklung staatlich verordnet, so kann, jedenfalls sobald die möglichen Rationalisierungspotentiale erschöpft sind, nicht mehr von einer bedarfsgerechten Versorgung gesprochen werden. Die zentrale Planung und Steuerung des Gesundheitswesens über eine konsequente Budgetierung ist daher verfehlt. Die Unmöglichkeit, alle erforderlichen Informationen in die Budgetierung einzubeziehen, da sie nicht zentral vorliegen, kann anhand der vernachlässigten Substitutionsbeziehungen zwischen den Leistungsbereichen verdeutlicht werden. Wie schon Jahre zuvor beim GRG so waren auch beim GSG kurzfristige Einspareffekte zu verzeichnen, die aber den langfristigen Anstieg der Gesundheitsausgaben nicht aufhalten konnten. So konnten beispielsweise bei den Arzneimitteln Vorzieheffekte beobachtet werden, die ebenfalls partiell der Intention des Gesetzgebers zuwiderliefen (vgl. Abbildung 7). Abb. 7: Vorzieheffekte durch Einführung des Arzneimittelbudgets ab 1. Januar Millionen Verordnungen Umsatz Mrd. DM Umsatz Verordnungen Sep 92 Okt 92 Nov 92 Dez 92 Jan 93 Feb 93 Mrz 93 4,5 4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 Quelle: Oberender, P./Zerth,J. 2001, S. 31. Die Budgetierungsnormen des GSG stellten daher lediglich Symptombekämpfungen dar. Maßnahmen, die an den Ursachen

167 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 84 Lösungsversuche ansetzen, sind kaum darin enthalten, sollten jedoch später folgen. Darauf lässt auch die zeitliche Befristung der Budgetierungsregelungen schließen. Einen besonderen Schwerpunkt innerhalb der Bestimmungen des GSG bildete der Arzneimittelbereich. Man schien sich von Regulierungen in diesem Feld besonders rasche Wirkungen zu versprechen, weil angenommen wurde, dass hier die Verschwendung am größten sei und deshalb am ehesten gespart werden könne. Das Preismoratorium stellte einen schwerwiegenden Eingriff in die unternehmerische Handlungsfreiheit dar. Wie schon durch die Einführung der Festbetragsregelung wurden die pharmazeutischen Unternehmen zu Preissenkungen gezwungen, nun allerdings nicht mehr nur faktisch, sondern durch die strikte Vorgabe eines Absenkungsprozentsatzes. Besonderes problematisch erscheint die unsachgemäße Ausgestaltung des Preismoratoriums, die dazu führte, dass nicht nur der GKV-Bereich berührt wurde, sondern auch Absenkungen im Bereich der Selbstmedikation vorgeschrieben wurden. Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) war ordnungspolitisch ambivalent. Zum einen enthielt es sehr konstruktive Ansätze, die mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung vereinbar waren. So waren die Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips und die schon damals projektierte, aber bis zum Jahr 2004 noch nicht realisierte Abschaffung der dualen Finanzierung der Krankenhäuser, die erhöhte Selbstbeteiligung der Patienten und die Kassenartenwahlfreiheit für die Versicherten wichtige Schritte auf dem richtigen Weg, da sie mit den Grundprinzipien einer sozialen Marktwirtschaft vereinbar sind. Die drastischen Eingriffe in die Entscheidungsfreiheit aller Beteiligten, insbesondere die dirigistisch verfügte Deckelung der GKV- Ausgaben in allen Leistungsbereichen, stellte aber wiederum nur einen Versuch dar, die Symptome zu bekämpfen.

168 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 85 IV.5 Neuordnungsgesetze Da auch das Gesundheitsstrukturgesetz nur ansatzweise zur Lösung der Ausgabenentwicklung beitrug, versuchte der Gesetzgeber, mit dem Beitragsentlastungsgesetz (1996) und vor allem mit den beiden Neuordnungsgesetzen (1997) eine höhere Effizienzorientierung im deutschen Gesundheitswesen zu erreichen. Abb. 8: Überschuss-/Defizitentwicklung in der GKV (West) und ergriffene Maßnahmen Quelle: eigene Darstellung nach BMG 2004 IV.5.1 0,04-0,89 4,99 3,12-5,6 Mrd. -4,65 4,65 Maßnahmen und Ziele 1,06-2,62-1,98 0,72 0,5 Mrd. -0,01-3,02-3,37 GRG GSG 1. und 2. NOG Gesundheitsreform 2000 Die GKV-Neuordnungsgesetze (NOG), die am 1. Juli 1997 in Kraft traten, waren ein Versuch, die Wirksamkeit des Wettbewerbs in der GKV zu erhöhen. Eine Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Kassen sollte über die Schaffung von Satzungsleistungen angestrebt werden (vgl. Art. 1/15. Abschnitt 2. NOG), was aber in der politischen Diskussion zu umstritten war und deshalb nicht in die Gesetzesrealität überführt wurde. Insbesondere mit der Einführung von Modellvorhaben ( 63 ff. SGB V) und Strukturverträ-

169 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 86 Lösungsversuche gen ( 73 a SGB V) sollten den Krankenkassen Möglichkeiten für effiziente Vertragsstrukturen gegeben werden. Jedoch unterlagen diese Regelungen einer zeitlichen Befristung und waren von der Zustimmung der Kassenärztlichen Vereinigung abhängig eine Regelung, die auch heute noch weitgehend im SGB V verankert ist. Ein besonderer Schwerpunkt der Neuordnungsgesetze galt der Stärkung der Eigenverantwortung der Versicherten. Insbesondere sollten diese bei Beitragssatzsteigerungen der Krankenkasse überproportional beteiligt werden: Bei jeder Beitragssatzerhöhung um 0,1 Prozentpunkte war vorgesehen, die Zuzahlung automatisch um 1 DM bzw. einen Prozentpunkt zu erhöhen. Damit verknüpfte der Gesetzgeber eine Festschreibung der Beitragssätze bis Ende 1996, was der politischen Priorität der Beitragssatzstabilität entspricht. Zum sollten die Beitragssätze dann einheitlich um 0,4 Prozentpunkte reduziert werden. Mit der Beitragssatzerhebung unmittelbar verbunden wurde auch ein automatisches Kündigungsrecht für den Versicherten, woraus sich der Gesetzgeber ebenfalls einen stärkeren Wettbewerbsdruck auf die Krankenkassen versprach. 38 Darüber hinaus sah das Gesetzesvorhaben ein Wahlrecht auf Kostenerstattung für den Patienten vor, was als erster Schritt zur Flexibilisierung des Solidarprinzips gedacht war. Insgesamt nahm in beiden NOG die Bedeutung der Selbstbeteiligung zu. Es wurden folgende Zuzahlungen angehoben: für Arzneimittel um jeweils 5 DM auf 9, 11 und 13 DM, je nach Packungsgröße N1, N2 und N3, für Heilmittel um 5 % auf insgesamt 15 %, weitere Erhöhungen bei Krankenhausleistungen sowie im Fahrkostenbereich. Einen besonderen Stellenwert der Reform nahmen die Änderungen in der zahnmedizinischen Versorgung ein. Die bislang prozentualen 38 Bis zum Inkrafttreten des Solidaritätsstärkungsgesetzes nach dem Regierungswechsel Ende 1998 wurde diese Beitragssatzkoppelung jedoch nicht in die Praxis umgesetzt (Änderung durch das GKV- Finanzstärkungsgesetz 1998).

170 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 87 Zuschüsse wurden in einen Indemnitätstarif (Festzuschuss) überführt, verbunden mit einer Aufwertung der Eigenvorsorge durch regelmäßige prophylaktische Leistungen. In den Neuordnungsgesetzen war weiterhin vorgesehen, die Arzneiund Heilmittelbudgets durch Richtgrößen zu ersetzen. IV.5.2 Würdigung der Maßnahmen Die mit den NOG erhofften durchgreifenden wettbewerblichen Reformanstrengungen wurden nur teilweise in die Realität umgesetzt. Vor allem die Erprobungsregelungen auf der Vertragsseite mit Modell- und Strukturverträgen waren nur eingeschränkt durchführbar ausgestaltet worden und zudem an den Zustimmungsvorbehalt der Kassenärztlichen Vereinigung geknüpft. Trotzdem hatte der Gesetzgeber versucht, Elemente einer der individuellen Eigenverantwortung und Handlungsfreiheit entsprechenden Ordnungspolitik zu implementieren. Dazu gehörten in erster Linie das Wahlrecht zwischen Kosten- und Sachleistung, die angestrebten Wahlmöglichkeiten für die Versicherten und die höheren Selbstbeteiligungsregelungen. Hierdurch wurden das Versicherungsprinzip und die Versichertenpräferenzen stärker zur Geltung gebracht und namentlich die Eigenverantwortung von Versicherten und Leistungserbringern gestärkt sowie der Wettbewerb zwischen den Kassen intensiviert. Ordnungspolitisch ambivalent ist jedoch zu vermerken, dass neben den gerade aufgezeigten Elementen auch wiederum dirigistische Eingriffe ausgeweitet wurden. Die Festschreibung der Beitragssätze bis 2006 und vor allem die geplante Koppelung der Zuzahlungen an mögliche Beitragssatzerhöhungen waren mit einer freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Ordnung kaum konform. Insbesondere die kartellrechtlichen Strukturen auf der Steuerungsebene zwischen den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen waren durch den Zustimmungsvorbehalt bei Erprobungsregelungen sogar noch verstärkt worden. Ob dem Ziel einer Stabilisierung der Beitragssätze und damit der Lohnnebenkosten mit den Gesetzen geholfen wurde, scheint eher zweifelhaft zu sein, wurde doch das Problem

171 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 88 Lösungsversuche der Beitragsbemessungsgrenze in den NOG weitgehend vernachlässigt. IV.6 Gesundheitsreform 2000 Nach dem Regierungswechsel im Herbst 1998 waren durch das Solidaritätsstärkungsgesetz einige Maßnahmen, insbesondere der Neuordnungsgesetze, wieder zurückgenommen worden. Dieses sogenannte Vorschaltgesetz sollte nur der erste Schritt einer Gesundheitsreform 2000 sein, die nach etlichen politischen Auseinandersetzungen Ende Dezember 1999 in sehr reduziertem Umfang in Gesetzesform festgehalten wurde. Zur Sicherung der finanziellen Stabilität wurden im Solidaritätsstärkungsgesetz folgende Maßnahmen verabschiedet: Reduzierung der Zuzahlungen bei Arzneimitteln auf 8, 9 und 10 DM je nach Packungsgröße Befreiung chronisch Kranker von den Zuzahlungen Aufhebung der Dynamisierung der Zuzahlungen, die ab Juli 1999 zu einer Anhebung von 0,50 bis 1 DM geführt hätte Aufhebung der Koppelung der Beitragssatzerhöhung einer Kasse an eine Anhebung der Zuzahlungen Aussetzung des Krankenhausnotopfers Wiederaufnahme des Zahnersatzes für nach 1978 Geborene in den Leistungskatalog Rücknahme der Gestaltungsmöglichkeiten für die Krankenkasse bei der Beitragsgestaltung Ordnungspolitische Grundentscheidung war die Stärkung der Solidarität, was in der Abschaffung der erst durch die Neuordnungsgesetze vorgesehenen Gestaltungselemente bei Beiträgen und Leistungen seinen Ausdruck fand.

172 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 89 Das politische Ziel der Beitragsstabilität sollte ausschließlich über die Erschließung von Effizienzreserven erreicht werden. Ein Wettbewerb im Austauschprozess zwischen Versicherten und Versicherungsgeber wurde als unsolidarisch abgelehnt. Als grundlegendes Ziel der Gesundheitsreform 2000 konnte die Sicherung einer zweckmäßigen, ausreichenden, wirtschaftlichen und das Maß des Notwendigen nicht übersteigenden Gesundheitsversorgung innerhalb des solidarischen Krankenversicherungssystems festgehalten werden (BMG 1999, S. 4). Ein besonderer Stellenwert sollte der Verzahnung zwischen ambulanter und stationärer Pflege zukommen. So war ein Globalbudget projektiert. Darüber hinaus sollte in einem neuen Versuch das duale Finanzierungssystem bei der Krankenhausfinanzierung auf ein monistisches Verfahren umgestellt werden. Nach der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat und anhaltender Kritik trat Ende des Jahres 1999 nur ein Rumpfpaket des ursprünglichen Gesetzesvorhabens in Kraft. IV.6.1 Maßnahmen und Ziele Entgegen dem ursprünglichen Vorhaben eines Globalbudgets blieb auch nach dem eine sektorale Budgetierung bestehen. Die Einzelbudgets für ärztliche Gesamtvergütung, Arznei- und Heilmittel und den stationären Sektor wurden fortgeschrieben. Um die Beitragssatzstabilität zu sichern, sollten sich die Budgets jährlich um die vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) festgestellte bundesdurchschnittliche Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einnahmen verändern. Auch wurde die ursprüngliche Planung, die Krankenkassen schrittweise für die gesamte Krankenhausfinanzierung verantwortlich zu machen, nicht realisiert. Bei den Betriebsausgaben des stationären Sektors sollte ab dem 1. Januar 2003 ein einheitliches leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystem eingeführt werden ( 17a, 17b KHG). Diese generelle Einführung einer Finanzierung über Fallpauschalen hatte sich an den Diagnosis Related Groups (DRG) zu orientieren. Ein besonderer Schwerpunkt blieb bei der Förderung der Integrationsversorgung. Dabei konnten die Krankenkassen mit einzelnen

173 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 90 Lösungsversuche Vertragsärzten oder mit den Kassenärztlichen Vereinigungen Verträge über integrative Versorgungsformen schließen. Die Kassen mussten mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung eine Rahmenvereinbarung schließen. Modellvorhaben waren möglich zwischen Krankenkassen und einzelnen Vertragsärzten oder einer Kassenärztlichen Vereinigung. Krankenkassen und Kassenärztliche Bundesvereinigung konnten in Bundesmantelverträgen Grundsätze für Modellvorhaben vereinbaren. Die ursprünglich vorgesehene Regelung, dass bei fehlender Involvierung der Kassenärztlichen Vereinigung Verträge nur im Benehmen mit der KV geschlossen werden können, entfiel. Explizit gefordert wurde durch das Gesetz die Einführung eines umfangreichen Qualitätsmanagements für sämtliche Leistungserbringer ( 135a ff. SGB V). Das Qualitätsmanagement sollte dabei ein durchgängiges Gestaltungsprinzip werden, um die Patienteninteressen zu wahren und gleichzeitig die Verschwendung solidarisch finanzierter Gelder zu vermeiden. Einen erheblichen Impuls für eine Wirtschaftlichkeitserhöhung erhoffte sich die Bundesregierung durch die Positivliste bei Arzneimitteln. Trotz erheblichen politischen Diskurses wurde diese Regelung schließlich in das Gesetz aufgenommen. Sie blieb jedoch zunächst ohne Wirkung, weil die Umsetzung per Rechtsverordnung im Bundesrat zustimmungspflichtig war. Einen persönlichen Schwerpunkt legte die damalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer auf die Förderung von Prävention, Selbsthilfe und Patientenberatung. Die Kassen sollten in ihren Satzungen Leistungen zur Prävention anbieten. Dabei durften sie pro Versichertem und Kalenderjahr 5 DM ausgeben. Die Spitzenverbände der Krankenkassen sollten hierbei gemeinsam und einheitlich prioritäre Handlungsfelder und Kriterien für Leistungen im Rahmen der Prävention beschließen ( 20 Abs. 1 SGB V). IV.6.2 Bewertung der Maßnahmen Die ursprünglich geplante Gesundheitsreform 2000 konnte aufgrund der politischen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zwangsläufig nur ein Rumpfgesetz werden. Vor allem die anfänglich projektierten Steuerungsinstrumente sind nicht realisiert worden. Die Lotsen-

174 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 91 funktion des Hausarztes beschränkt sich auf die Vorschrift, mit Zustimmung des Patienten eine erweiterte Dokumentationskompetenz zu erhalten. Einen neuen Ansatz hat das Hausarztprinzip im Rahmen des Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) 2003 erhalten. Die Beibehaltung der sektoralen Budgetierung hat zwangsläufig zu einer neuen Diskussion über die zukünftige Finanzierung der solidarischen Krankenversicherung geführt. Soll das Solidarprinzip erhalten bleiben, so ist die Bemessungsgrundlage für die Beitragskalkulation erheblich auszuweiten, da ein Festhalten am Arbeitseinkommen für die weitere Entwicklung nicht mehr ausreichend ist. Das geplante Globalbudget wäre zwar aus ordnungspolitischer Sicht bedenklich gewesen, da das Ausgabenwachstum weiterhin auf zentraler Ebene allgemeingültig vorgeben werden sollte, im Hinblick auf eine integrierte Versorgung wäre es jedoch ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Sind doch im Vergleich zur sektoralen Budgetierung Verschiebungen zwischen den einzelnen Sektoren möglich, was für eine integrierte Versorgung eine notwendige Bedingung darstellt. Die Gesundheitsreform 2000 bejahte zwar grundsätzlich den Mechanismus des Wettbewerbs unter den Krankenkassen, lehnte aber die Stärkung der finanziellen Eigenverantwortung der Versicherten ab. Die im neuen Abschnitt 11 vorgesehenen Formen der Integrierten Versorgung ( 140 a - g SGB V) ermöglichten einerseits Verträge zwischen Leistungserbringern, Leistungserbringerverbänden oder Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen im Sinne einer sektorübergreifenden Versorgung, die Reformpolitik blieb aber anderseits weiterhin ambivalent: Einerseits wurde verstärkt auf wettbewerbliche Elemente zur Lösung der vielfältigen Probleme gesetzt, andererseits wurde der Wettbewerb um Mitglieder der Krankenversicherungen untereinander stark beschränkt (vgl. zur Fortentwicklung der Integrierten Versorgung die Ausführungen zum GMG). Trotz Modellvorhaben und Möglichkeiten zur integrativen Versorgung hat auch die Gesundheitsreform 2000 den Leistungskatalog der GKV weitgehend vorgegeben. Auch der permanente, bundesweite und kassenartenübergreifende Risikostrukturausgleich führte zu einer Einebnung der Beitragssatzunterschiede. Im Sinne einer markt-

175 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 92 Lösungsversuche orientierten Reform sollte die Ausweitung der Wahlfreiheit der Patienten mit einer Ausweitung der Vertragsfreiheit zwischen Kassen und Leistungserbringern einhergehen (vgl. bereits Wissenschaftliche Arbeitsgruppe Krankenversicherung 1987, S. 12 ff.). Die Gesundheitsreform betonte vor allem die Bedeutung eines umfassenden Qualitätsmanagements. Die Verpflichtung zur Teilnahme an Maßnahmen der Qualitätssicherung, die auch weiterhin gilt, muss allerdings als ein weitgehend dirigistisches Instrument bezeichnet werden, das kaum geeignet ist, die Leistungserbringer zu einer wirklichen Qualitätsverbesserung zu motivieren. Der Qualitätsbegriff wird in der wissenschaftlichen Diskussion mit unterschiedlichen Inhalten belegt. Grundsätzlich wird zwischen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität unterschieden. Folglich ist bei jeder Art der Qualitätssicherung der eingenommene Blickwinkel zu beachten. Eine administrierte Qualitätssicherung würde die Ausgestaltung einzelner Qualitätssicherungsmaßnahmen der freien Disposition der Leistungserbringer entziehen. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung erfolgt eine Bewertung der Qualität grundsätzlich auf dezentraler Ebene über Märkte (vgl. Oberender/Daumann 1997). Eine Ausnahme und damit eine Legitimation für einen Eingriff in eine dezentrale Koordination liegen nur vor, wenn es einen objektiven Qualitätszusammenhang gibt. Die Qualität einer medizinischen Versorgung hängt jedoch maßgeblich vom zugrunde gelegten Verständnis des Phänomens Krankheit ab. Qualität ist folglich dann erreicht, wenn unterschiedliche Zielvorstellungen über die Realisation von Gesundheit erreicht werden. Jedoch entzieht sich Gesundheit weitgehend der Objektivierung, da sich Kriterien wie Konstitution, Schmerzempfinden, Krankheitsstruktur und Wahrnehmung einer Krankheit individuell sehr stark unterscheiden. Darüber hinaus lassen sich häufig valide, reliable und sensitive Kriterien auf der Ergebnisebene wenn überhaupt nur sehr schwer finden und messen (vgl. dazu Oberender/Daumann 1997). Als Konsequenz einer fehlenden Eindeutigkeit des Qualitätsbegriffes ist einer Vielfalt von Qualitätsangeboten der Vorrang zu geben, unter denen der Patient mit Unterstützung des Mediziners und unter Einbeziehung der

176 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 93 Krankenkasse wählen kann. Dies lässt sich aber wiederum im Wettbewerb der Kassen und der Leistungserbringer untereinander am besten erreichen. Nach dem Gesetzentwurf bildeten die Förderung der Gesundheit und die Verhütung von Krankheit einen unverzichtbaren Bestandteil eines modernen Gesundheitswesens. Aufgrund des vorgesehenen bescheidenen Ausgabenspielraums, insbesondere unter Berücksichtigung der Budgetneutralität, ist die Frage offen geblieben, ob die beabsichtigten Erfolge der verstärkten Prävention eingetreten wären. Dabei darf jedoch die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen generell nicht überschätzt werden. Insbesondere vor dem Hintergrund eines freiheitlichen Menschenbildes ist zu berücksichtigen, dass Forderungen nach Maßnahmen der Verhaltensprävention immer einen Eingriff in die individuelle Lebensführung bedeuten. Präventionsmaßnahmen können aber bei einem Wettbewerb der Leistungsangebote als Differenzierungsmöglichkeit von Leistungserbringern und Krankenkassen dienen. Folglich hat eine sinnvolle Präventionspolitik an den Freiheitsgraden der Leistungserstellung anzusetzen. Die zwangsweise Homogenisierung durch die vorgesehene Rolle der Spitzenverbände der Krankenkassen, wie im Gesundheitsreformgesetz 2000 vorgesehen, oder die Vorgabe einer staatlich definierten Präventionsstiftung, wie in der Gesundheitspolitik im Jahr 2004 diskutiert, steht einer wettbewerblichen Präventionspolitik jedoch entgegen. IV.7 Reform des Risikostrukturausgleichs Nachdem die Anfang des Jahres 2000 in Kraft getretene GKV- Gesundheitsreform 2000 in zentralen Bereichen nicht den erhofften politischen Zielsetzungen entsprach (Integrationsversorgung und Qualitätssicherung), geriet die Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs (RSA), der mit dem GSG von 1992 eingeführt worden war, wieder in die Diskussion. Vordergründig ging es dabei um eine Reform des Risikostrukturausgleichs, insbesondere um die Frage, ob

177 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 94 Lösungsversuche die gegenwärtige Ausgestaltung des RSA eine Risikoselektion verhindern kann. Letztendlich stand die Frage nach der Zukunft der sogenannten solidarischen Wettbewerbsordnung im Vordergrund, die bereits mit dem GSG eingeführt werden sollte. Zwei Problemfelder haben die Diskussion angefacht: Einmal waren mit der Einführung des Kassenwahlrechts durch das GSG deutliche Veränderungen der Kassenstrukturen eingetreten. So war die Mitgliederzahl der AOK von 22,14 Mio. in 1996 auf 20,08 Mio. Mitglieder im Jahr 2000 gesunken. Gleichzeitig hatten auch die Ersatzkassen leichte Rückgänge zu verzeichnen. Mitgliederzuwächse konnten die Betriebskrankenkassen verzeichnen, die von 5,2 Mio. Mitglieder 1996 auf 7,19 Mio. Mitglieder im Jahr 2000 angewachsen sind. Bis zum Jahr 2004 hat sich die Konsolidierung der Kassenanzahl noch fortgesetzt. Waren im Jahr 2000 noch 420 selbständige gesetzliche Kassen zu verzeichnen, so reduzierte sich die Zahl auf unter 300 Anfang 2004 (vgl. Mühlnickel 2004, S. 16). Im Jahr 2001 nahm in der Politik und der öffentlichen Meinung die Kritik zu, dass der Risikostrukturausgleich in seiner grundsätzlichen Form, mit den Ausgleichskriterien Alter, Geschlecht, Invalidität und Einkommensunterschiede, die Morbiditätssituation nicht ausreichend genug abbildete und vor allem chronisch Kranke benachteiligte (vgl. vor allem Lauterbach/Wille 2001). IV.7.1 Maßnahmen und Ziele Als Sofortmaßnahme wurde der Stichtagstermin 30. September eines Jahres für einen Kassenwechsel aufgehoben (Gesetz zur Neuregelung der Kassenwahlrechte von Juli 2001). Ab 2002 konnte zum Ende des jeweils übernächsten Kalendermonats die Mitgliedschaft in einer Kasse gekündigt werden. Diese Erweiterung des Wahlrechts ist bis heute mit einer Bindungsfrist von mindestens 18 Monaten verbunden. Das Sonderkündigungsrecht bei Beitragssatzerhöhungen, das durch die NOG eingeführt worden war, blieb bestehen. Mit Beginn des Jahres 2002 sollte die Versorgung chronisch Kranker besonders gefördert werden. Zu diesem Zweck wurden den Krankenkassen für diejenigen chronisch kranken Versicherten, die in eigens akkreditierte und evaluierte Disease-Management-Programme (DMP) einge-

178 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 95 ordnet sind, erhöhte standardisierte Leistungsausgaben zugeschrieben. Darüber hinaus war mittel- und langfristig geplant, einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zu entwickeln. Bis zur Einführung im Jahr 2007 sollte ein Risikopool die Kosten von chronisch Erkrankten übernehmen. IV.7.2 Bewertung der Maßnahmen Die Implementierung von Disease-Management-Programmen in den RSA, der weiterhin erweitert und ausgebaut wird, stellt grundsätzlich einen eklatanten Bruch mit der Risikostrukturausgleich-Systematik dar, da damit explizit ausgesuchte Ausgabenprogramme vergütet wurden (vgl. Wille/Resch 2004, S. 25 f.). Mit der Verbindung von Chroniker-Bonus und Einschreibung in ein akkreditiertes Programm wird der RSA mit gesundheitspolitischen Steuerungsaufgaben belastet, was leicht zu einem Präzedenzfall für andere als förderungswürdig erachtete Versorgungsformen werden kann. Wie bereits bei den Ausführungen zum GSG erwähnt, soll der RSA eine Quasi- Risikoäquivalenz herstellen, so dass eine Kasse nicht mehr Interesse an guten Risiken hat, sondern nur noch an der effizienten Versorgung der Patienten (vgl. Oberender/Zerth 2005a, S. 43). Der Wirtschaftlichkeitsanreiz wird dabei durch eine Orientierung an standardisierten Leistungsausgaben erreicht. Es ist versicherungsökonomisch nachzuvollziehen, dass der RSA bei Berücksichtigungen der Faktoren Alter, Geschlecht, Individualität und Einkommensentwicklung diese Aufgabe nur bedingt erfüllen kann. Unter Beachtung der systemimmanenten Logik des RSA ist eine Hinwendung zur Morbidität, wie sie mit den DM-Programmen vorgezeichnet ist, sinnvoll, jedoch muss beachtet werden, dass gesundheitsökonomisch und gesundheitspolitisch nicht die Morbidität entscheidend ist, sondern die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Ziel des RSA ist es, eine Risikoselektion zu unterbinden. Dies ist aber insofern fragwürdig, als es inzwischen unumstritten ist, dass der RSA Anreize zur Risikoselektion erst schafft zum Beispiel wenn es Kassen gelingt, eine feinere Risikounterscheidung zu treffen, als es durch die recht groben Ausgleichsparameter des RSA gewährleistet ist. Denn ein Anreiz zur Risikoselektion ist immer dann gegeben,

179 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 96 Lösungsversuche wenn die Vorstellung der Kassen, mit einzelnen Risiken mehr Einnahmen zu erzielen als spätere Leistungsausgaben zu erwarten sind, bestehen bleibt. Unter der Annahme der Komplexität der Realität wird eine derartige Situation in einem Wettbewerbsumfeld immer bestehen bleiben. Darüber hinaus ist grundsätzlich die Frage zu stellen, in welcher Weise eine Risikoselektion auftreten kann. Im aktuellen System wirken Diskriminierungsverbot und Kontrahierungszwang einer Selektion entgegen. Eine Selbstselektion der Versicherten (beispielsweise festgemacht an der Wechslerbereitschaft) muss bei Annahme eines mündigen und eigenverantwortlichen Bürgers dem Verantwortungsbereich des Einzelnen zugeschrieben werden. Der Einwand, Kassen hätten jedoch aufgrund der Problematik der Risikostruktur keinen Anreiz, Versorgungsangebote für chronisch Kranke zu generieren, ist zunächst nicht von der Hand zu weisen. Jedoch gilt insbesondere in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass es bislang auf Seiten des Leistungsangebotes kaum Ausdifferenzierungsmöglichkeiten für die einzelne Krankenkasse gibt. Erst wenn die Kassen ausreichend viele Aktionsparameter zur Verfügung haben, werden sie Anreize haben, sich von ihren Wettbewerbern zu unterscheiden und differenzierte Versorgungsangebote zu entwickeln. Letztendlich ist die Versicherung von Hochrisikopatienten eine Frage der Kalkulation der Risikoäquivalenz und muss zu einer Diskussion über die Ablösung der allokativen Steuerung von der distributiven Ebene führen. Theoretische Modelle einer Subjektförderung von Versicherungsnehmern bei Zulassung risikoäquivalenter Prämien stellen hier einen möglichen Weg dar. IV.8 Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) Ein weiteres Gesetzgebungsverfahren trat am mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) in Kraft. Nach den Ergebnissen eines Reformkompromisses zwischen der Bundesregierung und dem unions-dominierten Bundesrat im August 2003 wurde ein gemeinsamer Gesetzentwurf verabschiedet, der vor allem dem

180 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 97 steigenden Defizit der gesetzlichen Krankenkassen Rechnung tragen sollte. Im Jahr 2003 verbuchten die Kassen der GKV nämlich einen Fehlbetrag von etwa 2,5 Mrd., dazu kamen noch die aufgelaufenen Kassenschulden von ca. 8 Mrd. (DKG 2004, S. 3). IV.8.1 Maßnahmen und Ziele Im Kern des Gesetzentwurfes steht der Umbau der GKV. Als Hauptziel des GMG ist ein bis zum Jahre 2007 determiniertes Einsparziel von insgesamt 23,1 Mrd. genannt, das vor allem dem Ziel der Beitragssatzstabilität Rechnung tragen soll. Der durchschnittliche Beitragssatz aller Krankenkassen soll von 14,2 % im Jahr 2003 auf deutlich unter 13 % im Jahr 2007 abgesenkt werden. Die politische Vorgabe des GMG besteht einerseits in einer deutlichen Erhöhung der Eigenbeteiligung der Pflichtversicherten und andererseits in einer Veränderung der Organisations- und Leistungsstrukturen. Abb. 9: Grundidee des GMG Grundidee des GMG Senkung des durchschnittlichen Beitragssatzes durch Ausgliederung von Leistungen 2003 Budget Versicherter 14,3% Leistungskatalog GKV alt Quelle: Eigene Darstellung Budget Versicherter 13% Selbstbeteiligung führt zu Mehrkosten für den Versicherten Leistungskatalog GKV neu Ein wesentlicher Schwerpunkt des Gesetzes ist die Etablierung der gesetzlichen Grundlage eines Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Zielsetzung dieses Instituts, das dem neu gegründeten Gemeinsamen Bundesausschuss zuarbeiten soll, ist es, medizinische Behandlungen oder Operationsverfahren auf ihren Nutzen zu untersuchen und auf der

181 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 98 Lösungsversuche Grundlage aktueller medizinischer Erkenntnisse zu bewerten. Diese Nutzenbewertung soll die Festbetragsregelung für patentgeschützte Arzneimittel zu sehen, die nur einen geringen therapeutischen Nutzen vorweisen, verschärfen. Das Institut reiht sich damit ein in die allgemeine Tendenz des GMG, die Aufgaben der so genannten gemeinsamen Selbstverwaltung zu stärken. Mit der Konstitution des Gemeinsamen Bundesausschusses wurde ein einheitliches Organ der gemeinsamen Selbstverwaltung festgelegt, dessen hauptsächliche Aufgabe es ist, Richtlinien für die Inhalte der Versorgung zu geben. In dem ursprünglichen Entwurf des Gesetzes sollte vor allem das Vertragsrecht in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung flexibilisiert werden. Der parteiübergreifende Kompromiss hat das Primat des Kollektivvertrags noch aufrechterhalten. Gleichwohl wurden die Bedingungen zur Integrierten Versorgung nach dem 140 a-d SGB V im Vergleich zum Gesundheitsreformgesetz 2000 deutlich verändert. Als wesentliche Neuerung kann die Aufnahme der Idee der Medizinischen Versorgungszentren im 95 SGB V bezeichnet werden. Darüber hinaus wurde mit 73 b SGB V ein Modell der hausarztzentrierten Versorgung institutionalisiert. Die Integrierte Versorgung ( 140 SGB V) ist durch das GMG mit einer Anschubfinanzierung von bis zu 1 % der ambulanten und stationären Versorgung durch Rechnungskürzung bis zum Jahr 2006 ausgestattet worden. Im Gegensatz zur ursprünglichen Fassung im Reformgesetz 2000 sind die Kassenärztlichen Vereinigungen als Vertragspartner ausgeschlossen. Die Medizinischen Versorgungszentren stellen eine neue organisatorische Form der Leistungserbringung im ambulanten Bereich dar. Gegenüber ambulanten Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften unterscheiden sich diese durch die Verpflichtung zur fachübergreifenden Versorgung. Gleichzeitig sind die Medizinischen Versorgungszentren in der ambulanten Bedarfsplanung einbezogen und stellen damit eine neue Form der Kassenzulassung dar. Die Förderung von Hausarztmodellen ist vor allem von der politischen Seite massiv eingefordert worden. Als Differenzierungsangebot für Krankenkassen bietet sich die Möglichkeit an, Patienten durch Bo-

182 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 99 nuszahlungen gemäß 65 SGB V für ein Hausarztmodell zu motivieren. IV.8.2 Bewertung der Maßnahmen Die Gründung eines Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ist aus ordnungsökonomischer Sicht unmittelbar mit Skepsis zu betrachten. Einerseits greift ein derartiges Institut zwar die Problematik der fehlenden Transparenz von medizinischen Leistungen und Produkten auf und kann insofern dazu beitragen, Unsicherheiten bei der Leistungsinanspruchnahme und Leistungsdefinition zu reduzieren; andererseits stellt sich die Frage, ob es gleichwohl notwendig ist, ein zentrales Qualitätssicherungsinstitut zu implementieren, und ob die selbstgestellte Aufgabe nicht zu komplex ist. Bei einer Nutzenbewertung durch ein zentrales Qualitätsinstitut ist zu fragen, nach welchen Kriterien eine einheitlich geltende Nutzenund auch Kostenbewertung vorgenommen werden soll. Bei der Festlegung der Prüfmerkmale ist in der internationalen Qualitätsforschung in erster Linie clinical performance gemeint. Jedoch ist eine theoretisch schnelle Erreichbarkeit und Machbarkeit einzelner klinischer Messgrößen nicht einfach auf die Versorgungsrealität zu übertragen (vgl. Geraedts et. al 2002, S. 91 ff.). Dieser Einwand kann auch auf eine zentrale Nutzenbewertung übertragen werden. So kann der Effekt eintreten, dass nur die gemessenen Aspekte der Versorgung bei der offiziellen Betrachtung Beachtung finden, und unter Umständen weitergehende Tatbestände, insbesondere im Hinblick auf subjektive Aspekte der Lebensqualität bei vielen chronischen Erkrankungen unberücksichtigt bleiben. Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass in Evaluationsstudien objektivierbare, also zählbare, messbare Größen immer ein stärkeres Gewicht haben werden als nicht messbare und nicht zählbare. Das bedeutet aber auch eine systematische Minderschätzung weicher Größen. Positive und negative Wirkungen einer Therapie sind oft nur im Zeitraum von Jahren feststellbar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch eine leitliniengestützte Pharmakotherapie von der Mitwirkung

183 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 100 Lösungsversuche des Patienten abhängig ist. Bei chronischen Erkrankungen gibt es häufig nicht die ursächlich wirkenden Arzneimittel. Gleichwohl gilt es in diesem Zusammenhang, so genannte Placeboeffekte oder nicht wissenschaftlich belegte Therapiealternativen wie etwa Naturheilverfahren zu berücksichtigen. Die Beurteilung der Wirksamkeit und des klinischen Nutzens eines Arzneimittels ist demzufolge nicht ohne weiteres möglich. Es wäre eine entsprechende Versorgungsforschung notwendig, die aber gegenwärtig wenn überhaupt nur sehr rudimentär vorhanden ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die ordnungspolitische Frage, ob eine zentrale Nutzenbewertung in Anbetracht der eingeschränkten Zielkonformität ein verhältnismäßiges Instrument ist. Die Versuche des GMG, die Entflechtung der engen kollektivvertraglichen Regelungen mit den Neuregelungen zur Integrationsversorgung und der Initiierung Medizinischer Versorgungszentren zu lösen, kann als erster Schritt einer Liberalisierung der Vertragsbeziehungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern bezeichnet werden. Die erweiterten Möglichkeiten in der Vertrags- und Organisationsgestaltung sind grundsätzlich zwar als positive Elemente eines Vertrags- und Qualitätswettbewerbs zu bewerten, gleichwohl machen diese Ansatzpunkt eine Reform der gesamten Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen notwendig. Sollen die Vertragsärzte mit den Krankenkassen auch nur unter einigermaßen gleichen Bedingungen über selektive Verträge verhandeln können, so müssen die Krankenversicherungen als Unternehmen betrachtet werden, die dem Kartellrecht untergeordnet sind. Abgestimmte Verhaltensweisen, wie dies bei einheitlichen und gemeinsamen Verträgen der Verbände der Krankenversicherungen bislang möglich ist, können daher nur als Zwangskartell bezeichnet werden. Eine offene Flanke der Vertragsflexibilisierung liegt auch in der Vergütungsfrage. Da im ambulanten Bereich langfristig morbiditätsorientierte Regelleistungsvolumina gelten, im stationären Sektor die DRGbezogenen Fallpauschalen aber weiter ausgebaut werden, ist die Sektorenabschottung und damit ein wesentliches Schnittstellenproblem im Endeffekt nur verschoben worden. Eine Budgetverantwortung im Sinne einer ganzheitlichen integrierten Versorgung muss vor allem an

184 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 101 der Längsschnittverantwortung des Behandlungsverlaufes ansetzen. Durch die sektorale Budgetierung war es bislang möglich, Patienten aus dem jeweiligen Finanzierungssystem heraus zu überweisen und damit die Kosten auf andere Leistungserbringer zu externalisieren. Notwendig sind deshalb kombinierte Budgets, die das Morbiditätsrisiko eindeutig einem Versorgungsnetz zuordnen. Konkret bedeutet dies, dass auf dezentraler Ebene zwischen dem einzelnen Netz und einer einzelnen Krankenkasse eine Pauschale für jeden Versicherten ausgehandelt werden müsste, der sich für das Netz entscheidet. Korrespondierend dazu ist über materielle und/oder immaterielle Anreize für Versicherte nachzudenken, die sich für die integrierte Versorgung entscheiden. Die Ausgestaltung der Patientensouveränität im Gesundheitswesen ist somit unmittelbar mit den Möglichkeiten der integrierten Versorgung verbunden. Die optimale Höhe der Eigenbeteiligung der Versicherten hängt entscheidend sowohl vom individuellen Krankheitsrisiko als auch von den jeweiligen Präferenzen ab. Eine für alle Versicherten einheitlich vorgeschriebene Versicherungsdeckung kann somit nicht zielführend sein. Vielmehr sind auch im Hinblick auf die Effizienz dezentrale Vertragslösungen zu empfehlen, indem der Gesetzgeber lediglich einen Mindestumfang der Versicherungsdeckung (Regelleistung) verbindlich vorschreibt. Die Einführung einer Praxisgebühr bei Facharztbesuchen ohne Überweisung des Hausarztes stärkt zwar einerseits das Bewusstsein des Patienten für seine Leistungsinanspruchnahme, gibt aber andererseits einen konkreten Versorgungsweg vor, ohne dabei die Gewissheit zu haben, dass damit Qualität und Wirtschaftlichkeitsanreize zwingend vorhanden sein müssen. Es muss sich auch für den Leistungserbringer lohnen, sparsam mit Ressourcen umzugehen und Versorgungsstrukturen zu entwickeln, die den Bedürfnissen der Nachfrager (Patienten) entsprechen. Allerdings kann es nicht Aufgabe der Gesundheitsreform sein, Patentlösungen für eine optimale Angebotsstruktur zu präsentieren. Ziel muss es vielmehr sein, Experimente mit neuen Versorgungsformen anzuregen und starre Strukturen aufzubrechen. Es stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern das Gesetz nur bestimmte Organisationsformen, wie etwa die Medizinischen Versorgungszentren, oder

185 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 102 Lösungsversuche ausdrücklich definierte Vertragsformen im Sinne der integrierten Versorgung oder der Hausarztmodelle vorgibt. Eine Liberalisierung der Vertragsstrukturen muss sich der Herausforderung stellen, ob es nicht genügt, die Vorgabe von Versorgungszielen als eine gemeinsame Aufgabe des Staates und der Vertragspartner im Gesundheitswesen zu sehen. Die organisatorische und vertragliche Umsetzung muss jedoch allein den Akteuren selbst überlassen werden. Das GMG setzt daran an, den Charakter der Krankenversicherung stärker hervorzuheben. So ist es vor diesem Hintergrund ein konsequenter Schritt, rein umverteilungspolitische Aufgaben wie das Mutterschaftsgeld, Entbindungsgeld und sonstige Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, die in erster Linie zur eigenen Lebensplanung der Versicherten gehören, künftig eigenverantwortlich oder als allgemeine Staatsaufgabe über Steuermittel zu finanzieren. Auch die Herauslösung des Arbeitgeberanteils beim Krankengeld lässt sich in diese Systematik einordnen. Durch das Festhalten an der Finanzierung über das Umlageverfahren werden jedoch auch weiterhin steigende Ausgaben durch steigende Einnahmen (Produkt aus durchschnittlichem Beitragssatz und Grundlohnsumme der gesetzlich Versicherten) gedeckt werden. Wächst die Grundlohnsumme nicht im gleichen Maße wie die Ausgaben, so müssen die Beitragssätze erhöht werden. Durch diesen inhärenten Zielkonflikt ist die politische Diskussion ständig von neuen Gesundheitsreformdebatten geprägt, die letztendlich immer wieder an der Ausrichtung des Gesundheitswesens am Solidarprinzip und an der Finanzierung am Umlageverfahren anknüpfen (vgl. dazu Kapitel VI). Insofern ist auch im GMG die Saat für künftige Kostendämpfungsdebatten angelegt. IV.9 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) Das jüngste Gesetzgebungsverfahren ist ein Produkt der großen Koalition von CDU/CSU und SPD und trat am in Kraft.

186 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 103 Bereits im Koalitionsvertrag vom November 2005 einigten sich die Koalitionspartner auf eine Reform des Gesundheitswesens, um auch in Zukunft die steigenden Kosten im Gesundheitswesen zu kontrollieren. Damit reiht sich das GKV-WSG nahtlos in die lange Liste der Kostendämpfungsgesetze ein. Von Anfang an wurde dieses Reformvorhaben von beiden Seiten als eine Kompromisslösung angesehen. Im neuen Gesundheitsfonds finden sich Elemente des von den unionsgeführten Ländern favorisierten Gesundheitsprämienmodell sowie dem Modell der Solidarischen Bürgerversicherung, welches seitens der SPD verfolgt wird, vereinigt. IV.9.1 Maßnahmen und Ziele Hauptziel des Wettbewerbsstärkungsgesetzes ist es stabile Beitragssätze zu gewährleisten und dabei eine weitere Dämpfung der Gesundheitsausgaben zu erwirken. Gleichzeitig soll die Transparenz der Kostenentwicklung sowie der Ausgabenstruktur erhöht werden. Um diese Ziele zu erreichen, soll der Wettbewerb durch zahlreiche Veränderungen im bisherigen System angekurbelt werden. Im Mittelpunkt der Maßnahmen steht dabei der sogenannte Gesundheitsfonds, welcher am in Kraft trat (vgl. Abbildung 10).

187 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 104 Abb 10: Grundstruktur des Gesundheitsfonds Quelle: Eigene Darstellung Lösungsversuche Beim deutschen Fondsmodell gemäß dem GKV- Wettbewerbsstärkungsgesetz bleiben die bisherigen Versicherungs- der PKV. verhältnisse erhalten sowohl in der GKV als auch in Somit gelten weiterhin eine Versicherungspflichtgrenzee und eine Beitragsbemessungsgrenze. Gleichwohl werden die Bedingungen zum Übertritt von der Gesetzlichen Krankenversicherung zur Priva- ten Krankenversicherung mit der Anhebung der Versicherungs- die Ele- pflichtgrenze erschwert. Beim Fondsmodelll wird versucht, mente aus der Bürgerversicherung und der Gesundheitsprämie zu kombinieren. Wie in der Bürgerversicherung werden weiterhin lohn- dem Fonds, zugeführt. Allerdings sind weiterhin andere Einkommensarten nicht Bestandteil abhängige Beiträge erhoben und einer zentralen Verwaltungsstelle, der Beiträge, so dass z.b. weder Mieteinnahmen noch Kapitalerträge berücksichtigt werden. Ebenso bleibt es bei einer Trennung in GKV und PKV im Fondsmodell, es sind folglich nicht alle Bürger im Fonds eingeschlossen. Elemente der Gesundheitsprämie finden sich

188 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 105 vor allem in der Zuteilung des Pauschalbeitrages. Der Pauschalbeitrag wird vom Fonds risikoadjustiert an die Krankenkassen weitergegeben. Zusammenfassend kann die Erhebung der Beiträge der Bürgerversicherung zugeschrieben werden und die Verteilung als risikoadjustierte Prämie ist als Ausdruck eines Prämienmodells zu werten. Die Risikoadjustierung soll sich im Sinne einer Morbiditätsorientierung an 80 Krankheiten orientieren. Zusätzlich ist es den Krankenkassen erlaubt, eine individuelle Zusatzprämie zu erheben, falls die Zuweisungen aus dem Fonds nicht ausreichen. Die pauschale Zusatzprämie ist jedoch auf 8 / Monat begrenzt; oberhalb dieser Grenze muss eine Einkommensprüfung erfolgen und die Zusatzprämie darf maximal ein Prozent des versichertenpflichtigen Einkommens betragen. Ebenso können gut wirtschaftende Krankenkassen ihren Mitgliedern Rückzahlungen in Aussicht stellen. Seit Anfang 2010 verlangen die ersten Krankenkassen einen solchen Zusatzbeitrag. Dabei fordern sechs Krankenkassen den höchsten Pauschalsatz von 8. Zwei weitere Kassen bitten ihre Mitglieder sogar mit 1% des monatlichen versicherungspflichtigen Einkommens zur Kasse. Auf der anderen Seite sind drei Kassen dazu bereit, jährlich zwischen 50 und 72 an die Mitglieder zurück zu zahlen. Insgesamt ist dabei noch unklar, wie sich dies auf die Bereitschaft der Versicherten zum Kassenwechsel auswirken wird. Durch die Einrichtung einer zentralen Inkassostelle der Beiträge ist es in Zukunft einfacher, Steuerzuschüsse in das System der gesetzlichen Krankenversicherung einzubringen. Über solche Zuschüsse sollen schrittweise versicherungsfremde Leistungen und gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie die Versicherung von Kindern geregelt werden. Des Weiteren sieht das GKV-WSG eine Versicherungspflicht für alle Bürger vor. Somit muss es jedem Bürger ermöglicht werden, in eine Krankenversicherung zurückzukehren. Für die Privaten Krankenversicherung gilt nun ein Basistarif ohne Gesundheitsuntersuchung. Dieser Basistarif ähnelt dem Leistungskatalog der GKV und soll erheblich günstiger sein als die bisherigen Tarife der PKV. Durch den Basistarif verändert sich de facto die risikounabhängige Prämien-

189 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 106 Lösungsversuche kalkulation in der PKV und dadurch sind Prämienerhöhungen für die Bestandskunden intendiert. Die institutionelle Trennung zwischen GKV und PKV wird aber grundsätzlich nicht angetastet. Typische Leistungen der PKV wie Chefarztbehandlung würden beim Basistarif wegfallen. Ein weiterer Bestandteil der Reform stellt die Mobilität der Altersrückstellungen dar. Erstmals können Privatversicherte beim Wechsel ihrer Krankenkasse bisher angesammelte Altersrückstellungen mitnehmen. Jedoch ist die Höhe der Mitnahme begrenzt auf denjenigen Betrag, den ein Versicherter angesammelt hätte, wenn er im Basistarif versichert gewesen wäre. Außerdem sind zahlreiche Änderungen im Bereich der Versorgungsstruktur und Kassenorganisation vorgenommen worden. IV.9.2 Ergebnisse und Bewertung Das Modell des Gesundheitsfonds nimmt keine Stellung zur zukünftigen Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses, sondern verbleibt als Kompromisslösung, die jederzeit zu einer Bürgerversicherung oder Gesundheitsprämie umgebaut werden kann und daher konsensfähig war. Problematisch ist die Einordnung der Zusatzprämie im Fondsmodell. Da diese nur erhoben werden kann, wenn die finanziellen Mittel aus dem Fonds nicht ausreichen, wird eine Krankenversicherung kein großes Interesse haben, eine Zusatzprämie zu verlangen. Gleichwohl kann der Fonds, trotz der hohen Regulierungsdichte, die insbesondere den Kern einer Regulierungsspirale in sich trägt, den Kassenwettbewerb versorgungsseitig auch positiv beeinflussen. Dies geschieht dann, wenn die Kassen infolge des Einfrierens des Aktionsparameters Beitragssatz versuchen, auf andere Aktionsparameter im Leistungs- und Versorgungskontext auszuweichen ( zirkulare Interdependenz der Aktionsparameter ). Beispielsweise können durch Selektiv- und Rabattverträge Möglichkeiten gesucht werden, sich von anderen Kassen zu differenzieren. De facto wurde mit der Vereinheitlichung der Beitragssätze den Kassen aber zunächst ein Wettbewerbsparameter genommen. Der Wettbewerb muss auf die oben genannten Ersatzparameter ausweichen und wird hierdurch unmit-

190 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 107 telbar erschwert. Die tatsächlichen Auswirkungen auf den Versorgungsmarkt sind dabei bisher noch völlig unklar. Durch die Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs hat eine Kasse darüber hinaus ein wachsendes Interesse daran, Soll- mit Istkosten bezogen auf eine definierte Versichertenkohorte zu optimieren. Der Anreiz Versorgungsangebote für spezielle Versichertenpopulationen steigt, wenn die Kasse antizipieren kann, dass ihre Istkosten niedriger liegen als der Sollerstattungsbetrag aus dem Morbi-RSA (vgl. beispielsweise Oberender/Zerth 2008). Der Gesundheitsfonds ist zumindest bezüglich des Zieles der Sicherung einer nachhaltigen Finanzierung grundsätzlich zu kurz gesprungen. Die ursprüngliche Idee, die Arbeitgeber durch eine zentrale Inkassostelle zu entlasten, scheiterte am Widerstand der Krankenkassen und deren Drohung, dass in diesem Fall eine große Anzahl Mitarbeiter nicht länger benötigt werde. Dass die Beiträge jetzt weiterhin von den Krankenkassen eingesammelt, dann an den Fonds überwiesen und anschließend an die Kassen zurücküberwiesen werden, ist eine höchst fragwürdige Regelung, die viel Bürokratie erzeugt, ohne dass dem ein entsprechender Nutzen gegenübersteht. Es hat sich zudem jüngst gezeigt, dass dem Gesundheitsfonds erhebliche Finanzmittel fehlen werden. Der Schätzerkreis für die gesetzliche Krankenversicherung geht von einem Defizit der Kassen in Höhe von über 3,1 Milliarden Euro für das Jahr 2010 aus. Das oberste Ziel, den Beitragssatz stabil zu halten, ist damit ernsthaft in Gefahr. Als Alternative bleiben nur Steuerzuschüsse oder die flächendeckende Einführung von Zusatzbeiträgen durch die Kassen. Doch aufgrund der Deckelung des Zusatzbeitrages in Höhe von 1% des einkommensabhängigen Einkommens ist es zweifelhaft, ob dieses Defizit durch die Zusatzbeiträge überhaupt aufgefangen werden kann. Die Deckelung des Zusatzbeitrages zieht zudem noch weitaus grundlegendere Probleme nach sich. Krankenkassen mit einer schlechten Risikostruktur geraten so in eine Abwärtsspirale: Wegen der hohen Ausgaben müssen höhere Zusatzbeiträge von den Versicherten erhoben werden. Weil aufgrund der schlechten Risikostruktur viele Versicherte auch bei geringfügig höheren Zusatzprämien die

191 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 108 Lösungsversuche 1%-Hürde überschreiten, müssen sie keinen höheren Zusatzbeitrag bezahlen. Dadurch fallen die Einnahmen geringer aus als zunächst erwartet, der Zusatzbeitrag muss erhöht werden und es fallen noch mehr Versicherte in den Geltungsbereich der 1%-Regelung. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass für Geringverdiener keinerlei Anreize zum Kassenwechsel bestehen, weil sie von der Erhöhung des Zusatzbeitrags gar nicht betroffen sind. Mit zunehmender Höhe wird der Beitrag aber auch für höhere Einkommensgruppen verstärkt spürbar, so dass der Anreiz zum Kassenwechsel steigt. Durch die steigende Zahl der Wechsler verschlechtert sich die Einkommensstruktur der Versicherten abermals, die Einnahmen aus den Zusatzbeiträgen sinken und es kommt wiederum zu Beitragssatzerhöhungen. Auf diese Weise kommt es zu einer zunehmenden Selektion in Kassen mit einer einkommensstarken Versichertenstruktur und Kassen mit einer einkommensschwachen Versichertenstruktur. Der Grundgedanke des RSA, nämlich gleiche Ausgangsbedingungen für einen Wettbewerb zu schaffen, wird so zunehmend persifliert. Gleichwohl ist ein weiterer Effekt durch den Wettbewerb über die Deckelung der Zusatzbeiträge zu erwarten. Kann eine Kasse infolge der Deckelung bei wachsenden Kosten pro Versicherten keine zusätzlichen Einnahmen mehr erzielen, so sind zwei Ansatzpunkte zu erwarten. Einerseits erhöht sich der Druck auf das Kostenmanagement der Krankenversicherung, das unmittelbar damit verbunden ist, welche Möglichkeit die Krankenversicherung im Leistungsbereich hat, ihre Kosten pro Versicherten zu senken. Andererseits steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Krankenversicherung illiquide werden kann. Da infolge des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-OrgWG) eine Kasseninsolvenz nunmehr möglich ist, kann die Deckelung des Zusatzbeitrages zumindest indirekt zu einer Konzentrationswirkung im Kassenwettbewerb beitragen. Inwiefern die Ausgestaltung des Zusatzbeitrags Selektionsaktivitäten befördert ist umstritten. So lässt sich auch vermuten, dass der Wettbewerb über Beitragsrückerstattungen weiterhin gewährleistet werden kann, weil die Effekte hier genau umgekehrt auftreten eine pau-

192 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 109 schale Rückerstattung hat für Geringverdiener relativ stärkere Anreizwirkungen als für einkommensstarke Gruppen, so dass ein Wechselanreiz entsteht. Dieses Szenario erscheint aber relativ unwahrscheinlich, weil zum Einen die Steuerungsmöglichkeiten zur Vermeidung einer Rückerstattung vielfältiger sind als für die Vermeidung eines Zusatzbeitrages; man denke hier z.b. an zusätzliche Satzungsleistungen oder kulantes Vorgehen in Zweifelsfällen, um die Überschüsse abzubauen. Zum Anderen sollen über den Gesundheitsfonds ab 2010 nur durchschnittlich 95% der Ausgaben gedeckt werden. Daher werden nur sehr wenige Kassen überhaupt in der Lage sein, ohne Zusatzbeiträge auszukommen. Die Frage nach der wettbewerblichen Wirkung des Gesundheitsfonds ist unmittelbar mit der Fortentwicklung der Versorgungsangebote verbunden (vgl. u.a. Oberender/Zerth 2010). Gerade wenn Krankenversicherungen dazu übergehen, regional mit Leistungserbringern selektiv zu kontrahieren oder mit Arzneimittelherstellern Rabattverträge zu schließen, spielt der Aspekt der Nachfragemacht von Krankenversicherungen eine immer wichtigere Rolle. Allgemein lässt sich festhalten, dass je stärker zwischen den Kostenträgern ein Wettbewerb um Versicherte zu konstatieren ist, desto geringer wird die Gefahr einer regionalen Nachfragemacht der Krankenversicherungen sein. Dies gilt insbesondere, wenn die Patienten bereit sind, Versorgungsangebote beispielsweise durch die Fortentwicklung der Medizintechnik unterstützt auch überregional zu substituieren. In dieser Folge sinkt zunächst die Abhängigkeit der Patienten von regionalen Leistungserbringer und abgeleitet auch die Abhängigkeit von den Kostenträgern, die mit den regionalen Leistungserbringern kontrahieren. Damit wird aber deutlich, dass die Frage regionaler Nachfragemacht von Krankenkassen eine wichtige Rolle spielt und insofern Missbrauchsaufsicht sowie Fusionskontrolle ebenfalls auf die Krankenkassen angewendet werden müssen. Letztendlich gilt es noch, die Strategievariablen der Leistungserbringer im veränderten Krankenversicherungswettbewerb zu betrachten. Diese können entweder durch Kooperation innerhalb des regionalen Marktes oder außerhalb des regionalen Marktes Verhandlungsmacht

193 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 110 Lösungsversuche gegenüber der Versicherung anstreben und so die Monopsonmacht des Kostenträgers begrenzen. Vor diesem Hintergrund sind insbesondere Integrationsentwicklungen zwischen Leistungserbringern, die im Gesundheitswesen an Bedeutung gewinnen, näher zu beleuchten. Der Verhandlungsspielraum der Leistungserbringer wird durch Integration ceteris paribus erweitert, zumindest dann, wenn sie Teil eines größeren Unternehmensverbundes wird. Interessant ist jedoch die Frage, wie sich ein diskretes Verhandlungsergebnis wiederum auf die Situation des Patienten auswirkt. Ob bei einer derartigen Entwicklung die Versicherten noch die Möglichkeit haben, einem Leistungsbündel, das zwischen Versicherungs- und Leistungsunternehmen verhandelt worden ist, auszuweichen und damit eine wettbewerbliche Kontrollfunktion vorhanden ist, ist neben der grundsätzlichen Abgrenzung der Versicherungspflicht und damit des Umfangs eines vom Versicherten zu kontrahierten Leistungsumfangs von den Bedingungen des Versicherungswettbewerbs abhängig. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass die idealtypischen Ausprägungsformen von Managed Care, die im dritten Kapitel dargestellt worden sind, in Deutschland immer vor dem Hintergrund einer garantierten Regelversorgung diskutiert werden müssen. Somit lässt sich die festhalten, dass sowohl auf Seiten der Versicherungen als auch bei den Leistungserbringern Marktmachtstrategien zu erwarten sind und diese, weil in ihren Wirkungen häufig gegeneinander gerichtet, wettbewerbspolitisch ambivalent sein können. Diese Schlussfolgerung führt zur immanenten Bewertung, dass die Fragen einer Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen auch nach dem GKV-WSG noch nicht gelöst sind. Fraglich ist vor allem, ob es mit dem Gesundheitsfonds in Verknüpfung mit dem Vertragswettbewerb der Krankenversicherungen gelingen kann, eine nachhaltige und qualitätsorientierte Versorgungsstruktur zu implementieren.

194 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 111 IV.10 Synthese und Zwischenergebnis Mit den bisherigen Maßnahmen der Gesundheitspolitik in Deutschland wurde versucht, entweder über ausgabenbeschränkende Eingriffe (Budgetierung, Richtgrößen usw.) oder über einnahmenkonsolidierende Politiken (Erweiterung der Beitragsbemessungsgrenze und des Versichertenkreises) das Dilemma zwischen den Zielsetzungen zu beheben. Eine grundsätzliche Reform der zugrundeliegenden Strukturvariablen wurde jedoch nur ansatzweise vorgenommen. So ist zwar gelungen, die starren Elemente des Kollektivvertrags zu lockern und Formen eines Vertragswettbewerbs in das Gesundheitswesen zu implementieren, doch bleibt die Ausgestaltung einer Wettbewerbsordnung für das Gesundheitswesen noch eine offene Frage. So weist beispielsweise Möschel darauf hin, dass je mehr wettbewerbliche Elemente in sozialen Sicherungssystemen Einzug halten, die Versuche ordnungsökonomisch scheitern müssen, soziale Sicherungssysteme als Ausnahmebereiche vom allgemeinen Wettbewerbsrecht anzusehen (vgl. Möschel 2003, S. 16). Vor diesem Hintergrund muss auch im Bereich der GKV zunehmend von einer wettbewerblichen Situation ausgegangen werden, da mit der Idee des selektiven Kontrahierens die Vorstellung eines Leistungswettbewerbs um bessere Qualität und Leistungen gefördert werden soll. So liegt damit ein Konkurrieren der Krankenversicherungen und Leistungserbringer um präferenzorientierte Wahlentscheidungen der Versicherten und Patienten vor und somit wird der hoheitliche Bereich der Krankenversicherungen grundsätzlich geschmälert. Gleichwohl muss berücksichtigt werden, dass die Wahlentscheidungen von Versicherten nicht zwangsläufig die Präferenzen von Patienten abbilden und daher die Rolle der Prämiengestaltung und der damit korrespondierenden Laufzeit von Versicherungsverträgen sehr relevant sind. Es kann somit die Schlussfolgerung gezogen werden, auch im regulierten Wettbewerb der GKV betätigen sich Krankenversicherungen als Unternehmen im funktionalen Sinne und sind daher nicht mehr

195 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 112 Lösungsversuche Verwalter sondern agierende Akteure im Gesundheitswesen (vgl. dazu Oberender/Zerth 2007). Darüber hinaus ist gerade die Idee eines Wettbewerbs als Suchund Entdeckungsverfahren nur mit Krankenversicherungen möglich, die sich unternehmerisch im Sinne dezentraler Experimente im Kontext der Gesundheitsversorgung bewegen wollen. Der Wettbewerbsprozess, auch wenn in vielerlei Weise noch reglementiert und kontrolliert, hat in den letzten Jahren einen tiefgreifenden Veränderungsprozess in der Kassenlandschaft hervorgerufen. Diese Veränderung als Herausforderung und als Chance zu begreifen, ist die Option für eine Krankenversicherung in der Zukunft. Freilich zeigen die jüngsten Beispiele im Hinblick auf Ausschreibungsmodelle und Rabattverträge, dass es höchste Zeit ist, gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Leistungserbringern und Krankenversicherungen zu schaffen. Unternehmerisch tätig werden zu können, bedeutet auch, sich die unternehmerischen Konsequenzen zurechnen zu lassen. Dies geht aber nur durch konsequente Anwendung des Wettbewerbsrechts auf Krankenversicherungen und einer zumindest langfristigen Abkehr vom kooperationsrechtlichen Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts. Es lässt sich somit festhalten: Mit dem GKV- Wettbewerbsstärkungsgesetz ist eine für alle Beteiligten im Gesundheitswesen ambivalente Situation eingetreten. Stärkere Regulierung in Finanzierungsfragen geht einher mit der Forderung stärkeren Wettbewerbs der Krankenversicherung im Leistungssektor. Ein nachfragegesteuertes Gesundheitswesen, das die Interessen des Patienten in den Vordergrund stellen will, kann daher nur funktionieren, wenn die Kanäle des Patienteninteresses gestärkt werden. Eine Ordnungsregel für den Wettbewerb um Leistungen, der insbesondere die Frage der Qualitätstransparenz integriert, ist ein notwendiger Bestandteil hierfür. An dieser Stelle gilt es sowohl in der Theorie so wie in der angewandten Gesundheitspolitik stetig weiterzuarbeiten. Jedoch zeigt die bisherige Vorgehensweise der Gesundheitspolitik, dass die Lösung der Steuerungsprobleme vornehmlich über zentral festgelegte Regulierungen und Reglementierungen gesucht wird, die

196 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Lösungsversuche 113 sowohl die Zielsetzung als auch Vorgehensweise den Akteuren vorgeben. Letztendlich sind diese aber auch nur Ausdruck des Steuerungsoptimismus, der wie ein roter Faden den gesamten Gesetzentwurf durchzieht und von der Vorstellung geprägt ist, der Staat könne die richtige Zielsetzung und den richtigen Weg(!) für alle Akteure vorgeben, um den Bedürfnissen des Gemeinwohls zu genügen. Unter evolutorischen Gesichtspunkten ist zu kritisieren, dass staatliche Regulierungsmaßnahmen in aller Regel innovative Kräfte behindern, wenn nicht sogar verhindern (vgl. Hamm 1984, S. 21 ff.). Es ist daher ausgeschlossen, dass die erhofften Effizienzreserven durch die Vorgaben des GKV-WSG realisiert werden.

197 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht

198 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 115 V Herausforderungen für das Gesundheitswesen Bei den Herausforderungen für ein soziales Sicherungssystem kann idealtypisch zwischen endogenen und exogenen Herausforderungen unterschieden werden. In den vorangegangenen Kapiteln, insbesondere im Kapitel III, wurden die immanenten Steuerungsaspekte beleuchtet. Ziel des folgenden Kapitels ist es, die Auseinandersetzung mit den exogenen Herausforderungen für das Gesundheitssystem zu betrachten, die in sozioökonomische und politisch-rechtliche Aspekte unterteilt werden. V.1 Sozioökonomische Herausforderungen V.1.1 Demographische Entwicklung Als grundlegende sozioökonomische Herausforderung gilt die demographische Entwicklung. Daher spielt bei der Betrachtung des Gesundheitswesens vor allem die institutionelle Gestaltung der demographischen Alterung der Bevölkerung eine besondere Rolle. 39 Das deutsche Gesundheitswesen wird durch ein beitragsorientiertes Umlageverfahren finanziert. 40 Eine derartige institutionelle Ausge- 39 Skuban verweist auf den diffusen Umgang mit dem Begriff der demograpischen Alterung. Im Groben wird mit demographischer Alterung der Alterungsprozess einer Gesellschaft beschrieben im Gegensatz zu einem individuellen Altern (vgl. Skuban 2004, S. 41 f.). Dabei muss der Prozesshaftigkeit des Alterns (S. 42) Rechnung getragen werden: Immer mehr Menschen leben immer länger, gleichzeitig steigt die Altersphase innerhalb der Gesellschaft an. 40 Beitragsfinanzierte Gesundheitssysteme im internationalen, speziell im europäischen Vergleich, lassen sich durch den Ansatz einkommensabhängiger, risikounabhängiger Beitrage und die Ausgestaltung als Parafiski unterscheiden. Gleichwohl gibt es deutliche Unterschiede in der Steuerungskonsequenz wie beispielsweise Mossialos und McGuire

199 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 116 Herausforderungen staltung gründet auf dem Prinzip des Generationenvertrags. Die gegenwärtig Erwerbstätigen finanzieren im Rahmen des inhärenten Solidarausgleichs einen großen Teil der laufenden Ausgaben der Krankenversicherung der Rentner und gehen davon aus, dass auch ihnen im Alter gleiches widerfährt. Die demographische Entwicklung rüttelt jedoch bereits seit längerer Zeit am Fortbestand dieses Generationenvertrags. Für die Entwicklung der Bevölkerung sowie der Alters- und der Geschlechtsstruktur eines Landes sind drei Faktoren maßgebend (vgl. Rosenberg 1990, S. 23): die Geburtenentwicklung die Sterblichkeit sowie die Zu- und Abwanderung über die Landesgrenzen. Die Nettoreproduktionsrate (der Anteil, zu dem die jeweilige Müttergeneration später durch die Tochtergeneration ersetzt wird) liegt seit dem Jahr 2000 in Deutschland durchschnittlich bei ca. 0,65 und liegt damit mehr als ein Drittel unter dem Niveau, welches zur Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderlich wäre. Je Frau wurden nach dem Jahrtausendwechsel im Durchschnitt 1,35 Kinder geboren, was bei weitem nicht ausreicht, um die Bevölkerung zahlenmäßig auf dem gegenwärtigen Niveau zu halten (Vgl. Pötzsch und Sommer 2003). Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts feststellbare Verminderung der Sterblichkeit in allen Altersgruppen führte dazu, dass im Laufe der Zeit die Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung aufgrund des medizinischen und hygienischen Fortschritts beträchtlich anstieg. Betrug die durchschnittliche Lebenserwartung einer Ende des 19. Jahrhunderts geborenen Frau nur 38,5 Jahre, so stieg dieser Wert Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts bereits auf 80,5 Jahre. deutlich machen. Die beitragsfinanzierten Systeme in Belgien, Deutschland und den Niederlanden lassen sich als managed competition-systeme bezeichnen (Mossialos/McGuire 2004, S. 105.). Das französische Sicherungssystem ist zwar beitragsfinanziert, ein Wettbewerbselement zwischen unterschiedlichen sozialen Krankenversicherungen lässt sich jedoch nicht herausarbeiten (vgl. Henke/Schreyögg 2004, S. 47 f.).

200 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 117 In den neuen Bundesländern lag die durchschnittliche Lebenserwartung einer Neugeborenen zu diesem Zeitpunkt mit 79,5 Jahren leicht darunter. Gemäß der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird sich die Lebenserwartung eines neugeborenen Mädchens bis zum Jahr 2020 noch auf 83,8 Jahre erhöhen (vgl. Statistisches Bundesamt 2006, S. 17 ff.). Der Gesamtlastquotient (Verhältnis der noch nicht und nicht mehr Erwerbstätigen in Relation zu den Erwerbstätigen) wird in Gesamtdeutschland von 77,6 im Jahre 1997 auf 118,9 im Jahre 2050 steigen. Dies bedeutet, dass im Jahr 2050 auf 100 Personen im Alter von 20 bis 60 Jahren, vereinfacht könnte von Erwerbstätigen gesprochen werden, 119 Personen unter 20 oder über 60 Jahren, vereinfacht als nicht oder nicht mehr Erwerbstätige betrachtet, entfallen. Der Altenquotient wird im gleichen Zeitraum von 39,4 auf 85,1 zunehmen. Das bedeutet konkret, dass Erwerbstätige etwa 39 Rentner, 2000 aber bereits annähernd 43 Rentner ernähren mussten, während es im Jahre 2050 sogar 85 Rentner sein werden - bei einem als unverändert unterstellten durchschnittlichen Renteneintrittsalter von 60 Jahren. Eine derartige Zunahme des Altersquotienten ist auch für die meisten Industrieländer festzuhalten, jedoch in unterschiedlicher Intensität. Wohingegen Japan ein sehr ähnliches Muster der demographischen Alterung vorweist, lassen sich mit Blick auf Frankreich oder gar den Vereinigten Staaten etwas günstigere Nettoreproduktionsraten konzidieren. Gleichwohl gilt, dass mit der demographischen Alterung die Frage umlagefinanzierter sozialer Sicherungssysteme neu justiert werden muss. 41 Aufgrund des sich wandelnden Krankheitsspektrums und der demographischen Entwicklung (Vergreisung) der deutschen Bevölkerung ist damit zu rechnen, dass die Gesundheitsausgaben auch weiterhin zunehmen werden. Jedoch muss vor einer formelhaften Formulierung, je älter die Bevölkerung desto höher die Gesundheitsausgaben, Abstand genommen werden. Die grundsätzliche Frage, ob es sich bei 41 Zum Vergleich unterschiedlicher Entwicklungen hinsichtlich der Demographie zwischen Japan, Deutschland und Frankreich beispielsweise Henke/Schreyögg 2004, S. 29 ff.

201 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 118 Herausforderungen den infolge der zunehmenden Lebenserwartung gewonnenen Lebensjahre um Jahre handelt, die behinderungs- und beschwerdefrei verbracht werden können, oder ob diese von Krankheit und Pflegebedürftigkeit gekennzeichnet sind, wird kontrovers diskutiert. 42 Nach der Morbiditätskompressionsthese wird die nachrückende Altersgeneration aufgrund weniger belastender Arbeitsbedingungen, einer gesünderen Lebens- und Ernährungsweise, eines höheren Aktivitätsgrades sowie der Fortschritte in der Prävention und der Medizintechnologie weniger Funktionseinschränkungen aufweisen als die vorhergehende Altersgeneration. Jedoch ist nach der Medikalisierungsthese zu berücksichtigen, dass infolge der Entwicklungen der Medizintechnologie die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Dauer medizinischer und pflegerischer Interventionen zurückgehen können, die zunehmende Lebenserwartung jedoch neben der Reduzierung der Mortalitätsrate eine Erhöhung der Morbiditätsrate nach sich zieht. Insbesondere infolge der Funktionseinschränkungen mit zunehmenden Lebensjahren wird eine steigende Nachfrage nach medizinischen und pflegerischen Leistungen zu erwarten sein. Empirisch konnte bislang keine der beiden Thesen eindeutig bestätigt werden. Insbesondere werden bei Studienansätzen verstärkt sozioökonomische Aspekte berücksichtigt, die zeigen, dass teilweise mit einem höheren Einkommen und einer besseren Bildung stärkere Tendenzen zur Kompressionsthese zu beobachten sind. 43 Gleichzeitig sind Elemente der Medikalisierungsthese bei anderen Gesellschaftsschichten zu beobachten. Gerade bei bildungsferneren Gesellschaftsschichten spielen chronische und insbesondere verhaltensbedingte Erkrankungen eine größere Rolle. Die Zukunft der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird daher durch eine disproportional verlaufende Entwicklung zwischen Bevölkerung und Nachfrage nach Gesundheitsleistungen gekenn- 42 Vgl. zur Debatte, ob es einen Einfluss der Demographie auf die Gesundheitsausgaben gibt Zweifel et. al oder Seshamany/Gray Vgl. zur Problematik u. a. Fries 2000, S Vgl. auch Vita et. al

202 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 119 zeichnet sein: Obwohl die Zahl der Empfänger von Leistungen der GKV auf lange Sicht abnimmt, wird die Nachfrage nach altersgerechten Gesundheitsleistungen aufgrund der zukünftigen Veränderungen innerhalb der Bevölkerungsstruktur und auch im Hinblick auf die höhere Krankheitshäufigkeit älterer Menschen ansteigen. Der Anteil der Rentner an der Gesamtzahl der GKV-Mitglieder wird also in Zukunft weiter steigen. Diese Zunahme stellt deshalb ein großes Problem für die GKV dar, weil die Krankenversicherungsbeiträge der Rentner weniger als die Hälfte der von den Rentnern verursachten Kosten decken. Im Durchschnitt deckt ein Rentner gegenwärtig nur etwa 43% seiner Leistungsausgaben durch seinen Beitrag ab, während alle anderen Mitglieder einen Beitrag einzahlen, der ihre Leistungsausgaben um durchschnittlich 46% übersteigt (vgl. u. a. Schulze Ehring 2004, S. 40 ff.). Prognosen über den Fortbestand des Generationenvertrags gestalten sich äußerst schwierig, weil sowohl die Ausgabenentwicklung, die vor allem auf dem medizintechnischen Fortschritt beruht, als auch die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zu berücksichtigen sind. Im Jahre 2030 wird sich der Rentnerquotient etwa verdoppelt haben, wodurch sich der Ausgabenanteil der Rentner auf rund 60 % erhöht. Beide Größen sind kaum zu prognostizieren. Eine besondere Rolle im Zusammenhang der demographischen Alterung spielt das Entwicklungspotenzial des medizinisch-technischen Fortschritts. V.1.2 Technischer Fortschritt Risiko oder Chance? In der Vergangenheit fand eine Explosion der Machbarkeit in der Medizin statt. Immer mehr Menschenleben wurden durch Diagnoseund Therapiefortschritte im Gesundheitswesen gerettet und verlängert. In der modernen Medizin dominieren so genannte halfway-technologies, Technologien, die zwar das Leben eines Menschen verlängern können, ihn aber nicht wieder vollständig gesunden lassen und nicht vor dem Tod bewahren können (vgl. Oberender et. al. 2002, S. 132 f.). Die moderne Medizin steckt in einer Fortschrittsfalle, da jede neue Diagnosetechnologie die Zahl der als krank diagnostizierten Menschen im Durchschnitt anwachsen lässt. Neue medizinische Möglichkeiten führen somit nicht zu einer

203 um 13:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 120 Herausforderungen Reduzierung des Ausgabenvolumens, sondern verstärken die bedrohliche finanzielle Entwicklung der GKV noch weiter. In der Medizin finden immer wieder Paradigmen-Wechsel statt. Waren es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem die Erkenntnisse über Hygiene und Asepsis sowie die Entdeckung von Medikamenten zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten, so sind es im letzten Jahrzehnt insbesondere die Entwicklungen auf den Gebieten der Transplantation organischer Körperteile, Operationen am offenen Herzen, die Ersetzung von organischen Körperteilen durch anorganische Ersatzteile wie bei Knie- und Hüftgelenken, die teils innere, teils äußere Unterstützung von Körperfunktionen (Herzschrittmacher, künstliche Niere) sowie die teilweise Ersetzung operativer Techniken durch minimal-invasive und äußerliche Anwendungen (Nierensteinzertrümmerer), die das Bild der Medizin nach außen hin prägen. Darüber hinaus sind auf vielen Gebieten der medizinischen Forschung weitere enorme Fortschritte zu erwarten. Bereits Mitte der 1990er Jahre wurde im Rahmen des deutschen Delphi-Berichts zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik versucht, wichtige Zukunftsprojekte der Medizintechnik zu identifizieren (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1995). Als wichtigstes Einzelthema wurde die Aufklärung der Pathogenese der meisten malignen Tumoren eingeschätzt. Untersuchungen lassen die Entwicklungsschübe der Medizintechnik vor allem im Kontext mit der Fortentwicklung multimodaler Diagnoseverfahren und der Weiterentwicklung der Biotechnologie erwarten (vgl. Übersicht 2).

204 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 121 Übersicht 2: Potenzielle Entwicklungsschübe der Medizintechnik und Life-Science Technologie Bildgebende Verfahren Neue Werkstoffe Telemedizin Tissue-Engineering Genforschung Ausprägungen und Anwendungen Röntgen, Computertomographie, PET, SPECT Biologisch abbaubare Implantate, biokompatible Materialien Telemedizinische Anwendungen, elektronische Patientenakte, Home Monitoring Extrakorporale Züchtung von Zellen und Gewebe, z.b. künstliche Organe Entwicklung von Biochips auf DNA-und Proteinbasis, sowie genabgestimmte Medikamente Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bundesministerium für Bildung Wissenschaft, Forschung und Technik (1995). Eine Berechnung des englischen Office of Health Economics (OHE) hat ergeben, dass im Falle einer Beibehaltung des medizinischen Standes von vor 100 Jahren die Ausgaben für das Gesundheitswesen auf einem Niveau lägen, das nur 1 % des gegenwärtigen ausmacht. Für die restlichen 99 % sei eine auf den medizinischen Fortschritt zurückzuführende Bedarfsentwicklung verantwortlich (Krämer 1993, S. 793.). Durch diese Entwicklung wird die Diskrepanz zwischen dem medizinisch Möglichen und der Begehrlichkeit der Bürger auf der einen Seite und den finanziellen Mitteln, die hierfür zur Verfügung stehen, auf der anderen Seite immer größer. Im Gegensatz zur Entwicklung in anderen Branchen ist die medizinische Versorgung nicht immer preiswerter, sondern immer teurer geworden. Diese Entwicklung lässt sich auf die Erfindung von immer weiteren zusätzlichen medizinischen Technologien ( Add-On-

205 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 122 Herausforderungen Technologien, Zusatztechnologien) zurückführen, die darauf abzielen, bislang Unmögliches möglich zu machen (Organverpflanzungen, Herzoperationen, etc.). Nur in seltenen Fällen hat die medizintechnologische Forschung kostensenkende Prozessinnovationen hervorgebracht (Ersatztechnologien) (Krämer 1993, S. 793). Als wesentliche Ursache kann der beitragsunabhängige Zugang zu den Leistungen im Gesundheitswesen angesehen werden. Den Erfindern neuer medizinischer Technologien fehlt ein wichtiger Orientierungspunkt: eine preisgesteuerte Nachfrage. Den Patienten fehlt jeder Anreiz, den angestrebten Gesundheitszustand möglichst kostengünstig zu erreichen. Schließlich wird er durch seine Inanspruchnahme nicht fühlbar monetär be- oder entlastet. Ein besonderes Interesse an der Nutzung neuer, besonders kostengünstiger Behandlungsmethoden besteht so für den Patienten nicht. Im Gegenteil: Der Patient wird versucht sein, sich möglichst Zugang zu den besten und neuesten Behandlungstechnologien zu verschaffen (Freifahrer-Mentalität). Auch für die Erbringer dieser Leistungen (Ärzte, Krankenhäuser) bestanden bisher kaum Anreize, kostengünstige Behandlungsmethoden zu verwenden. Die Anbieter hatten sogar die Möglichkeit, sich durch die Verwendung der jeweils neuesten Technologien Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten zu verschaffen. Mit der Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip und der Einführung von Fallpauschalen im Krankenhaus wurden erste Ansätze zu einem Richtungswechsel eingeführt, da diese Instrumente das Eigeninteresse der Leistungsanbieter an einer kostengünstigen Leistungserstellung wirksam stärken (Meyer 1994, S. 1 ff.). Anders gewendet heißt dies, dass sich aufgrund des medizinischen und pharmakologischen Fortschritts ungeahnte Möglichkeiten der Diagnose und Therapie eröffnen. Inwieweit dieses Potential auch ökonomisch realisiert wird und der Bevölkerung zur Verfügung steht, hängt neben der Einkommensentwicklung sehr entscheidend auch von den institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens ab. Daneben wird künftig die ethische Dimension eine wachsende Bedeutung erlangen, wenn beispielsweise nur die Frage der Präimplantationsdiagnostik (PID) oder des

206 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 123 therapeutsichen Klonens herangezogen wird. 44 Auch für diese Probleme muss die soziale Krankenversicherung in Zukunft eine Lösung finden. Die offene Frage, die mit dem Wachstum der Medizintechnik korrespondiert, ist, ob und vor allem wie ein industrielles Land in Zukunft bereit ist, breite Teile der Bevölkerung am Fortschritt in der Medizintechnologie teilhaben zu lassen. Internationale Untersuchungen stützen die These, dass die Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung mit steigendem Wohlstandsniveau, gemessen am Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, ansteigt, dieser Anstieg, gemessen am statischen Wert des Lebens jedoch ab einer gewissen Altersstufe wieder abnimmt. 45 Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Zunächst kann festgehalten werden, dass es valide empirische Daten gibt, die zeigen, dass durch den medizinischen-technischen Fortschritt ein deutlicher Zugewinn an Lebensjahren erzielt worden ist. Gleichzeitig sind die Untersuchungen zur Zahlungsbereitschaft potenzieller Patienten ein Indiz dafür, dass die Bereitschaft am technischen Fortschritt teilhaben zu wollen überproportional zum Einkommen steigt, mit anderen Worten eine Elastizität bezogen auf das Einkommen von größer als eins vorliegt. Beim Blick auf die Entwicklung der Gesundheitsausgaben im internationalen Vergleich, als Beispiele sollen nur Japan, Niederlande, Frankreich und Deutschland dienen, wird deutlich, dass in allen genannten Ländern die Lebenserwartung, gemessen an verlorenen Lebensjahren für Einwohner unter 70 Jahren, deutlich angestiegen ist. 46 Vor diesem Hintergrund wird die Frage, welche Leistungsfähigkeit die institutionellen Systeme der Gesundheitssysteme haben, in das gesellschaftliche Blickfeld kommen. Eine besondere Auseinandersetzung gilt dabei der deutschen Ausprägung eines Beitragssystems, das eine Preissteue- 44 Das vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen Medizin und Ökonomie wird ausführlich problematisiert bei Oberender Eine aktuelle Untersuchung zum Zusammenhang medizin-technischer Innovationen und Lebenserwartung findet sich bei Murphy/Tobel Vgl. dazu den Systemvergleich bei Henke/Schreyögg 2004, S. 33 ff.

207 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 124 Herausforderungen rung weitgehend ausgeschlossen hat und nach dem Umlageverfahren finanziert wird. V.2 Politisch-rechtliche Herausforderungen V.2.1 Europäische Union: Herausforderung und Chance Neben den vielfältigen systemendogenen Problemstellungen (s. Kap. III) ist das deutsche Gesundheitswesen mit gravierenden exogenen Strukturbrüchen konfrontiert. Gerade auch im Zusammenhang mit der Europäischen Union (EU) ergeben sich vielfältige Herausforderungen mit Chancen und Risiken für das deutsche Gesundheitswesen. Mit dem Prozess der europäischen Integration verbinden sich politische und vor allem auch wirtschaftliche Zielsetzungen. So wachsen durch die Schaffung und Vollendung des Europäischen Binnenmarktes sowie durch die Einführung des Euro als einheitliche Währung die nationalen Märkte zu einem Gemeinsamen Markt zusammen. Davon erhofft man sich eine Förderung der politischen Stabilität und der Freiheit, des Wachstums und des Wohlstands in der Gemeinschaft. Die EU ist dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet und gewährt die Grundfreiheiten des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, um eine internationale Arbeitsteilung zu ermöglichen. Es kann festgehalten werden, dass die europäische Integration einen Einigungsprozess der Mitgliedsländer darstellt, in dessen Mittelpunkt die Beseitigung der Beschränkungen der Handlungsfreiheiten steht, die sich aus den nationalstaatlichen Systemen ergeben. Es werden zwei Formen der Integration unterschieden: Integration durch Intervention und Integration durch Wettbewerb. Dabei stellt erstere den Prozess der Integration nach kollektiven Zielen durch zentrale Instanzen dar. Diese Strategie beruht auf dem Verständnis, mit einer gemeinsamen Politik auf europäischer Ebene einheitliche Regelungen zu schaffen. Wurde sie bisher durch die Notwendigkeit des Abbaus von Handelshemmnissen im Binnenmarkt gerechtfertigt, so treten gegenwärtig die Schaffung gleicher

208 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 125 wettbewerblicher Ausgangsbedingungen und die Verfolgung besonderer Gemeinschaftsziele als Gründe hinzu. Im Gegensatz dazu unterstreicht Integration durch Wettbewerb die Vorstellung von den positiven Wirkungen des regelgebundenen Wettbewerbs als Such-, Entdeckungs- und Kontrollverfahren in einer durch konstitutionelle Unsicherheit gekennzeichneten Welt. Aus der Übertragung dieser Sichtweise auf die Gemeinschaft und ihre Institutionen folgt die Bezeichnung des Wettbewerbs der Systeme. Hierbei bedarf es keiner zentralen Planung, da die einzelnen Wirtschaftssubjekte ökonomische wie institutionelle Alternativen nach ihren subjektiven Präferenzen auswählen. Als Folge des Abstimmens mit den Füßen zwischen Systemen werden die Anbieter (z.b. Regierungen) institutioneller Regeln zur Attraktivitätssteigerung angehalten. Dies kann zur Imitation der sich im Wettbewerb der Systeme als attraktiv erwiesenen Lösungen (ex-post-harmonisierung) oder aber zu institutionellen Neuerungen (Innovationen) führen (vgl. hierzu Mussler/Streit 1996, S. 265 ff.; Oberender/Zerth 2001, S. 503 ff.). Diese abstrakten Formen der Integration finden auch auf das Gesundheitswesen Anwendung. So wird immer wieder öffentlich die Forderung nach der sozialen Ausgestaltung des Binnenmarktes erhoben. Grundlage für einen europäischen Sozialraum bildet originär der Vertrag von Amsterdam vom 1. Mai 1999, dessen Text direkt und indirekt auf den wirksamen Abbau der Unterschiede in den sozialpolitisch relevanten Vorschriften der Mitgliedsstaaten abzielt. In Art. 2 EGV wird die Förderung einer harmonischen, ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung des Wirtschaftslebens, eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines großen Maßes an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, die Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, die Steigerung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt sowie die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten zu den Aufgaben der Gemeinschaft erhoben. Trotz der allgemeinen Formulierung ist darin die Tendenz zur Harmonisierung der nationalen sozialen Sicherungssysteme unverkennbar, die durch eine gemeinsame Politik auf europäischer Ebene erfolgen soll.

209 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 126 Herausforderungen Zugleich entstehen durch die Integration durch Intervention auch Probleme und Folgen, die es aufzuzeigen gilt. Grundsätzlich stellt jede Harmonisierung im Voraus eine Regulierung und Reglementierung dar. Es ist zu fragen, wer nach welchen Kriterien und in welchem Umfang die Harmonisierungsmaßnahmen bestimmt. Auf die Begründung ist besonders zu achten, da diese Bestrebungen zur Reduktion der nationalen Souveränität der einzelnen EU- Mitgliedsstaaten führen. Aufgaben, die bisher durch die Bundes- und Landesregierungen erfüllt wurden, werden dadurch den europäischen Institutionen zugeordnet. Außerdem ist fraglich, ob die zu schaffenden Normen immer dem subjektiven Willen und den Bedürfnissen der Bürger entsprechen oder nicht eher zu einer Bevormundung führen. Vor den Gefahren einer unnötigen Zentralisierung und bürokratischen Harmonisierung in der EU muss deshalb nur entschieden gewarnt werden. Die Harmonisierung der nationalen sozialen Sicherungssysteme gestaltet sich ausgesprochen schwierig. Sie wird aus den zu erwartenden Wanderungsbewegungen der Arbeitnehmer und Leistungserbringer abgeleitet, die aus der Gewährung der Freizügigkeit, Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit rühren. Die Harmonisierungstendenz wird aber durch die gemeinsame europäische Währung verstärkt. Durch den Euro entfällt die aufgrund verschiedener Währungen bestehende preisliche Intransparenz bezüglich der Unterschiede in den Lebensstandards und auch der Unterschiede in der Gesundheitsversorgung, die Ergebnis des Produktivitätsgefälles zwischen den Mitgliedsstaaten und den hieraus resultierenden Unterschieden in den Finanzierungspotenzialen sind. Wanderungsbewegungen, die aus dem unterschiedlichen Niveau der Sozialleistungen resultieren, und auch die verstärkte Forderung nach Ausbau der nationalen Gesundheitssysteme der ärmeren Mitgliedsstaaten könnten die Folge sein. Angesichts der hohen Leistungsunterschiede der Volkswirtschaften ist eine auf dem Reißbrett geplante Angleichung der Systeme aber weder möglich noch sinnvoll. Die Vielfalt der gewachsenen Sicherungssysteme entspricht der sozialen und kulturellen Geschichte der EU-Mitgliedsländer. Die Angleichung des Niveaus der sozialen Leistungen muss aufgrund der finanziellen Restriktionen scheitern und ist

210 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 127 aus Gründen der Freizügigkeit innerhalb der EU auch gar nicht erforderlich. Hier gehen die Verantwortlichen der Sozialsysteme in den wohlhabenderen Staaten mit den Vertretern der ärmeren Mitgliedsstaaten eine fragwürdige Allianz ein. Eine weitere Harmonisierung der nationalen Standards im Bereich der Gesundheitsversorgung auf dem hohen Niveau der wohlhabenderen Mitgliedsstaaten wird in den ärmeren Mitgliedsstaaten zu einer deutlichen Verteuerung des Produktionsfaktors Arbeit führen, deren Milderung vermutlich durch die gleichzeitige Subventionierung dieses Liftings via Sozialtransfers erfolgen würde. Derartige Befürchtungen werden unterstützt durch das im Amsterdamer Vertrag enthaltene originäre Mandat zur Gesundheitspolitik. So ermöglicht Art. 152 EGV, eingeordnet unter dem Titel XIII Gesundheitswesen, die unmittelbare Einflussnahme der EU auf die Gestaltung der nationalen Gesundheitssysteme. Der besondere Einfluss der EU leitet sich darüber hinaus aus dem Zusammenhang der Art. 152 (Gesundheitswesen), Art. 153 (Verbraucherschutz) sowie Art. 174 bis 176 EGV (Umwelt) ab. Diese Kodifizierung führt zu einer Ausgliederung aus dem bisherigen Politikfeld Soziale Dimension des Binnenmarktes und soll bewirken, auch in allen weiteren Aktionsräumen der EU die aus Art. 152 Abs. 1 EGV ( Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus ) abgeleiteten Erfordernisse konsequent zu beachten. Damit werden der EU Befugnisse zur Verfolgung wichtiger Gemeinschaftsziele erteilt. Die zunehmende Zentralisierung der Politikfelder auf der europäischen Ebene und die problematische, nicht willkürfreie Festsetzung von Harmonisierungsmaßnahmen widersprechen dem aufgezeigten freiheitlichen Gedanken einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Danach müssen allgemeine Regeln geschaffen werden, die einen rechtmäßigen Rahmen für das Handeln der einzelnen Akteure darstellen und die Grundfreiheiten des Binnenmarktes sichern. So ist es unerlässlich, einem EU-Bürger die in einem EU-Mitgliedsstaat erworbenen sozialen Ansprüche grenzüberschreitend anzuerkennen. Dies sehen bereits die existierenden Richtlinien und Verordnungen vor. Es ist somit nicht notwendig, weitere wirtschafts- und sozialpolitische Kompetenzen auf die EU zu übertragen, um den Binnenmarkt zu

211 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 128 Herausforderungen realisieren. Vielmehr ist es wichtig, die vielfältigen Vorteile einer dezentralen, oft regionalen Entscheidungsfindung zu nutzen. Eine richtig ausgestaltete dezentrale Sozialpolitik ist bürgernah und erleichtert eine wirksame Kontrolle der Bürokratie. Wesentliche Probleme bei der Integration der nationalen Märkte für Gesundheitsgüter entspringen den Handelshemmnissen, die nach wie vor zwischen den Mitgliedsstaaten bestehen und gepflegt werden. Aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit und zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen ist es den Mitgliedsstaaten nach Art. 30 EGV erlaubt, Beschränkungen des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs zu erlassen. Hierfür hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) jedoch restriktive Maßstäbe in einer Reihe von Urteilen entwickelt. So enthält das bekannte Duphar-Urteil des EuGH aus dem Jahr 1984 die Aufforderung an den nationalen Gesetzgeber, sich bei der Auswahl von Produkten, die von der Erstattungspflicht durch das nationale Gesundheitssystem ausgenommen werden sollen, ausschließlich von objektiven und nachprüfbaren Kriterien leiten zu lassen, die durch den Schutz der öffentlichen Gesundheit zu rechtfertigen sind, und eine Diskriminierung aufgrund des Ursprungs der Erzeugnisse zu vermeiden. Im Jahr 1998 befasste sich der EuGH erneut mit der strikten Abschottung der nationalen Märkte von Gesundheitsleistungen. Dabei war zu klären, ob die territoriale Begrenzung der Dienstleistungsfreiheit im Gesundheitswesen und des Sachleistungsprinzips mit den Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes vereinbar ist. Bisher war die Möglichkeit, als GKV-Versicherter Leistungen im Ausland in Anspruch zu nehmen, nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich, darunter Unfälle und plötzliche Erkrankungen. Der Erwerb von ausländischen Hilfs- und Heilmitteln wurde von einer vorhergehenden Genehmigung durch die jeweilige Krankenkasse abhängig gemacht. Bei den Entscheidungen des EuGH in den Fällen Decker und Kohll ging es um die Übernahme von Kosten, die zwei gesetzlich in Luxemburg Krankenversicherten entstanden waren. Im Fall Decker handelte es sich um den Erwerb einer Brille mit Korrekturgläsern bei einem Optiker in Belgien, begründet auf einer Verschreibung eines in Luxemburg niedergelassenen Arztes. Im Fall

212 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 129 Kohll war die geplante Zahnregulierung bei einem Zahnarzt in Deutschland strittig. Die Ablehnung der luxemburgischen Krankenkasse, die Kostenerstattung zu übernehmen, ist nach dem Urteil des EuGH als eine Verletzung der Grundfreiheit des Dienstleistungsverkehrs einzuordnen. Beide Entscheidungen begründete der EuGH mit Verstößen gegen die Waren- und Dienstleistungsfreiheit. Ob diese Grundfreiheiten im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme anwendbar sind, ist juristisch nicht unumstritten. Selbst der EuGH sieht Rechtfertigungsgründe zur Beschränkung des freien Warenund Dienstleistungsverkehr im Bereich der sozialen Sicherheit bei einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Systems der sozialen Sicherheit oder aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit. Jedoch wurde mit dieser Rechtsprechung eine grundsätzliche Auseinandersetzung um die weitere strikte Geltung des Territorialprinzips begonnen. Bei einer Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung ergeben sich auch für das deutsche Gesundheitswesen erhebliche Veränderungen. Somit müssen sich die nationalen sozialrechtlichen Normen generell auch am europäischen Recht messen lassen (vgl. dazu beispielsweise Henke 2004, S. 193 ff.). Die strenge Geltung der Grundfreiheiten des Binnenmarktes auch im Bereich des Gesundheitswesens wird zu einer nachhaltigen Öffnung der nationalen Gesundheitssysteme führen. Damit wird die Integration durch Wettbewerb auch in diesem Bereich ermöglicht. Grundsätzlich erhöhen sich dadurch die Handlungs- und Wahlmöglichkeiten auf den Märkten für Gesundheitsleistungen, der Wettbewerb nimmt zu. So können Patienten nun auch gezielt medizinische Dienstleistungen im Ausland in Anspruch nehmen oder Medizinprodukte erwerben und sich anschließend die Ausgaben dafür von ihrer Kasse erstatten lassen. Beispielsweise können dann reguläre Arztbesuche während des Urlaubes erfolgen oder Kuren auch im Ausland durchgeführt werden. Bei der Gewährung von Festzuschüssen für Leistungen oder Heilmittel können rational handelnde Patienten bestrebt sein, ihre Zuzahlung durch den günstigeren Kauf im Ausland zu minimieren.

213 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 130 Herausforderungen Aufgrund dieser Substitutionsmöglichkeiten wird sich der Wettbewerbsdruck auf die Leistungserbringer nachhaltig erhöhen. Daraus ergeben sich aber auch Chancen, die es zu nutzen gilt. Nicht nur in Grenzregionen kann durch ein gezieltes Angebot versucht werden, weitere Nachfrage anzuziehen. Gerade in medizinischen Spezialbereichen, zum Beispiel der Herzchirurgie, können durch ein ausgewogenes Preis-Leistungs-Verhältnis zusätzliche Patientengruppen erreicht werden. Als Folge der Entscheidungen des EuGH sind die Krankenkassen gefordert, organisatorische Defizite zu beseitigen, um die Kostenerstattung ausländischer Leistungen zu ermöglichen. Dabei können sie die Öffnung der Gesundheitssysteme positiv bewerten, ergeben sich doch durch günstigere ausländische Gesundheitsleistungen mögliche Einsparpotenziale. Die Benennung eines Vertragsarztes in belebten Urlaubszentren kann sich in Zeiten des Kassenwettbewerbs für die einzelne Krankenkasse durchaus als Wettbewerbsvorteil und Imagegewinn erweisen. Zugleich erkennt der EuGH wie bereits ausgeführt auch Zugangsbeschränkungen zum nationalen Markt für Gesundheitsgüter an, wenn sie dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, der Wahrung des finanziellen Gleichgewichts der nationalen Gesundheitssysteme und der Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland dienen. Es ist anzunehmen, dass der EuGH zukünftig in der Kontinuität seiner bisherigen Entscheidungen zum Binnenmarkt dazu Maßstäbe entwickeln wird. Die Schlussfolgerung, dass durch den EuGH die Integration der Sicherungssysteme im Sinne einer Integration durch Wettbewerb vorangetrieben wird, darf jedoch nicht generell gezogen werden (vgl. grundsätzlich dazu Oberender/Fleischmann 2004). Im März 2004 stand die Behandlung der Festbetragsregelung durch die gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland zur Entscheidung. Es war zu prüfen, ob die gemeinsame und einheitliche Festlegung der Festbeträge ein Verstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht darstellt. Der EuGH hat in seiner Entscheidung die Unternehmenseigenschaften der Krankenkassen verneint und damit die Anwendbarkeit des

214 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 131 europäischen Wettbewerbsrechts ausgeschlossen. 47 Die Urteilsbegründung richtete sich nach funktionalen Gegebenheiten. So konzidierte der EuGH, dass die Krankenkassen bezüglich der Festbeträge nur als Interpret der Pflichten auftreten, die ihnen gesetzlich auferlegt wurden. Als ordnungspolitische Schlussfolgerung lässt sich daraus ableiten, dass eine Stärkung der Integration durch Wettbewerb zwar durch Urteile des EuGH vorangetrieben wurde, die Grundsatzentscheidung jedoch eine politische Frage ist. Die Urteile des EuGH werfen aber auch den Blick auf die Notwendigkeit einer konsistenten institutionellen Wettbewerbs- und Ordnungspolitik, die für künftige wettbewerbliche Reformen im Gesundheitswesen notwendig sein wird. V.2.2 V Einfluss des Wählerstimmenmarktes Spannungsfeld zwischen Subsidiarität und Solidarität Zunehmend geraten der Gleichheitsgrundsatz und die Tendenz zur Gleichstellung aller Bürger in den Mittelpunkt des politischen Geschehens, Egalisierungstendenzen machen sich breit. Trotz der offenkundigen, sich verstärkenden Finanzierungskrise der GKV wird den Bürgern versprochen, sie alle kämen im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der GKV in den Genuss der modernen Hochleistungsmedizin zu Lasten der Solidargemeinschaft, versteht sich. Der Anspruch der Politik, den Bürgern im Rahmen der GKV eine lückenlose, umfassende Krankenversicherung zu offerieren, hat zu unklaren, auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen geführt. Diese Lücken wurden von den Sozialgerichten bereitwillig ausgefüllt. Vorwiegend geschah dies mit dem Argument, auf diesem Wege der Entstehung einer sogenannten Zweiklassenmedizin vorzubeugen. Die 47 Vor dem Urteil des EuGH vom 16. März 2004 gab es auch anderweitige Entscheidungen. So hat beispielsweise der Kartellsenat des Düsseldorfer Oberlandesgerichts die einheitliche und gemeinsame Festsetzung der Festbeträge als gesetzeswidrig nach Art. 81, Abs. 1 EGV angesehen. Inwiefern öffentliche Unternehmen der Missbrauchsaufsicht unterliegen, wird weiterhin ein offenes Spannungsfeld der wissenschaftlichen wie politischen Diskussion bleiben.

215 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 132 Herausforderungen Referenzbasis für eine solche Aussage bildet die Fiktion einer klassenlosen Gesellschaft, d. h. einer Gesellschaft der Unterschiedslosigkeit; damit handelt es sich letztlich um eine Gesellschaft der Gleichartigen, nicht nur der Gleichberechtigten. Die Folge dieser Egalisierungstendenzen in der Sozialpolitik im Allgemeinen und in der GKV im Besonderen ist eine zunehmende Zentralisierung, denn es muss nun zentral festgelegt werden, welche Leistungen die GKV zu übernehmen hat, um weiteren Finanzkrisen vorzubeugen. Auf diese Weise wird zwar eine Politik der Gleichmacherei betrieben, allerdings kann auch durch eine noch so gleichmäßige Verteilung der Gesundheitsleistungen kein gleichmäßiger Gesundheitsstatus der Bevölkerung erreicht werden (vgl. Deutscher Bundestag 1990, S. 54 f.). Es ist deshalb ein Irrglaube anzunehmen, durch die materielle Gleichstellung aller Bürger auch im Gesundheitswesen würde die Lebensqualität für alle erhöht werden. Wenn Individuen zwangsweise in Kollektive eingebunden werden wie etwa in ein System einer Gesetzlichen Krankenversicherung, so sind solche Maßnahmen legitimationsbedürftig. Durch die Verdünnung persönlicher Haftung und deren Übertragung auf ein Kollektiv entsteht sehr schnell ein Verantwortungsvakuum, das institutionell aufwendig und kostspielig aufgefüllt werden muss. Insbesondere die Folgekosten staatlicher Eingriffe müssen bei einem Vergleich zwischen den Steuerungsebenen Markt und Staat verglichen werden (vgl. Streit 1996). Element dieser Folgen sind auch dynamische Effekte, deren Wirkung unter Umständen erst sehr langfristig sichtbar und nicht immer leicht monetarisierbar ist. Im Hinblick auf die Systeme sozialer Sicherung muss auch die Frage erlaubt sein, welchen Einfluss die verordnete Solidarität im Makrokollektiv auf die freiwillige Solidarität, auf die Eigenvorsorge, hat. Schon Eucken 1975 weist darauf hin, dass das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zu seiner Durchsetzung einen von Partikularinteressen und wirtschaftlichen Machtzusammenballungen unabhängigen, starken Staat benötigt. Die kontinuierliche Ausdehnung staatlicher Zuständigkeit und interventionistischer Eingriffe, wie dies auch die Entwicklung seit den Kostendämpfungsgesetzen mit einigen Aus-

216 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 133 nahmen deutlich macht, lässt erkennen, dass die auch von Eucken geforderten Kriterien der Ordnungskonformität und Subsidiarität nicht ausreichend waren, um diskretionäre politische Entscheidungen einzudämmen. V Institutionelles Defizit in der Gesundheitspolitik Der Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft, Elemente des Marktes mit einem garantierten, nach dem Bedarfsprinzip ausgerichteten gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen zu vereinbaren, verleiht dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft eine große politische Attraktivität. Die Frage nach den Ursachen der zunehmenden Interventionsspirale im Gesundheitswesen lenkt den Blick auf den politischen Prozess. Die theoretischen Ansätze der Neuen Politischen Ökonomie untersuchen die Maßnahmen des Staates, veranlasst durch die Anreize der Politiker innerhalb eines demokratischen Staates (vgl. etwa Bernholz/Breyer 1994). Wird das Verhalten der politischen Entscheider, die auf einem Markt für Wählerstimmen agieren, von der Stimmenmaximierung bestimmt, so wird offensichtlich, welche Seite der Sozialen Marktwirtschaft im politischen Prozess begünstigt wird. Die Sicherung einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die allgemeingültigen, möglichst diskriminierungsfreien Regeln folgt, gleicht der Produktion eines öffentlichen Gutes, wogegen spezielle sozialpolitische Maßnahmen spürbare Wirkungen für bestimmte Gruppen haben, die als Wähler genau solche Sondervorteile nachfragen. Somit besteht die Tendenz, zum einen ordnungspolitische Maßnahmen zugunsten sozialpolitischer Interventionen zu vernachlässigen und zum anderen mögliche politische Manövriermassen zu vergrößern. Dabei sind die Einflussmöglichkeiten namhafter Interessengruppen nicht zu unterschätzen. Auch wenn diese Diagnose der Politischen Ökonomie nicht uneingeschränkt zutreffen muss, so sind wichtige Ansatzpunkte für Reformen ableitbar. Insbesondere ist auf eine ständige Durchmischung der Steuerungsebenen zu verzichten. Aufgabe des Staates innerhalb einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung muss es deshalb sein, möglichst gleiche Rahmenbedingungen für alle zu gewährleisten.

217 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 134 Herausforderungen Es ist leicht nachzuvollziehen, zu welchen ökonomischen und auch medizinischen Konsequenzen eine solche Entwicklung führen kann. Aufgrund der Politik der Gleichmacherei und der weiteren Degradierung des Subsidiaritätsprinzips werden die finanziellen Probleme der sozialen Krankenversicherung in Zukunft sehr wahrscheinlich noch größer werden, als sie es gegenwärtig schon sind. V.3 Synthese aus Sicht des Sicherungssystems Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die sozioökonomischen Herausforderungen für das Gesundheitswesen aus dem Zusammenspiel von demographischer Entwicklung und den Potenzialen des medizinisch-technischen Fortschritts hervorgehen. Diese Herausforderungen können aber nicht ohne die Berücksichtigung des politisch-ökonomischen Umfeldes betrachtet werden. Welche Implikationen lassen sich dann für die Zukunftsfähigkeit (Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit) des Gesundheitswesens ableiten? Nachhaltigkeit in diesem Kontext heißt, dass jede Generation über ihren Lebenszyklus hinweg die eigenen Gesundheitskosten trägt. In die GKV zahlen sowohl erwerbstätige Mitglieder als auch Rentner Beiträge ein. Der beitragszahlende Erwerbstätige zahlt dabei im Durchschnitt mehr ein, als gegenwärtig zur Finanzierung der Leistungen für ihn und seine mitversicherten Familienangehörigen erforderlich wäre. Der durchschnittliche Beitrag eines Rentners hingegen reicht zur Selbstfinanzierung der Leistungen für ihn und seine mitversicherten Familienangehörigen nicht aus. Im Durchschnitt deckt ein Rentner nur etwa 43% seiner Leistungsausgaben durch seinen Beitrag ab, während alle anderen Mitglieder einen Beitrag einzahlen, der ihre Leistungsausgaben um durchschnittlich 46% übersteigt. Der Überschuss, den die erwerbstätigen Mitglieder netto in die GKV einzahlen, dient der Finanzierung der Nettoauszahlungen, die Rentner für ihre medizinische Versorgung erhalten. Das bedeutet, dass innerhalb der GKV eine intergenerative Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentnern vorgenommen wird.

218 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 135 In einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung nimmt der Anteil der Versicherten im Rentenalter in der GKV zu, während der Anteil der Erwerbstätigen sinkt. Die sich dadurch multiplizierenden Nettoauszahlungen für Rentner müssen durch höhere Beiträge der Erwerbstätigen finanziert werden, so dass das Ausmaß der Umverteilung von Erwerbstätigen zu Rentnern steigen und damit gegen das Prinzip der Nachhaltigkeit zunehmend verstoßen wird. Die Investition in das Gesundheitssystem wird dadurch für die erwerbstätigen Generationen in toto ungünstiger. Der Barwert der Beiträge übersteigt den Barwert der Leistungen, was bedeutet, dass die Erwerbstätigengenerationen einen Lebensnettotransfer an die Überlebenden früherer Kohorten zahlen. Zeichnet man den Lebensweg eines einzelnen Versicherten nach, so kann die Bewertung des Umlageverfahrens im demographischen Wandel positiv ausfallen. Für den Einzelnen besitzt das Umlageverfahren dagegen durchaus Vorteile, da er heute zwar intergenerative Transfers leistet, er aber morgen durch eine mögliche Versteilerung der Ausgaben höhere Transfers erhält. Um die intergenerativen Belastungswirkungen der öffentlichen Finanzen ermitteln zu können, wurde von Auerbach, Gokhale und Kotlikoff 1994 das Konzept des Generational Accounting entwickelt. In Deutschland existieren Berechnungen sowohl für die gesamte Fiskalpolitik des Staates als auch für die einzelnen Zweige der sozialen Sicherung. 48 Mit Hilfe so genannter Generationenkonten können intergenerative Belastungsrechnungen für einzelne Altersjahrgänge erstellt werden (vgl. idealtypisch in Abbildung 11). Diese Vorgehensweise gründet vor allem auf der Ausweisung impliziter Schulden, die zusätzlich zu den expliziten Staatsschulden hinzugefügt werden müssen. Mit den impliziten Schulden werden Ansprüche an den Staat bzw. die sozialen Sicherungssysteme beschrieben, die zwar noch nicht haushaltstechnisch erfasst aber grundsätzlich bereits als gesetzliche Leistungsansprüche definiert sind. Diese Leistungsansprüche treffen nun auf eine veränderte demographische Entwick- 48 Vgl. hierzu Raffelhüschen 1999 oder Fetzer/Hagist/Raffelhüschen 2004.

219 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 136 Herausforderungen lung und können als Maßzahl für die intergenterative Belastung genutzt werden (Nachhaltigkeitslücke). So zeichnen die Forscher am Forschungszentrum Generationenverträge für die sozialen Sicherungssysteme bei Basisjahr 2004 und 2005, einem Zins von 3 % und einem Wachstum von 1,5 % (real) spürbare Nachhaltigkeitslücken für die Gesetzliche Renten- wie die Gesetzliche Krankenversicherung (vgl. Abbildung 11). Die empirischen Analysen zeigen, dass auf zukünftige Generationen eine deutliche Mehrbelastung zukommt, in der Größenordnung eines Vielfachen des Bruttoinlandsprodukts. Wir leben, fiskalisch gesehen, also deutlich über unsere Verhältnisse und engen den Handlungsspielraum zukünftiger Generationen drastisch ein, soll weiterhin das hohe Versorgungsniveau sichergestellt werden.

220 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 137 Abb. 11: Nachhaltigkeitslücken Sozialer Sicherung ,4 119,2 98,5 89,2 76,9 77,7 35,7 31,7 29,6 Quelle: Eigene Darstellung nach Hagist et. al. (2007) 24,8 31,6 21,5 14,1 57,7 58, Man kann die Ergebnisse auch so interpretieren, dass wir uns heute einen Umfang an sozialen Leistungen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung gönnen, der für die nachfolgenden Generationen mit den bestehenden Finanzierungssystemen nicht aufrecht zu erhalten ist. Da die Ausgaben der Krankenversicherung in hohem Maße altersabhängig sind, erwachsen aus dem demographischen Wandel in Verbindung mit den Wechselwirkungen des medizinisch-technischen Fortschritts Ausgabensteigerungen, die in einem Umlagesystem zwangsläufig zu Beitragssteigerungen führen (vgl. Zweifel/Felder/Meier 1996; Schmähl/Ulrich 2001). Dies hat bei anhaltender Alterung zunehmende Belastungen zukünftiger Generationen beziehungsweise steigende intergenerative Transfers zur Folge: Ein immer größer werdender Anteil des Beitrags der Jüngeren wird zur Finanzierung der Gesundheitsausgaben für die Älteren aufgewendet. Daraus resultiert die so genannte Nachhaltigkeitslücke (vgl. Auerbach et al. 1994). Die Schließung dieser Lücke setzt voraus, dass jede Generation über ihren Lebenszyklus hinweg ihre eigenen Gesundheitskosten finanziert. Mit der Kapitaldeckung können grundsätzlich sowohl die

221 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 138 Herausforderungen demographischen Belastungen als auch die Ausgabeneffekte des medizinisch-technischen Fortschritts gleichmäßiger über die Zeit verteilt und damit zumindest partiell vorfinanziert werden (vgl. Knappe 2003). Bei einer individuellen Kapitalbildung, etwa in Form von Altersrückstellungen, finden keine intergenerativen Transfers mehr statt. Die Belastungen in der Gegenwart fallen dann höher aus, während die zukünftigen Belastungen entsprechend niedriger sind. Der individuelle Belastungspfad lässt sich durch Kapitalbildung glätten. Allerdings erweist sich die Bestimmung des erforderlichen Kapitalbedarfs im Gesundheitswesen im Vergleich zur Rentenversicherung als komplexe Aufgabe, da die zukünftigen Wechselwirkungen zwischen Demographie und medizinischem Fortschritt nur sehr schwer zu quantifizieren sind. Falls der Kapitalbedarf unterschätzt wird, wird trotzdem noch eine entlastende Wirkung erzielt. Lediglich im Falle der Überschätzung des Bedarfs würde der Verschwendung von Ressourcen Vorschub geleistet. Zum Vergleich sei auf die Situation in der Privaten Krankenversicherung (PKV) verwiesen: Damit die Versicherungsbeiträge nicht mit zunehmendem Alter der Versicherten steigen, führt die PKV aus den Prämieneinnahmen und den Kapitalerträgen umfangreiche Mittel der Alterungsrückstellung zu. In der PKV ist dadurch bis Ende 2003 ein Kapitalstock von rd. 106,5 Mrd. gebildet worden (vgl. Verband der Privaten Krankenversicherung 2008). Will man nur die Kapitaldeckung stärken, so könnte man im öffentlich-rechtlichen System jeden Versicherten auch zwingen, neben seiner Krankenversicherung einen Sparvertrag abzuschließen, der im Falle eines Versicherungswechsels automatisch portabel ist. Dadurch könnte auch die Teil-Kapitaldeckung in den einzelnen Zweigen der sozialen Sicherung gebündelt werden, bzw. man könnte sie nur in einem Zweig der sozialen Sicherung einführen, etwa der Rentenversicherung, dort allerdings in einem Umfang, der die gewünschte Kapitaldeckung in allen Zweigen der Sozialversicherung berücksichtigt. Diese Lösung besitzt aber den gravierenden Nachteil, dass die Finanzierungs- und Budgetierungsgrenzen für die einzelnen Teilsysteme an Kontur verlieren und deshalb die Akzeptanz für die erforderlichen Reformschritte spürbar nachlassen dürfte. Es dürfte kaum ein Weg

222 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Herausforderungen 139 daran vorbei führen, jedes Teilsystem der sozialen Sicherung eigenständig nachhaltig zu finanzieren. Grundsätzlich erscheint es aber auch möglich, die Ausgabeneffekte des demographischen Wandels und des medizinischen Fortschritts im Rahmen des bestehenden Umlageverfahrens abzuschwächen (vgl. SVR 2004). Dazu wäre allerdings eine stärkere Belastung der älteren Versicherten erforderlich, so dass jede Generation deutlicher als im Status quo ihre eigenen Gesundheitskosten finanziert und damit dem Nachhaltigkeitsziel eher entsprochen wird. Die Begrenzung intergenerativer Transfers ist grundsätzlich also auch in einer umlagefinanzierten GKV möglich und erfordert nicht unbedingt Kapitaldeckung. Voraussetzung wäre aber, dass Rentner in der Krankenversicherung adäquate Beiträge zahlen müssten. Dieser Argumentation lässt sich entgegenhalten, dass eine höhere Belastung für Rentner aus Verteilungsgründen nur sehr eingeschränkt durchsetzbar sein dürfte. Falls eine stärkere Belastung der Rentner ausscheidet, verbleiben im Umlageverfahren letztlich nur ausgabenseitige Reformen, die dafür sorgen, dass der Anstieg der Gesundheitskosten im Alter gebremst wird. Dazu müssten die Reformen aber insgesamt mutiger sein und den eingetretenen Pfad der klassischen Kostendämpfung verlassen. Das könnte insbesondere dadurch erreicht werden, dass deutlich stärkere Anreize als bisher für die Prävention im Gesundheitswesen gesetzt werden. Hier bieten die neuen Formen der Integrationsversorgung einen möglichen Ansatzpunkt. Die Bilanz der bisherigen Kostendämpfungspolitik ist aber nicht so ermutigend, dass man auch bei zukünftigen Gesundheitsreformen wieder alleine auf ausgabenseitige Reformen setzen sollte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen Modelle, die zu einer Kapitalbildung im Gesundheitswesen beitragen, erfolgversprechender. Die Ergänzung des Umlagesystems durch kapitalgedeckte Elemente erscheint auch unter dem Aspekt der Risikomischung vorteilhaft, da beide Finanzierungssysteme unterschiedlich sensibel auf Risiken reagieren. Da Deutschland bisher stark auf die Umlagefinanzierung gesetzt hat, erscheint der Ausbau kapitalgedeckter Finanzierungsmo-

223 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 140 Herausforderungen delle vorteilhaft. Auf das Problem der Kapitaldeckung soll im Kapitel VI noch einmal vertieft eingegangen werden.

224 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 141 VI Reform des Gesundheitswesen: Szenarien Angesichts der Vielgestaltigkeit der gegenwärtigen Probleme sowie der zukünftigen Herausforderungen sind Reformen im Gesundheitswesen unumgänglich. Allein schon die begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten im Rahmen einer Solidargemeinschaft erzwingen eine Umgestaltung der sozialen Krankenversicherung, die das Problem der Knappheit der Mittel und deren optimale Verwendung effizient zu lösen verspricht. Die notwendige Reform des Gesundheitswesens wird auch eine Neubestimmung des Solidarprinzips einschließen müssen. So wird eine Reduzierung der Solidarleistungen, also der im Krankheitsfall gewährten und von der Solidargemeinschaft finanzierten Leistungen, nicht zu vermeiden sein. Das Gesundheitswesen krankt wie bereits herausgestellt an falschen Anreizsystemen, einem Verantwortungsvakuum und einer ständig wachsenden Reglementierungsflut. Ziel einer Reform muss es daher sein, die Ursachen von Ineffizienzen zu bekämpfen und systemimmanente individuelle Anreize zu schaffen. Gerade unter dem ambivalenten Gesichtspunkt künftiger Wachstumspotenziale im Gesundheitswesen darf Kostendämpfung nicht als Selbstzweck verstanden werden. Die Eingriffsintensität ist in Anbetracht einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung bislang in Deutschland zu hoch gewesen. Verteilungs- und beschäftigungspolitische Zielsetzungen dürfen als Begründung für eine weitere Beschränkung der individuellen Freiheit nicht herangezogen werden, es sei denn, es wird im Sinne eines expliziten gesellschaftlichen Diskurses das Bild eines unmündigen Patienten, der letztendlich auch unmündiger Bürger werden muss, zum Leitbild der Gesundheitspolitik erhoben. Welche Grundfragen stellen sich nun bei der Gestaltung einer ordnungspolitischen Leitlinie der Gesundheitspolitik?

225 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 142 VI.1 Diskussion jeder Reform: Grundfrage des Rationierungsphänomens Reform Die Grundfrage an ein Sicherungssystem hängt unmittelbar von den Ansprüchen aller Gesellschaftsmitglieder an das Gesundheitswesen ab. Welche Ansprüche lassen sich identifizieren? Grob können zwei Richtungen unterschieden werden. Auf der einen Seite soll durch ein Gesundheitssystem ganz grundsätzlich die Gesundheit der Bürger erhalten bzw. wiederhergestellt werden. Das ist die Aufgabe der medizinischen Leistungserbringer. Auf der anderen Seite muss die finanzielle Absicherung im Krankheitsfall gewährleistet sein und dafür Sorge getragen werden, dass diese Mittel an die Leistungserbringer so verteilt werden, dass sie ihre Aufgaben erfüllen können. Jedes Gesundheitssystem muss aber das Spannungsverhältnis lösen, wie einerseits eine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet werden soll, ohne aber andererseits die Volkswirtschaft mit den Ansprüchen an das medizinisch Mögliche zu überfordern. Jede mit der medizinischen Leistungsausweitung verbundene Ausdehnung der Gesundheitsausgaben führt aber wegen der Knappheit der Mittel dazu, dass immer weniger finanzielle Mittel anderen, gesellschaftlich ebenfalls wünschenswerten Bereichen, wie Bildung, Kultur, innere und äußere Sicherheit, zur Verfügung stehen. Nach wie vor ist eine Gesellschaft auch bereit, Produktionsprozesse zu akzeptieren, die Unfälle mit Todes- und Krankheitsfolge nach sich ziehen. Aus ökonomischer Sicht ist deshalb nicht der Gesamtnutzen relevant, sondern die Abwägung des Nutzenzuwachses (Grenznutzen) gegenüber dem Kostenzuwachs (Grenzkosten) (vgl. Oberender 1998, S. 10 ff.). Das ökonomische Entscheidungskalkül jedes Individuums zeigt diese Ambivalenz deutlich auf. Nach diesem Kalkül sind auch bei Gesundheitsleistungen der zusätzliche Gewinn an Lebensqualität den zusätzlichen damit verbundenen Kosten gegenüber zu stellen. So lässt sich beispielsweise das individuelle Verhalten erklären, dass trotz Kenntnis der gesundheitsschädigenden Wirkungen des Rauchens oder auch

226 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 143 bestimmter Sportarten viele Menschen rauchen oder gefahrgeneigte Freizeitbeschäftigungen ausüben. Das strategische Problem der Medizin und damit des gesamten Gesundheitswesens ist die Knappheit der Ressourcen. Das taktische Problem, das es zu lösen gilt, ist die bestmögliche Verwendung dieser knappen Ressourcen der Gesundheitsversorgung. Dies führt neben Rationalisierungsanstrengungen, d. h. dem Verzicht auf überflüssige Maßnahmen, zwangsläufig zu Effekten der Rationierung. Rationierung in diesem Sinne bedeutet den bewussten Verzicht auf medizinisch wirksame und sinnvolle Maßnahmen. Aufgrund der Preislosigkeit eines individuellen Menschenlebens ist eine Rationierung im Gesundheitswesen nur als Entscheidung über Menschenleben im statistischen Sinne, d. h. durch Festlegung der Wahrscheinlichkeit, mangels geeigneter oder in ausreichendem Umfang vorhandener medizinischer Ressourcen früher zu sterben, gesellschaftlich akzeptabel. Die gesellschaftliche Frage ist nun, nach welchen Kriterien Rationierungsentscheidungen durchgeführt werden sollten. Wenn berücksichtigt wird, dass die möglichen Ausgaben für medizinische Leistungen infolge der im Vorkapitel herausgearbeiteten Herausforderungen weiterhin stark ansteigen werden, kann die Rationierungsfrage, die immer auch mit dem Gleichheitspostulat verknüpft ist, nur noch absolut zu einem zu erreichenden Niveau betrachtet werden und nicht mehr relativ zum Status anderer Gesellschaftsmitglieder (vgl. Leist 2002, S. 175). Mit anderen Worten wird der medizinischetechnische Fortschritt es erforderlich machen, explizit im gesellschaftlichen Kontext zu erklären, welche Gesundheitsleistungen für alle als Mindestleistungen zur Verfügung stehen. Von diesem Mindeststandard aus werden individuelle Erweiterungen und Ergänzungen der Gesundheitsversorgung die Folge sein. Die Festlegung gesundheitspolitischer Zielsetzungen für den Bereich der Versorgung, der außerhalb der Allokation über das Preissystem, d. h. kollektiv erfolgen soll, muss jedoch der Pluralität der freiheitlichen Gesellschaftsordnung entsprechen. Im Zweifel werden verschiedene Personen den Inhalt und vor allem den Umfang und die Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung unterschiedlich gewichten.

227 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 144 Reform Der Ausdruck unterschiedlicher Gewichtungen von Solidarität und Eigenverantwortung kommt nun in der Darlegung von Reformalternativen zum Tragen. VI.2 Zur Reformdiskussion im deutschen Gesundheitswesen Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz glaubt die Gesundheitspolitik einen entscheidenden Schritt in eine tragfähige und vor allem dauerhaftere Gesundheitsreform unternommen zu haben. Doch nicht nur die Unsicherheiten hinsichtlich der Ausgestaltung des Gesundheitsfonds machen deutlich, dass die offenen Reformbaustellen im deutschen Gesundheitswesen noch immer weitgehend ungelöst sind. Diese lassen sich wie folgt skizzieren: Vielfältige Schnittstellenprobleme zwischen den Versorgungsstrukturen können zwar durch den Einsatz von Vertrags- und Organisationslösungen, wie etwa den Ausgestaltungsoptionen der Integrierten Versorgung oder den Möglichkeiten eines medizinischen Versorgungszentrums, effizienter organisiert werden. Die grundsätzliche Problematik leistungsorientierter Vergütungs- und Haftungsanreize zwischen ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung ist aber immer noch weitgehend ungelöst. Trotz der Einführung eines Gesundheitsfonds bleibt die Frage offen, wie es gelingen kann, Finanzierungsstrukturen zu finden, die intergenerative Umverteilungselemente reduzieren. Alle potenziell möglichen Ansätze von (Teil-)Kapitaldeckungselementen sind im Gesundheitsfonds nicht integriert worden. Die gesamte Gesundheitspolitik greift eklektisch Teilbereiche des Gesundheitswesens heraus und versucht, Kontroll- und Anreizprobleme zu lösen, obwohl die wettbewerblich orientierte Verlagerung von Entscheidungskompetenzen von der Makro- auf die Mikroebene ein konsistentes Ordnungskonzept für eine kontrollierte Wettbewerbsordnung erforderlich machen würde. Diese sollte insbesondere ermöglichen, den vordergründigen Spagat zwischen Sicherung der Regelversorgung und Integration der Patientenpräferenzen zu gewährleisten (vgl. Abbildung 12). Diese Vorgehensweise kann als

228 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 145 eine Form einer verwalteten Wettbewerbsordnung interpretiert werden (vgl. Schneider et al. 2008a). Abb. 12: Leitidee: Kontrollierte Wettbewerbsordnung Handlungsebenen Makroebene: gemeinsames und einheitliches Handeln Mesoebene: korporative Vereinbarungen Mikroebene: individuelle Vertrags - verhandlungen Korporatistische Steuerung : GKV GKV Ist Ist Einheitsversorgung mit Qualitäts-, Effizienz- und Innovationsdefiziten 2. Reformbaustellen Leitidee: von der korporatistischen zur wettbewerblichen Steuerung Wettbewerbsintensität GKV GKV Soll Soll Wettbewerbliche Steuerung : Multivariate Versorgungsformen nach Maßgabe der Patientenpräferenzen Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schneider et. al. 2008b. Ein derartiges integratives Ordnungskonzept müsste auch die Frage beantworten, wie der Anspruch auf eine solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung angesichts der Herausforderungen der demographischen Entwicklung und des medizinisch-technischen Fortschritts organisiert werden kann. Die Nachfrage- und Angebotsbedingungen im Gesundheitswesen (der Pflegesektor ist zwingender Bestandteil des Gesundheitsmarktes!) werden insbesondere durch die Herausforderungen des technologischen Wandels in der Medizin befördert. Einerseits wirkt der medizinische Fortschritt häufig in der Weise, dass bezogen auf eine Generationenbetrachtung die Mortalität pro Alterskohorte reduziert werden kann, diese Reduktion aber

229 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 146 Reform durch eine stetige Inanspruchnahme medizinischer Leistungen begleitet wird. Andererseits steigt der Möglichkeitenraum, d. h. die Angebotsseite, als auch die damit korrespondierende Zahlungsbereitschaft auf der Nachfrageseite, an und lässt daher die Notwendigkeit einer Neuausrichtung der solidarischen Absicherung notwendig werden. Es lässt sich somit festhalten: Ansatzpunkt einer kontrollierten Wettbewerbsumgebung, die als Leitschnur eines nachhaltigen Gesundheitswesens fungieren kann, ist sowohl die medizinische Versorgung einer gegebenen Regelversorgung effizient und zielgenau sicherzustellen (Rationalisierung) - hierzu sind noch zu formulierende Informations- und Anreizsysteme für den Wettbewerbsprozess zu entwickeln - als auch die Fortschreibung der Regelversorgung zu übernehmen. Da insbesondere die Herausforderung des medizinisch-technischen Fortschritts jedes Gesundheitssystem beeinträchtigt, soll die Implementierung einer tragfähigen Finanzierungs- und Implementierungsüberlegung des Medizinfortschritts im Vordergrund des Beitrags stehen. VI.3 Weiterentwicklung des Solidarprinzips Nachfolgend sollen anhand der Kriterien Mitgliedschaft und Versicherungspflicht sowie Gestaltung des Versicherungsverhältnisses die aktuellen Reformansätze im Spannungsfeld Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie grundlegend eingeordnet und jeweils mit einer Synthese abgeschlossen werden. VI.3.1 Mitgliedschaft und Versicherungspflicht Die Diskussion um eine Reform der Gesundheitsversorgung muss die Frage beantworten, für wen die Pflicht zur Solidarität innerhalb einer Gesellschaft letztendlich gilt. VI Bürgerversicherungsmodelle Grundlage der Bürgerversicherungsmodelle ist die Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle Bürger. Die Versicherungspflichtgrenze

230 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 147 entfällt dadurch. Gleichzeitig soll die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden und grundlegend möglichst alle Einkunftsarten des Einkommenssteuergesetzes Berücksichtigung finden. Private Krankenversicherungen sollen mit risikoäquivalenten Prämien lediglich den Bereich der Zusatzversicherungen abdecken können. Andere Ansätze sehen eine Art Wettbewerbsgleichheit zwischen gesetzlichen Krankenversicherungen und privaten Krankenversicherungen dergestalt vor, dass auch private Krankenversicherungen nach den einheitlichen Bedingungen, d. h. einkommensabhängiger Beiträge, Vollversicherungsverträge anbieten können. 49 VI Gesundheitsprämienmodelle Beim Gesundheitsprämienmodell bleibt in den verschiedenen Modellen die Festlegung der Friedensgrenze, d.h. die Grenzziehung zwischen GKV und PKV offen. Einerseits wird vorgeschlagen, die bisherige Versicherungspflichtgrenze beizubehalten, lediglich die Wettbewerbsbedingungen innerhalb der privaten Krankenversicherungen, vor allem die Portabilität der Altersrückstellungen, sollten verbessert werden. Anderseits sieht das Modell von Knappe/Arnold 2002 eine Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle Bürger vor, was aber unmittelbare Auswirkungen auf den Altversicherungsbestand und die Unternehmensfreiheit der privaten Krankenversicherungen hätte. VI Synthese Die Frage nach der Ausdehnung der Versicherungspflicht ist nur im Hinblick auf die Konstruktionsprinzipien eines sozialen Sicherungssystems zu diskutieren. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob bei einem Umlageverfahren oder bei einem kapitalorientierten Verfahren eine allgemeine Versicherungspflicht eingeführt wird. Bei einer langfristigen Orientierung an immanenten Anreizen ist bei Fortbestand 49 Erweiterung des Bürgerversicherungsmodell nach den Vorstellungen von Bündnis 90/Grünen, zitiert nach Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung 2004, S. 412.

231 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 148 Reform des Solidarprinzips eine allgemeine Versicherungspflicht für alle Staatsbürger sinnvoll, insbesondere dann, wenn die Umverteilungskomponente über allgemeine Steuermittel zu finanzieren ist. Dies wäre bei Gesundheitsprämien oder einer aktuarischen Finanzierung erforderlich. Als erster Schritt in die Richtung einer allgemeinen Versicherungspflicht ist die Bemessungsgrundlage für die Beitragskalkulation langfristig erheblich auszuweiten, da ein Festhalten am Arbeitseinkommen für die weitere Entwicklung nicht mehr zielführend ist. Wie auch der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen bereits 1994 ausgeführt hat, sollte das Gesundheitswesen als ein Motor für Wachstum und Beschäftigung unter Aufgabe der Beitragssatzstabilität und Berücksichtigung künftiger Entwicklungschancen betrachtet werden. Die Diskussion um Reichweite und Inhalt der Versicherungspflicht ist ohne die Abgrenzung der Solidarität, die sich in der Garantie eines Leistungskatalogs wiederfindet, nicht zu führen. VI.3.2 Gestaltung des Versicherungsverhältnisses Die Grundfrage jedes gesundheitspolitischen Reformentwurfs und sozusagen die Klammer um die jeweiligen Ausgestaltungsvorschläge ist die Konzeption des Versicherungsverhältnisses zwischen Versicherten und Kostenträger (Krankenversicherung). Die Ausgestaltung der Finanzierungsregelung hat unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss auf die Angebots- sowie die Nachfrageseite, was sich am Beispiel des deutschen Solidarprinzips (Beitragssatzstabilität) sowie des Sachleistungsprinzips (Entökonomisierung der Leistungsnachfrage) ableiten lässt.

232 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 149 VI Bürgerversicherungsmodelle Ziel der Bürgerversicherungsmodelle ist es, durch die Ausweitung der Versicherungspflichtgrenze in Kombination mit der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze die Lohnabhängigkeit der Finanzierung zu reduzieren und gleichzeitig eine verbesserte horizontale Gerechtigkeit zwischen den Einkunftsarten zu gewährleisten. Die Lohnabhängigkeit soll durch die Berücksichtigung aller Einkunftsarten des Steuerrechts reduziert werden. Durch die Einbeziehung weiterer Einkommensbestandteile ergibt sich das Problem der Verrechnungsfähigkeit von positiven und negativen Einkommen. Dies soll nach dem Konzept der Bürgerversicherung nicht möglich sein. Darüber hinaus macht die Fortführung der paritätischen Finanzierung eine Regelung für die Nichterwerbseinkünfte notwendig. Für Vermögenseinkünfte soll der Versicherte daher den vollen Beitrag bezahlen. Ziel der Bürgerversicherung ist es, durch eine Ausweitung der Versicherungspflicht bei gleichzeitiger stufenförmiger Anhebung der Versicherungspflichtgrenze mittlere und kleine Einkommenshaushalte langfristig zu entlasten, was bei Annahme eines gleichen Ausgabenverhaltens bei Erhöhung der Einnahmebasis saldentheoretisch zwingend sein muss. VI Gesundheitsprämienmodelle Kernbestandteile der Gesundheitsprämienmodelle sind einkommensund altersunabhängige Kopfpauschalen mit einem grundsätzlichen Solidarausgleich über das Steuersystem. 50 Jeder (erwachsene) Versicherte zahlt eine Gesundheitsprämie, die innerhalb der Kasse für 50 Es ist bei den verschiedenen Modellen unklar, ob mit einheitlicher Gesundheitsprämie ein für alle Kassen einheitlicher Satz oder lediglich die Vorgabe kassenindividueller Prämien intendiert ist. Während die erste Variante letztendlich wie eine allgemeine Kopfsteuer wirken würde, würde sich die zweite Variante (wie beispielsweise bei Knappe/Arnold 2002 durchaus an Prämienmodellen orientieren, wie sie beispielsweise in amerikanischen HMO-Systemen zu finden sind.

233 um 13:12 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 150 Reform jeden gleich sein muss. 51 Für den Kassenwettbewerb soll weiterhin ein Kontrahierungszwang und ein Diskriminierungsverbot gelten. Durch die Entkoppelung der Krankenversicherungsbeiträge vom Einkommensrisiko soll sich der Risikostrukturausgleich künftig nur auf die ausgabenseitigen Faktoren (Alter, Geschlecht, Morbidität) konzentrieren. Die bisherigen Arbeitgeberbeiträge werden vollständig über den Lohn ausbezahlt und unterliegen daher der Besteuerungspflicht. Die solidarische Absicherung soll über steuerfinanzierte Prämienzuschüsse erfolgen. VI Ausgestaltung der Finanzierung: eine Synthese Eine Beibehaltung der Beitragsfinanzierung gemäß dem Solidarprinzip, wie es die Modelle der Bürgerversicherung intendieren, könnte auf die bisherige Tradition der sozialen Sicherung zurückgreifen und würde vor allem dem politischen Argument der geteilten Solidarität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Rechnung tragen, das jedoch übersieht, dass auch der so genannte Arbeitgeberanteil Lohnbestandteil ist, der von der Produktivität des einzustellenden Arbeitnehmers erst erwirtschaftet werden muss. Unter Berücksichtigung der bedeutsamen Nachfragepotenziale (demographische Entwicklung und medizinisch-technischer Fortschritt) muss in Zukunft mit steigenden Ausgaben und damit einer Verschärfung der Beitragssatzentwicklung gerechnet werden, da insbesondere das grundsätzliche Steuerungsproblem im deutschen Gesundheitssystem, d. h. das Auseinanderfallen zwischen im Quellenabzugsverfahren erhobenen Einnahmen und Inanspruchnahme der Leistungen, nicht behoben wird. Reformvorschläge, die zwar das Umlageverfahren erhalten wollen, gleichzeitig jedoch das Problem der Lohnnebenkosten stärker akzentuieren, plädieren dafür, entweder den Arbeitgeberanteil auf einer gewissen Höhe festzusetzen oder die gesamten Lohnnebenkosten von einem zu definierenden Sockelbetrag einmalig auszuschütten. Im 51 Bei den verschiedenen Modellen der Gesundheitsprämie lässt sich keine einheitliche Linie hinsichtlich der Prämienbelastung von Kindern finden.

234 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 151 ersten Fall wären Beitragssatzerhebungen allein dem Arbeitnehmer aufzubürden, wohingegen im zweiten Fall Krankenversicherungsbeiträge den Charakter als Lohnnebenkosten verlieren würden und künftig allein Element der Lohnverhandlungen wären. Dadurch würde zum einen die Transparenz erhöht sowie das Argument der Lohnnebenkosten wird hinfällig. Vor dem Hintergrund der demographisch zu erwartenden Mehrausgaben wird zukünftig die Deckung der Finanzierungslücke immer relevanter (Verhältnis von zahlenden Erwerbstätigen zu Leistungsbeziehern). Damit nimmt die Bedeutung von Kapitalrückstellungen (Kapitaldeckung) zu. Gleichwohl ist eine Kapitaldeckung zur Sicherung des intertemporalen Ausgabenbedarfs immer nur unvollständig konstruiert, da vor allem das Änderungsrisiko und die Einflüsse des medizinisch-technischen Fortschrittes nur teilweise antizipiert werden können. 52 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang vor allem, auf welcher gesellschaftlichen Steuerungsebene die Kapitaldeckung eingeführt wird. Bleibt die Kapitaldeckung Element des GKV- Umlagesystems, so ist die Gefährdung durch politische Verschiebebahnhöfe nicht von der Hand zu weisen. Die andere Alternative würde die Kapitalrückstellungen am individuellen Versicherten ansetzen lassen. Entscheidend bleibt, dass die Kapitalrückstellungen bei einem möglichen Kassenwechsel transferierbar sind. Das System der beitragsunabhängigen Leistungen und der einkommensabhängigen Beiträge (Beitragsfinanzierung nach Solidarprinzip) lässt sowohl das versicherungstechnische Prämienrisiko als auch das Umverteilungsrisiko beim Kostenträger. Ein System der Gesundheitsprämien (ähnlich dem Schweizer Modell) würde die Umverteilungskomponente aus dem Leistungsverhältnis Kostenträger Versicherter ausgliedern und konsequenterweise auf den Staat übertragen. Folglich wären Fehlanreize aus der Umverteilungsanlage aus der Leistungsbeziehung herausgenommen. Jedoch ist auch bei Gesundheitsprämienmodellen das Problem des mit dem Alter ansteigenden Finanzierungsrisikos bei grundsätzlichem 52 Vgl. zu Umsetzungsproblemen u. a. auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2004, S. 399 ff.

235 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 152 Reform Verzicht auf eine ex-ante-prämiendifferenzierung (risikoäquivalente Prämien) zu diskutieren. Entweder werden altersorientierte Kopfprämien erhoben oder das Instrument der ex-post-differenzierung der Beiträge über bestimmte Ausgestaltungsvarianten des Selbstbehaltes gewählt. Der Anreiz zur Risikoselektion und somit die politische Diskussion um eine mögliche Regulierung der Risikostruktur sind bei einem Kopfprämienmodell nicht von der Hand zu weisen. VI.3.3 Zwischenergebnis: Problem der Nachhaltigkeit Sowohl gegen die Bürgerversicherungskonzepte als auch gegen die Modelle der Gesundheitsprämien bestehen ernstzunehmende Bedenken. Bei der Bürgerversicherung kommt es zu einer Ausdehnung des Umlageverfahrens, ihre ökonomische Wirkungsweise entspricht derjenigen der Einkommensteuer, sie leistet keinen Beitrag zur Reduktion der gesamtwirtschaftlichen Abgabenquote und ist nicht vereinbar mit dem Ziel der Senkung der Grenzsteuersätze im Rahmen der Einkommensteuerreform. Gegen die Gesundheitsprämienmodelle wird eingewendet, dass sie ebenfalls überwiegend im Umlageverfahren verbleiben (je nach betrachteter Variante), mit sozialen Ungerechtigkeiten einhergehen und außerdem der erforderliche Transferbedarf nicht zu finanzieren sei. Beiden Konzepten ist demnach vorzuhalten, dass sie unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit das selbstgesteckte Ziel der langfristigen Sicherung der GKV-Finanzierung verfehlen. Alle genannten Reformvorschläge erweisen sich zwar letztlich als etwas demographiefester als das gegenwärtige GKV-System, eine signifikante Reduktion der bestehenden Nachhaltigkeitslücke erreichen sie jedoch nicht. Sowohl im Modell der Bürgerversicherung als auch bei den Gesundheitsprämienmodellen resultiert die höhere Demographiefestigkeit aus einer stärkeren finanziellen Belastung der älteren Versicherten und damit durch eine Stärkung des Äquivalenzprinzips. Bei der Bürgerversicherung werden die älteren Menschen stärker an der Finan-

236 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 153 zierung ihrer Gesundheitskosten beteiligt, da neben der Rente weitere Einkunftsarten herangezogen werden. 53 Insgesamt weisen die Ergebnisse aber auch auf ein zentrales Problem der Reformmodelle hin. Eine Nachhaltigkeitslücke besteht immer dann, wenn in der langen Sicht die Schere zwischen den Beiträgen bzw. den Einnahmen und den jeweiligen Leistungsausgaben auseinanderdriftet. Mit Hilfe der bereits vorgestellten Idee der Generationenkonten lässt sich die wachsende Verschuldung künftiger Generationen abbilden, indem für jede Generation der (Netto-)Barwert der Ein- und Auszahlungen in das soziale Sicherungssystem abgebildet wird. Als Beispiel lässt sich die Idee der impliziten Besteuerung heranführen, die beispielsweise im Bayreuther Versichertenmodell für das Szenario einer Basisbevölkerung für das Jahr 2005 hochgerechnet wurde. Das Konzept der impliziten Steuer geht auf Lüdeke 1988 sowie Homburg/Richter 1990 zurück und vergleicht die Barwerte der Einzahlungen und Leistungen einer umlagefinanzierten Sozialversicherung. Bislang ist dieser Ansatz vor allem bei der Analyse von Reformvorschlägen für die Rentenversicherung verwendet worden. 54 Im Kontext einer umlagefinanzierten Krankenversicherung lautet die Definition: Implizite Steuer = Barwert der Einzahlungen Barwert der Ansprüche an die GKV. Für einen GKV-Versicherten gibt dieses Maß die ökonomische Belastung durch die Teilnahme an der Umlage in der GKV wieder. Durch Summierung der impliziten Steuern aller Mitglieder eines Jahrgangs erhält man die Gesamtbelastung eines Jahrgangs. Oberen- 53 Die gesetzliche Rente beläuft sich gegenwärtig nur noch auf knapp 50% des Haushaltseinkommens der Rentner. 54 Siehe z.b. Thum/von Weizsäcker 2000 und den Beitrag von Kifmann 2001, der die Ausweitung des Versichertenkreises in der gesetzlichen Rentenversicherung untersucht. Für eine Anwendung auf die GKV siehe Felder und Kifmann 2004.

237 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 154 Reform der et al. (2006) errechnen für das Basisszenario, in dem die Beiträge an die GKV weiterhin an das Lohneinkommen gekoppelt sind und die Finanzierung durch einkommensabhängige Beiträge und beitragsunabhängige Leistungen erfolgen (reales Ausgabenwachstum im Jahr in Höhe von 0,02 und reales Wachstum der Einkommen von 0,015). Die prognostizierte Beitragssatzentwicklung liegt bei etwa 22,33 % für das Jahr 2050, der im Vergleich zu anderen Studien an der unteren Prognosegrenze liegt. Mit Hinblick auf die implizite Besteuerung lässt sich festhalten, dass diese im Sinne einer Pro-Kopf-Steuer positiv für alle Jahrgänge ist, die nach 1965 geboren sind. Deren durchschnittliche implizite Pro- Kopf-Steuer liegt im Status quo bei Frauen aller Jahrgänge werden subventioniert. Gründe hierfür sind die etwas höheren Lebensausgaben der medizinischen Versorgung für Frauen, vor allem aber ihr im Vergleich zu den Männern deutlich niedrigeres beitragspflichtiges Einkommen. Am stärksten besteuert werden die Männer im Alter um 30 Jahre, die bei oder kurz nach der Reform die höchsten Einkommen erzielen, also die Jahrgänge der späten 70er und frühen 80er Jahre.

238 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 155 Abb. 13: Implizite Pro-Kopf-Steuer im Status quo in Tsd Euro Jahrgang Quelle: Eigene Darstellung Männer Frauen gesamt Multipliziert man die implizite Pro-Kopf-Steuer eines Jahrgangs mit der Stärke des Jahrgangs (Besetzungszahl), so ergibt sich die gesamte implizite Steuerbelastung, die für den Status quo wiedergegeben ist (vgl. Abbildung 13). Die durchschnittliche Belastung der jungen Jahrgänge beträgt dort 20 Mrd.. In der Längsschnittbetrachtung verteilt die GKV zwischen den Einkommensgruppen des Jahrgangs ,66 Mrd. oder 42 Prozent der Lebenszeitbeiträge um. 55 Das Zahlenverhältnis zwischen Begünstigten und Zahlenden beträgt bei den Frauen drei zu zwei, bei den Männern eins zu drei und insgesamt zwei zu drei. Zieht man bei den Frauen von den insgesamt erhaltenen Umverteilungszahlungen die positiven Nettozahlungen der Gutverdienenden ab, so resultiert die Quersubventionierung der Frauen durch die Männer. Sie beträgt beim Jahrgang ,62 Mrd.. 55 In der Längsschnittbetrachtung beschränken wir uns auf den Jahrgang Es werden alle Einkommensgruppen dieses Jahrgangs subventioniert, deren implizite Besteuerung geringer als für den Durchschnitt des Jahrgangs ist.

239 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 156 Reform In der Querschnittsbetrachtung ergibt sich für 2005 ein gesamtes Umverteilungsvolumen von 56,24 Mrd. für die GKV. 56 Dies entspricht 51,2 Prozent der GKV-Einnahmen im Jahre Im gegenwärtigen Finanzierungsmodus der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), dies gilt im Grundsatz für alle umlagefinanzierten Systeme, stellen die Leistungsansprüche der heute lebenden Generationen einen Anspruch vor allem an die noch nicht geborenen künftigen Generationen dar. Die Differenz aus den künftigen Beiträgen und Leistungsansprüchen aus dem System der sozialen Sicherung im Allgemeinen und der GKV im Besonderen sind ökonomisch nichts anderes als implizite Schulden, die letztlich durch künftige Steuern und Abgaben zu finanzieren bzw. zurückzuzahlen sind. Es muss grundsätzlich festgehalten werden, dass die soziale Krankenversicherung als Risikoversicherung per se unterschiedliche finanziell wirksame Schadenspotenziale der Versicherten umverteilen will. Die entscheidende Fragestellung für eine nachhaltige Strategie der Finanzierung ist jedoch, ob jede nachrückende Generation überproportional stärker zur Finanzierung des Gesundheitswesens beiträgt und somit die intragenerative Umverteilung zunimmt, was die Legitimation und somit die Zukunftsfähigkeit des sozialen Sicherungssystems beeinträchtigt. Zwei Aspekte gilt es zu berücksichtigen, die Frage der Versicherungspflicht und die Ausgestaltung einer intergenerativen Umverteilung. Grundsätzlich muss eine allgemeine Versicherungspflicht für alle gelten, da jeder Bürger grundsätzlich vom Risiko der finanziellen und persönlichen Überforderung durch ein Krankheitsrisiko getroffen werden kann. Dies spricht für einen einheitlichen Krankenversicherungsmarkt, der die bestehende, historisch gewachsene, Trennung zwischen GKV und PKV aufhebt. Die bisherig diskutierten Reformvorschläge haben jedoch entweder vorrangig den Umfang des Versichertenkreises beleuchtet oder die Frage der Finanzierungsregel in den Vordergrund gestellt. Für eine nachhaltige Reform sind jedoch beide Ansatzpunkte relevant. Ord- 56 Im Querschnitt des Jahres 2005 ergibt sich immer dann eine Umverteilung, wenn der Beitrag einer Einkommensklasse kleiner als der entsprechende durchschnittliche Beitrag ist.

240 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 157 nungspolitisch lassen sich unterschiedliche Konzepte in ihrer grundlegenden Zielorientierung vergleichen, nämlich ob das Versicherungsprinzip im Vordergrund steht oder das Umverteilungsprinzip. In einer vereinfachten Gegenüberstellung zeigt nachfolgende Tabelle die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass das Plädoyer für eine Versicherungsstärkung, etwa durch die Einführung einer Prämie, bzw. das politische Eintreten für den Umverteilungscharakter innerhalb des Versicherungssystems nicht zwingend mit Nachhaltigkeit gleich gesetzt werden muss. So würde zwar allokativ ein Prämiensystem einem Preissystem ähnlicher sein und somit präferenzorientierte Nachfragesteuerung befördern helfen. Wenn jedoch die Prämien nur intrasektoral gebildet werden, d. h. keine Implementierung der Zeit in die Prämiengestaltung erfolgt, muss auch ein Prämiensystem nicht zwingend intergenerativ nachhaltig sein. Darüber hinaus gilt es den Zusammenhang zwischen Finanzierungsregel und Versorgungsgestaltung zu berücksichtigen. (vgl. Tabelle 4.).

241 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 158 Tab. 4: Orientierung des Sicherungsziels Kriterien Ziel: Umverteilung Ziel: Versicherung Prämiengestaltung Versicherungsvertrag Versorgungsvertrag Nachhaltigkeitskonzept Quelle: Eigene Darstellung Einkommensabhängige Beiträge Fokus Umverteilung im System Kollektivvertrag oder Managed mit RSA Competition Differenzierungsverbot Steuerzuschuss Grundleistungen Prämie als Preissignal Reform Fokus Steuerung im System, Umverteilung über Steuerleistung Tendenz zu Individualvertrag, Formen der Managed Competition Prämiendifferenzierung Altersrückstellungen Prämienanpassung Teilkapitaldeckungssysteme als tragbare Synthese? Eine Mischstrategie zwischen umlagefinanzierten Elementen und einem Prämiensystem stellt eine Mehrsäulen-Strategie (Umlageverfahren, Teilkapitaldeckung, Selbstbeteiligungsformen) dar, welche die intergenerative Umverteilung begrenzt. Dabei sollten sowohl die GKV-Kassen die Möglichkeit zur Aufnahme von bisherigen Privatpatienten erhalten als auch umgekehrt die Möglichkeit bestehen, dass die bisherige PKV gemäß den bisherigen GKV-Bedingungen anbietet.

242 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 159 Mit Hilfe der Komponente Teilkapitaldeckung könnte eine verstärkte Finanzierung der zukünftigen Innovationsentwicklung der Regelversorgung erfolgen und somit deutlich werden lassen, dass Nachhaltigkeitsstrategien zielorientiert sowohl die Finanzierungs- als auch die Ausgabenseite berücksichtigen müssen. Primär stellt sich die Frage der zukünftigen Finanzierung als eine Frage der intergenerativen Umverteilung und nicht primär als eine Frage der Effizienz. Trotzdem besitzen Prämienmodelle den Vorteil, dass mit ihnen eine weitgehende Abkopplung der Beiträge vom Lohneinkommen erfolgt. Darüber hinaus, und vielleicht noch wichtiger, nimmt die Transparenz zu und die Finanzierung der GKV kann besser im Einklang mit den unterschiedlichen Formen der finanziellen Eigenverantwortung des Patienten gebracht werden. Formen der Prämienverbilligung, beispielsweise über Steuerzuschüsse, sind ein gangbarer Weg, der aber die Abgrenzung des Umfangs und der Fortentwicklung der Regelleistungsgarantie (Regelleistungskatalog) erforderlich macht. An dieser Stelle gehen Finanzierungs- und Organisationsregeln ineinander über. Die Schlussfolgerungen aus der Annahme eines versicherungszentrierten Gesundheitswesens führen nun zu zwei grundsätzliche Fragen, die im Kontext eines nachfragegesteuerten Gesundheitswesen gelöst werden müssen: Einerseits ist die standardisierte Form des allgemeinen Regelleistungsanspruchs festzulegen, der notwendigerweise einheitlich die Versicherungspflicht definiert. Andererseits kann die Umsetzung der Regelleistungsgarantie durchaus außerhalb von einheitlichen Konditionen im Wettbewerb der Versicherungsangebote erbracht werden. Die Frage nach der Abgrenzung einer Regelversorgung und dem Umfang der Patientenbeteiligung daran, ist ohne Bezugnahme auf die Verortung des Solidarprinzips im Kontext zum Wettbewerbssystem nicht zu führen. Die Auseinandersetzung mit dem Notwendigkeitsbegriff findet ihren Widerhall in der grundsätzlichen Aufgabe staatlicher Sozialpolitik, niemanden bei existenzbedrohenden Wechselfällen des Lebens ohne grundlegenden Schutz zu lassen (vgl. dazu grundlegend Lampert und Althammer 2004, S. 13 ff.)

243 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 160 Reform Unter den Notwendigkeitsbegriff können jedoch verschiedene Aspekte subsumiert werden (vgl. dazu Kapitel II.3). Welche Implikationen lassen sich somit für ein nachfragegesteuertes Gesundheitswesen ableiten? Einerseits gilt es, die Frage zu beantworten, wie der Patient bei der Entwicklung und Fortschreibung von Regelversorgung mitwirken kann. Andererseits bleibt die Frage zu klären, ob die Forderung einer Teilhabe an der Fortentwicklung der Regelversorgung, insbesondere an der Teilhabe am medizinisch-technischen Fortschritts, nicht notgedrungen an die Grenzen der Finanzierungsfähigkeit geht und somit die Forderung nach einer Patientenorientierung ins Leere läuft. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Nachfrage nach medizinischen Leistungen, wie in II.1 beschrieben, noch einmal aufzugreifen. Wie sich im allgemeinen theoretischen Modell zeigen ließ, setzt sich die Nutzenkategorie des Patienten aus dem unmittelbar (subjektiven) Patientennutzen und dem Einfluss des Gesundheitssystems zusammen. Gerade der letztgenannte Aspekt spielt bei der Definition eines einheitlichen Regelleistungskatalogs die entscheidende Rolle, da letztendlich die Orientierung der Versorgung prima facie zunächst nach dieser standardisierten Kategorie erfolgen wird, in der Ausgestaltungsoption jedoch individuelle Präferenzen tendenziell berücksichtigt werden können. Die methodische Problematik lässt sich im Begriffspaar Wirksamkeit und Nutzen einordnen. Das Ergebnis medizinischer Leistungen wird mit der Wirksamkeit beschrieben. Jedoch ist davon die Kategorie des Nutzens substantiell zu unterscheiden. Ein Patient beurteilt den Wert einer Gesundheitsleistung am erzielten Nutzen. Der Patient wird einerseits mit einer Gesundheitsleistung, beispielsweise einem Arzneimittel, zufrieden sein, wenn er in Folge dieser Maßnahme länger und/oder besser leben kann als ohne diese Maßnahme. Andererseits wird ein Patient unzufrieden sein, wenn eine Gesundheitsleistung weder zu einer Verbesserung der Lebensqualität noch zu einer Verlängerung des Lebens führt, selbst wenn sie nach den Kriterien des Arztes wirksam ist. Ein Schlafmittel, das den Schlaf nachweislich um eine Stunde verlängert, ist zweifellos wirksam. Es wäre allerdings ohne Nutzen für den Patienten, wenn der Patient am anderen Tag unter Neben-

244 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 161 wirkungen dieser Maßnahme leiden würde, die seinen Nutzen wieder aufheben würde. Die Wirksamkeit wird in verschiedenen Dimensionen gemessen, sie sind vom angestrebten Zielparameter abhängig. Der Nutzen wird bei allen Maßnahmen letztendlich in denselben Dimensionen gemessen; diese Dimensionen sind Lebensquantität und Lebensqualität. Kollektive Entscheidungen im Gesundheitswesen erfordern eine Definition des Nutzens, welche über die individuellen Nutzenbestandteile hinausgeht. Die Unterscheidung zwischen Wirksamkeit und Nutzen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Bewertung einer medizinischen Maßnahme. Da letztendlich jede wirksame Maßnahme, d. h. auch jedes wirksame Medikament, nicht nur die erwünschten Wirkungen hat, ist es aus Sicht der Patienten rational, eine Analyse des Wertes der medizinischen Maßnahme mit den Kosten vorzunehmen (vgl. Porzsolt/Druckrey 1996, S. 9-22). Die Problemstellung liegt nun darin, ob sich für die gesellschaftliche Ebene eine eindeutige Lösung der Nutzenbewertung zuordnen lässt. Da jedoch nicht für alle Indikationen eindeutige empirische Evidenzen vorliegen und darüber hinaus nicht eindeutig Spontanverläufe oder Placeboeffekte bestimmt werden können, ist die Frage der Nutzenbewertung unmittelbar mit der Zuordnung der Nutzenbewertung verknüpft: Wer entscheidet, nach welchen Kriterien, was für die Gesellschaft (die GKV) ein nutzbringendes Diagnose- oder ein nutzbringendes Therapieverfahren ist? Dabei gilt es festzuhalten, dass die Abgrenzung einer Regelversorgung, die den Basisanspruch für alle Versicherten definiert, von der Festlegung einer Entscheidung was beispielsweise erstattet wird, nicht herumkommt. So hat beispielsweise der Gemeinsame Bundesausschuss unter Ratschluss eines ökonomischen Expertengremiums, das auf Basis gesundheitsökonomischer Expertise fußt, die Entscheidung über die grundsätzliche Erstattungsfähigkeit einer Innovation und einen Ankerwert für die Erstattungsfähigkeit festzusetzen. Eine derartige Festsetzung darf jedoch den Prinzipien eines Vertragswettbewerbs nicht grundsätzlich entgegenlaufen, insbesondere müssen Mechanismen gefunden werden, die eine Präferenzorientierung in der Fortentwicklung des Regelleistungskatalogs garantieren helfen.

245 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 162 Reform Damit ein Vertrag eine Regelsicherungsfunktion erfüllt worauf die Existenz eines Regelleistungskatalogs hinausläuft muss lediglich gewährleistet sein, dass dem jeweiligen Versicherten Leistungen aus dem Regelleistungskatalog bei Bedarf finanziert werden. Wie bereits festgehalten wurde, besteht in einem versicherungsbasierten Gesundheitssystem im Gegensatz zu staatsorientierten Gesundheitssystemen die Möglichkeit, die solidarische Absicherung im Wechselspiel zwischen dem allgemeinen Regelkatalog, der den Grundanspruch jedes Versicherten begründet und der Umsetzungsebene durch die Versicherungsangebote zu unterscheiden. Beispielsweise muss ein Regelsicherungsvertrag nicht notwendigerweise zum Inhalt haben, dass die Leistungen von jedem beliebigen Arzt erbracht werden. Wenn durch dezentrale Versorgungsarrangements beispielsweise zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern Spezialisierungsvorteile entstehen, die gleichzeitig aber die regionalen Wahlmöglichkeiten für Versicherte reduzieren, steht dieser statischen Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten ein perspektivischer Wohlfahrtsgewinn in dynamischer Hinsicht gegenüber, falls es gelingt, durch regionale und dezentrale Modelle neue, verbesserte Versorgungsstrukturen zu befördern. Voraussetzung ist jedoch, dass der Wettbewerbsprozess zwischen den Krankenversicherungen und den Leistungserbringern durch eine einheitliche Wettbewerbsordnung bestimmt ist (vgl. Gaynor/Vogt 2000). Die Versicherungen können in einem derartigen Wettbewerb mit dem Versicherungsangebot ein bestimmtes Leistungsangebot koppeln und dadurch versuchen, ihre Aktionsparameter im Wettbewerb zwischen den Versicherungen zu erweitern. Die Frage der Implementierung einer breiten Innovationsabsicherung einerseits und einer effizienten Innovationsbewertung anderseits macht es erforderlich, die Fortentwicklung der Regelleistungsvergütung mit dem Versorgungswettbewerb zu verknüpfen. So könnte beispielsweise die Finanzierung neuer Technologien zunächst im zeitlichen Kontext gestreckt sein und Erprobungsmodelle durch die Krankenversicherungen und Leistungserbringer als standardisierte Form des Versorgungsexperiments eingebracht werden. Die Grundfinanzierung von Innovationen erfolgt dabei weiterhin in einem

246 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 163 neuen GKV-Bereich. Darüber hinaus besteht aber gerade die Möglichkeit, im Vertragswettbewerb über Wahlleistungen die Verbreitung von Innovationen anzustoßen. Dabei würden Innovationen auch zu einem gewissen Grad durch die Konsumenten teilkapitalgedeckt finanziert. Jüngere Vorschläge eines Gesundheitsriester (vgl. dazu Schneider et. al. 2008a) verdeutlichen diese Entwicklung. Die Gesundheitsversorgung wird höchstwahrscheinlich teurer werden, aber entscheidend bleibt, ob der Einzelne auch die Möglichkeit hat, selbst mitzugestalten und beispielsweise über Teilkapitaldeckung mit vorzusorgen. Die Kombination aus Wahlmöglichkeiten bei verbundener ökonomischer Haftung des Patienten verknüpft die Kosten- mit der Nutzenbewertung einer verstärkten Nachfrageorientierung, die insbesondere im Kontext knapper finanzieller Möglichkeiten im Gesundheitswesen sonst zu drastischeren Rationierungsschritten gezwungen wäre. VI.4 Das Grundproblem der Solidaritätsdefinition Ein nachfragegesteuertes Gesundheitssystem gründet zunächst auf den informierten und selbstbewussten Patienten und Versicherten, eine Idealvorstellung, die mit verbesserten Informationsangeboten, stärkeren Aufklärungspflichten und insbesondere Aktivitäten zur Erhöhung der medizinischen Qualität sicherlich befördert werden kann. Doch wäre es vermessen, die Bedeutung der Krankenversicherung im Kontext des deutschen Gesundheitssystems gerade im Hinblick auf ein nachfrage- und patientenorientiertes Gesundheitssystem zu vernachlässigen. Für den Krankenversicherungswettbewerb gilt es aus theoretischer Sicht den Grundsatz zu berücksichtigen, dass jede Krankenversicherung versuchen muss, den potenziellen Erwartungsschaden pro Versichertem durch entsprechende Risikoteilungsmaßnahmen zu lösen. Im traditionellen Versicherungsmarkt kann die Risikoteilung sowohl im Versicherungsmarkt über die Ausgestaltung der Prämie als auch im Versorgungsmarkt über die Ausgestaltung der Leistungsansprüche bzw. die Umsetzung der Leistungsansprüche

247 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 164 Reform gestaltet werden. Je mehr die erste Option homogenisiert wird, wie es durch den Gesundheitsfonds intendiert ist, desto größer wird der Druck, die Risikoteilung auf den Versorgungsmarkt zu verschieben. Diese Einschätzung wird durch die Möglichkeit eines Zusatzbeitrags, der kassenindividuelle erhoben werden kann, nicht elementar verschoben, da dieser von den Krankenkassen insbesondere dann erhoben werden muss, wenn sie mit den vom zugewiesenen Finanzierungsmitteln nicht auskommen. Darüber hinaus ist die potenzielle Höhe des Zusatzbeitrags auf maximal ein Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen eines Versicherten begrenzt. Genau diese Begrenzung lässt jedoch u. U. indirekte Risikoselektionsaktivitäten möglich werden. Hat eine Krankenversicherung einerseits pro Versichertem eine niedrige Einkommenshöhe und andererseits eine höhere Versichertenmorbidität, so steigt zunächst die Wahrscheinlichkeit, den Zusatzbeitrag erhöhen zu müssen. Somit wird unmittelbar die Frage der Leistungssteuerung, die den allgemeinen Regelleistungsanspruch konkretisiert, im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen. Auch wenn im Versicherungskontext die Wettbewerbsbedingungen zwischen Versicherten und Versicherung durch den Gesundheitsfonds eher eingeschränkt worden sind, lässt sich im Kontext des Versorgungsvertrags zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern von einer Zunahme der Wettbewerbsmöglichkeiten durch unterschiedliche Formen selektiver Vertragskonstellation ausgehen. Vor diesem Hintergrund muss auch im Bereich der GKV zunehmend von einer wettbewerblichen Situation ausgegangen werden, da in der solidarischen Wettbewerbsordnung zumindest mit der Idee des selektiven Kontrahierens der Vorstellung eines Wettbewerbs als Suchprozess um bessere Qualität und Leistungen gefolgt wird. Gerade die Krankenversicherung nutzen Integrationsverträge und Modellverträge, um sich von einander zu differenzieren. Krankenversicherungen, zumindest in Modellvorhaben und Integrationsverträgen, verhalten sich demnach wie Unternehmen, in dem sie als Agenten ihrer Versicherten eine effektive und effiziente Leistungserbringung gewährleisten sollen. Mit dieser Vorgehensweise ist jedoch kein Verstoß gegen das Solidaritätsprinzip zu konstatieren.

248 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 165 Solidarität lässt sich einerseits ethisch dadurch rechtfertigen, dass keinem Einzelnen die Mittel vorenthalten werden dürfen, die er benötigt, um seine Existenz aufrecht zu erhalten. In diesem Zusammenhang ist die medizinische Versorgung als notwendig anzusehen. Darüber hinaus beruhen arbeitsteilige Gesellschaften auch auf einer gewissen kollektiven Absicherung extremer Risiken. Die solidarische Absicherung ermöglicht dem Einzelnen die Teilnahme am modernen Leben und stabilisiert die moderne Gesellschaft und insbesondere das Marktgeschehen. 57 Eine solidarische Absicherung muss jedoch nicht zwingend nach dem Grundsatz des in Deutschland realisierten Solidarprinzips einkommensabhängige Beiträge bei beitragsunabhängigen Leistungen erfolgen (vgl. Abbildung 14). Abb. 14: Ausgestaltung des Sozialprinzips Solidarprinzip( Fokus Verteilung) Beiträge Einkommensabhängige Beiträge, beitragsunabhängige Leistungen Anreizwirkungen (weitgehend) unverändert Verteilungswirkung unklar Umlageverfahren bleibt Interventionsspirale Quelle: Eigene Darstellung Sozialstaatsprinzip Kopfprämien (einheitliche) Kopfprämie Individualprinzip (Fokus Anreize) Personenbezogene Prämien (risikoorientiert) Versicherungsgeld (Wohngeld) Kapitalrückstellung erforderlich Kein RSA Die Frage nach der Leitidee eines Gesundheitssystems setzt also an der Abgrenzung der Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips an. Auch wenn Klassifizierungen bei allen Wechselwirkungen zu berücksichti- 57 Insbesondere Homann/Pies 1996 diskutieren eine Sozialpolitik für den Markt, die versucht, gemeinsame Interessenfelder zwischen Freiheit und Sicherheit herauszuarbeiten.

249 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 166 Reform gen sind, kann gemäß Abbildung 14 die langfristige Leitidee im Gesundheitswesen unterschieden werden. Zunächst ist die Frage zu diskutieren, ob die Krankenversicherung als Marktbeziehung konstituiert werden soll, d. h. einer Anreizorientierung folgt, die auch Kapitaldeckungselemente integriert, oder wie bisher gemäß dem Solidarprinzip den Umverteilungsaspekt in den Vordergrund stellt und gemäß dem Umlageprinzip gegenwartsorientiert ist. Als zweite Frage ist zu klären, ob das Umverteilungsprinzip wie bisher Element des Versicherungsverhältnisses bleiben soll oder getrennt in das Steuersystem überführt werden soll, also Versicherungsund Umverteilungsaufgaben zunächst getrennte Regelungsbereiche sind. Hinter dieser vordergründig technisch klingenden Unterscheidung liegt aber die Systemfrage, wer mit welcher Kompetenz über den Inhalt von Subsidiarität und Solidiarität entscheiden soll. VI.4.1 Ein alternatives Versicherungssystem Ein alternatives Versicherungsmodell würde bei einer allgemeinen Versicherungspflicht für eine Regelabsicherung ansetzen, den Versicherungsaspekt vom Umverteilungsaspekt jedoch trennen. Wie die Versicherten dieser Pflicht nachkommen, ist ihren eigenen Vorstellungen zu überlassen. Eine allgemeine Versicherungspflicht lässt sich als grundsätzlicher Risikoausgleich zwischen allen Individuen eines Gesellschaftssystems interpretieren und ist vor diesem Hintergrund noch keine Umverteilung. 58 Im Gegensatz zum gegenwärtigen System muss jedoch nicht vorgeschrieben werden, wie der Versicherungsvertrag auszugestalten ist. Mit anderen Worten ist es nicht erforderlich, zwingend eine gesetzliche Krankenversicherung als Organisation vorzuhalten. Vielmehr kann dieser Markt für verschiedene Versicherungsanbieter geöffnet werden. 58 Bei Berücksichtigung einer vertragstheoretischen Interpretation, wie es beispielsweise Wagner 1998, S. 32 ff. im Sinn hat, sind Sozialversicherungssysteme, die ab Geburt für alle Bewohner eine Versicherungspflicht vorsehen, als gesellschaftliche Risikoumverteilung vor dem Schleier der Unwissenheit zu betrachten, die für alle ex ante zustimmungsfähig sind.

250 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 167 Konstitutives Element eines marktwirtschaftlichen Modells für den Versicherungsbereich ist die Möglichkeit, risikoorientierte Prämien zu erheben, d.h. die Beiträge entsprechend dem individuellen Risiko zu gestalten. Zunächst muss festgehalten werden, dass bei Gültigkeit einer allgemeinen Versicherungspflicht jeder Bürger von Geburt an der Versicherungspflicht unterliegt. Die Prämien werden sich zum Zeitpunkt der Geburt am erwarteten Schadensverlauf eines Mannes oder einer Frau orientieren, und damit wird die Risikoorientierung tendenziell am Durchschnittswert des Versicherungskollektivs angenähert. Da zu diesem Zeitpunkt außer dem biologischen Geschlecht wesentliche Merkmale, die den späteren Lebensweg beeinflussen und zugleich auch von der Person beeinflusst werden können wie etwa durch Lebensstil, Ausbildungsstand, Berufswahl u. ä., noch nicht bekannt sind, kann wie bereits mehrmals erwähnt statt von risikoäquivalenten von risikoorientierten Prämien gesprochen werden. Eine Individualisierung der Prämien tritt demzufolge erst zu einem späteren Zeitpunkt auf. Wie noch zu zeigen sein wird, stellt sich die Frage der individualisierten Risikoorientierung insbesondere beim Versicherungswechsel. Wie lässt sich ein derartiger Versicherungswettbewerb mit der Zielsetzung eines ausreichenden solidarischen Schutzes kombinieren? VI.4.2 Konzeption eines sozialen Schutzes Im Zusammenhang mit der Einführung risikoorientierter Prämien wird der Aspekt der Nichtversicherbarkeit schlechter Risiken und die Gefährdung des Solidarprinzips problematisiert. 59 Damit sind zwei Grundziele eines sozialen Krankenversicherungssystems angesprochen: Niemand soll einerseits aufgrund der Annahme einer möglichen Unterschätzung zukünftiger Bedürfnisse unversichert bleiben, und andererseits soll jeder Bürger nicht aufgrund mangelnder Kaufkraft von der Nachfrage nach Versicherungsleistungen faktisch ausgeschlossen werden. 59 Vgl. zur grundsätzlichen Diskussion und theoretischen Einordnung Neudeck/Podczeck 1996, S. 387 ff.

251 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 168 Reform Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der individuelle Anreiz zur Nutzung des opportunistischen Spielraums aus der Diskrepanz von Versicherungsprämie und dem dem Versicherungsnehmer, nicht aber der Versicherung bekannten individuellen Erwartungsschaden resultiert. Dabei ist auf die Grundfunktionen eines Versicherungswettbewerbs einzugehen. Jede Versicherung hat zunächst zum Ziel, einen ex post-ausgleich von Schadensfällen zwischen ex ante nicht unterscheidbaren Risiken, die sich während der Vertragsdauer als relativ schlechtes oder gutes Risiko herausgestellt haben, zu erreichen. Die Höhe des Versicherungsschadens resultiert dabei einerseits aus den aus einer Behandlung resultierenden Kosten. Zur Prognose derartiger Kosten werden Risikoprofile gebildet, die grundsätzlich einen mit dem Lebensalter ansteigenden Verlauf aufweisen. Unter den Bedingungen dieser risikoorientierten Prämiensetzung wird jedem Versicherungsnehmer für die Versicherungsperiode soviel an Prämie abverlangt, wie er wahrscheinlich innerhalb dieser Versicherungsperiode an Leistungen in Anspruch nehmen wird. In dieser Hinsicht sind allokativ keine Anreize zur Risikoselektion zu erwarten, daher wäre ein Risikostrukturausgleich (RSA) nicht notwendig. Von der vorangehenden Argumentationsfolge ist jedoch das distributive Problem zu trennen. Die Krankenversicherungen sind im Modell eines liberalen Gesundheitswesens nicht mit Umverteilungsaufgaben belastet. Umverteilung ist in diesem Sinne klassisch dem staatlichen Bereich, d. h. dem Steuer- und Transfersystem, zuzuordnen. Gleichwohl bedarf es zur ordnungspolitischen Stabilität eines entsprechenden Rechtsinstituts, das die solidarische Absicherung auch glaubhaft vermittelt. Ein Vorschlag dazu ist das Versicherungsgeld. 60 Soweit die risikoorientierte Prämie einen zu definierenden Eigenanteil übersteigt, hat jeder Versicherte Anspruch auf die Zahlung eines Versicherungsgeldes. Ihm wird die Differenz von zumutbarem Eigenanteil und durchschnittlicher risikoorientierter Prämie bis zur Höhe einer Kappungsgrenze erstattet. Das Versicherungsgeld dient dazu, die Überforderung der individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit durch die geforderten risikoorien- 60 Vgl. Oberender 1996, S. 95 f.; vgl. auch Ruckdäschel 2000, S. 181 ff.

252 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 169 tierten Prämien zu vermeiden. Zur Operationalisierung dieser Überforderung muss einerseits der anspruchberechtigte Personenkreis, andererseits der Umfang der abgesicherten Regelversorgung definiert werden. Dazu ist, auch aufgrund des Fehlens objektiver wissenschaftlicher Kriterien, eine normative, d. h. eine politische Entscheidung zu treffen. 61 Rationierungskriterien wie etwa die Vorhersehbarkeit einer Erkrankung oder die Definition von so genannten Großrisiken sind einem rationalen Diskurs zuzuführen. Ordnungspolitisch muss jedoch der Grundsatz gelten, dass eine Rationierungsentscheidung vom konkreten Krankheitsfall fernzuhalten und auf möglichst allgemeingültige Weise auf der Makroebene anzusiedeln ist (indirekte Rationierung). Bei der sozialen Absicherung durch ein Versicherungsgeldmodell dürfen die Vorteile einer risikoorientierten Beitragssatzfinanzierung jedoch nicht durch die Ausgestaltung des Versicherungsgeldes ausgehebelt werden. Der Ausgleichsanspruch muss daher so bemessen sein, dass keine Externalisierung höherer Versicherungsprämien auf die Solidargemeinschaft möglich ist. Würde der gesamte Überschussbeitrag durch ein Transfersystem ausgeglichen, so wäre die durch die risikoorientierten Prämien gewonnene Preissensitivität wiederum aufgehoben. 62 Als adäquater Ansatzpunkt können Erstattungsbeiträge festgelegt werden, die sich am durchschnittlichen Versicherungsrisiko festmachen lassen. Um gerade die ökonomisch schwachen Menschen zu unterstützen und bei den anderen die Eigenverantwortlichkeit zu erhöhen, sind Bezieher niedriger Einkommen stärker zu unterstützen als Personen mit höheren Einkommen. Aus diesem Grund würde sich ein degressiver Tarif anbieten, d. h. mit steigendem Einkommen sinkt der Subventionssatz. 61 Grundsätzlich ist hierbei die Definition eines Grundleistungskatalogs impliziert, der Grundlage für die Konstruktion eines Versicherungsgeldmodells sein muss. 62 Eine ähnliche Kritik äußern Wasem et. al. 2003, S. 30 f. am Züricher Modell. Insbesondere verweisen sie darauf, dass in der Versorgungsrealität die Fälle chronischer Erkrankungen in diese Kategorien eingeordnet werden dürften.

253 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 170 VI.4.3 Zur nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitswesens Reform Als Kernelemente des Versichertenmodells lassen sich der Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren durch risikoorientierte Prämien mit individueller Altersrückstellung sowie die Einführung eines Versichertengeldes, das den Solidarausgleich gewährt, 63 kennzeichnen. Da die Versicherungsprämie grundsätzlich mit dem Alter ansteigt, dienen die Altersrückstellungen der Prämienglättung über den Lebenszyklus hinweg. Die Rückstellungen werden im Alter aufgelöst, um die anfallenden höheren Gesundheitsausgaben finanzieren zu können. Bei dieser Form der Kapitaldeckung handelt es sich um eine kohortenspezifische Kapitaldeckung innerhalb des Krankenversicherungssystems, da alle Versicherten einer Alterskohorte über den Risikopool der Versicherung Kapital ansparen. Intergenerative Transfers treten dabei grundsätzlich nicht auf. Eine Glättung der Prämienbelastung findet über den Lebenszyklus nur für die einzelnen Kohorten statt. Im Grundsatz entspricht dieses Vorgehen dem gegenwärtigen PKV-System. Gedanklich könnte man eine PKV- Prämie deshalb aufteilen in einen Umlageanteil und einen Sparanteil beziehungsweise die Versicherung aufteilen in eine umlagefinanzierte Krankenkasse und eine, bezogen auf eine Alterskohorte, kapitalgedeckte Versicherung gegen Beitragssteigerungen (SVR 2004, S. 522). Die Vorgehensweise bei der Prämienberechnung erfordert eine Anpassung der Alterungsrückstellungen, wenn sich das Ausgabenprofil für den Durchschnitt der Versicherten einer Kohorte verändert. Solche kollektiven Änderungsrisiken ergeben sich zum Beispiel aus einer Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung und auch durch die Auswirkungen des medizinisch-technischen Fortschritts. Neben den kollektiven Änderungsrisiken bestehen allerdings auch individuelle Änderungsrisiken, die darin liegen können, dass die erwartete Ausgabenentwicklung für ein Individuum vom Durchschnitt seiner Alterskohorte abweicht, wenn zum Beispiel bei einem Versicherten eine chronische Krankheit auftritt (vgl. Abschnitt 63 Ähnlich vgl. Zweifel/Breuer 2002; Oberender/Zerth 2003.

254 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 171 III.1.1.). Die individuellen Änderungsrisiken stellen für das Versicherungsunternehmen grundsätzlich kein zentrales Problem dar, da es zum Wesen der Krankenversicherung zählt, unkalkulierbare Einzelrisiken durch das Poolen vieler ähnlicher Fälle in ein kalkulierbares Risiko umzuwandeln (vgl. Kortendieck 1993, S. 192). Sie stellen aber eine hohe Hürde dar mit Blick auf einen angestrebten Versicherungswechsel, der unbedingt ermöglicht werden muss, wenn man einen stärkeren Wettbewerb auf dem Versicherungsmarkt als bisher anstrebt. Um Wettbewerb zu ermöglichen, ist es erforderlich, für die Versicherten individuelle prospektive Altersrückstellungen zu kalkulieren, die ihnen bei einem Wechsel der Versicherung mitgegeben werden und die eine Risikoselektion verhindern. Solche individuellen prospektiven Altersrückstellungen sind genau dann richtig bemessen, wenn diese der Differenz zwischen dem Barwert der Versicherungsleistungen und dem Barwert der erwarteten Prämienzahlung entsprechen, da dann ein potenzieller Wechsler keine höheren oder niedrigeren Rückstellungen in das aufnehmende Versicherungsunternehmen mitbringt, als für die Deckung seines Versicherungsrisikos erforderlich sind. Damit ein solches Versichertenmodell (Oberender et al. 2006) funktioniert, ist es erforderlich, entweder die Alterungsrückstellungen zu individualisieren oder letztlich zumindest die durchschnittlichen Alterungsrückstellungen mitzugeben und die dann aber bestehende Gefahr der Risikoselektion durch einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zu unterbinden. Dieser hätte allerdings wenig mit dem gegenwärtigen Risikostrukturausgleich in der GKV gemein, da der bisher dominierende Einkommensausgleich entfallen könnte. Mit der Einführung eines so genannten Basistarifs mit portablen durchschnittlichen Alterungsrückstellungen hat die private Krankenversicherung aktuell einen ersten Schritt unternommen, um den privat Krankenversicherten Wechseloptionen zu ermöglichen.

255 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 172 VI.5 Zusammenfassung: Die Frage nach der nachhaltigen Leitidee Reform Die bisherige Analyse hat verschiedene Leitideen für die langfristige Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems markiert. Damit sind aber drei entscheidende Fragestellungen noch ausgeblendet worden. Erstens muss problematisiert werden, welchen Anreiz die betroffenen Akteure Patienten, Leistungserbringer, Politiker, Kostenträger haben sollen, einen langfristigen Reformvorschlag auch durchzusetzen. Die Neue Politische Ökonomie kann hierzu einige Ansatzpunkte liefern. Zweitens muss im Rahmen einer normativen Theorie der Weg vom Status quo zum Reformmodell beschrieben werden. Dabei ist sowohl auf das Timing (den Zeitpunkt) und das Sequenzing (den Umsetzungsprozess) der Reformschritte einzugehen als auch die Frage zu problematisieren, wie mögliche Umverteilungslasten möglichst belastungsneutral auf gesamtwirtschaftlicher Ebene angesetzt werden können. 64 Drittens sind die Auswirkungen der verschiedenen Reformkonzepte auf die Ausgestaltung und Organisation der Leistungsgestaltung bislang unberücksichtigt geblieben. Insbesondere bei der Einführung risikoorientierter Prämien werden sich die Bedingungen im Vertragsgeschäft zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern zwangsläufig zu dezentralen Vertrags- und Organisationsprozessen hin entwickeln. Eine Auseinandersetzung mit den Veränderungen des Leistungsprozesses soll aber explizit im folgenden Kapitel erfolgen. Alle aufgezeigten Problemfelder haben verschiedenartige Rückwirkungen auf die Individuen, die am Gesundheitswesen beteiligt sind. 64 Eine Aufarbeitung der Transformationsproblematik findet sich grundsätzlich bei Herrmann-Pillath Vgl. auch Oberender/Fleischmann/Reiß Im vorliegenden Fall werden die Implikationen der Transformation von Wirtschaftssystemen auf den Umbau von Sicherungssystemen übertragen, was jedoch nur mit Einschränkungen möglich sein kann.

256 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Reform 173 Sie haben sich in Lern- und Erfahrungsprozessen auf die bestehenden Strukturen eingestellt und können mit ihnen umgehen. Diese in Lern- und Erfahrungsprozessen erworbenen Fähigkeiten sie können als eine Art spezifische Investition angesehen werden, die nur im aktuell bestehenden Gesundheitswesen sinnvoll ist und ihren Nutzen entfalten kann werden aber bedeutungslos, wenn ein vollständig andersartiges System implementiert wird. Aus diesem Grund werden viele Beteiligte sowohl Patienten und Anbieter als auch Verbandsvertreter und Politiker durch eine solche Reform ihre persönliche Einkommens- und Nutzenposition erheblich bedroht sehen. Sie werden daher versuchen, eine solche Reform nach besten Kräften zu blockieren und werden ihr jeden möglichen Widerstand entgegensetzen. Der politische Prozess bietet vielfältige Wirkungskanäle, um einen solchen Willen zum Verharren im Status quo zu befördern. Die Implementierung einer grundlegenden Reform erfordert ein erhebliches Maß an Mut und Durchsetzungskraft auf Seiten der Politik Faktoren, die in der Regel nicht gegeben sein dürften, bedenkt man die Interessenlage der Politiker (Wählerstimmenmarkt). Aus diesem Grund ist es kaum wahrscheinlich, dass ein solches Vorhaben unter "normalen" Umständen umgesetzt werden wird (eine Ausnahme wäre eine besondere Krisensituation, die zu drastischem Handeln zwingt). Eine graduale Herangehensweise vermeidet hingegen prohibitiv hohe Anpassungslasten. In kleinen Schritten können Reformelemente im Sinne einer Stückwerkssozialtechnik ausprobiert werden (vgl. hierzu Popper 1975, S. 213 f.). Korrekturen bei offenkundigen Fehlentwicklungen sind dann leichter möglich als im Falle der Schocktherapie. Somit dürfte es wesentlich leichter sein, politische Zustimmung zu solchen schrittweisen Weiterentwicklungen des Gesundheitswesens zu erreichen (wenngleich es weiterhin prinzipielle Reformgegner geben wird). Nur darf eines nicht vergessen werden: Insbesondere die grundlegende Reform im Sinne des liberalen Versichertenmodells wirkt im Prinzip nur dann, wenn alle Elemente in ihrer Gesamtheit implementiert werden. Setzt man hingegen nur einzelne Bestandteile um, führt also nur partiell marktwirtschaftliche

257 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 174 Reform Steuerungselemente ins Gesundheitswesen ein, so löst dies systeminhärente Spannungszustände zwischen marktwirtschaftlichen und nicht-marktwirtschaftlichen Bestandteilen des Gesundheitswesens aus. Daraus resultierende Fehlentwicklungen werden aber häufig von Reformgegnern in (bewusster) Verkennung der Gesamtzusammenhänge den marktwirtschaftlichen Systemelementen einseitig angelastet. Es ist dann häufig ein Leichtes, politische Stimmungen gegen eine Marktwirtschaft im Gesundheitswesen zu erzeugen. Ein weiterer Faktor spielt Reformgegnern dabei in die Hände: Kleine Schritte lassen sich leichter wieder rückgängig machen als der große Schnitt, den eine Schocktherapie bedeuten würde. Zudem erlahmt nach einiger Zeit der Reformbemühungen häufig der Reformwille von Regierungen (Wählerstimmenmarkt). Einzelne Maßnahmen werden dann zwar eingeführt, mit der Zeit wird aber das Gesamtkonzept verwässert und bleibt schließlich ganz auf der Strecke. Die gradualistische Strategie beinhaltet damit zwar grundsätzlich geringere Anpassungslasten, erkauft wird dies jedoch mit der Gefahr, dass das Gesamtkonzept am Ende aus den Augen verloren wird und die Reform bei Einzelschritten stehen bleibt. Auch eine solche Strategie ist nur dann durchsetzbar, wenn eine hohe Langfristorientierung der Politik gegeben ist.

258 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Wachstumbranche 175 VII Wachstumsbranche Gesundheit: Perspektive und einzelwirtschaftlicher Ausblick VII.1 Langfristige Perspektive: Ein nachfragegesteuertes Gesundheitswesen VII.1.1 Veränderung der Versorgungsstrukturen Im Gesundheitswesen lässt sich der Dreiklang, Produkt-, Prozessund Organisationsinnovation mit Hinblick auf das Bild der Patientenkarriere als die Wertschöpfungskette im Gesundheitswesen darstellen (vgl. Weimann, 2003). Diesbezüglich gilt es festzuhalten, dass in allen nationalen Gesundheitssystemen die Ausgestaltung einer ökonomisch nachhaltigen Integrationsstrategie an Bedeutung zunimmt, deren Ziel es ist, innerhalb des medizinischen Wertschöpfungsprozesses mögliche Ansatzpunkte für Kosten- und Differenzierungsvorteile im Leistungsspektrum zu identifizieren. Damit verbunden ist die Entwicklung in der Gesundheitsversorgung, die von der ursprünglich rein kurativen Vorgehensweise zunehmend den Patienten und damit den Versorgungsprozess verinnerlicht. Diese Prozessorientierung knüpft an der Veränderung der Struktur der Medizinproduktion an. So gilt es infolge des Bedeutungsgewinns chronischer Erkrankungen, den Patientenfluss und nicht mehr die isolierte kurative Behandlungsebene in den Mittelpunkt zu stellen. Die überkommene sektorale Struktur ambulant vs. stationär war geeignet, solange es vornehmlich um die kapazitätsabhängige Heilung ging, Aspekte der Gesundheitsgeschichte und der Patientenkarriere noch keine große Bedeutung einnahmen (vgl. Abbildung 15).

259 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 176 Abb. 15: Nachfrageorientiertes Gesundheitswesen Veränderung des Nachfrage Angebotstableaus Sektorale Struktur Heilung Quelle: Eigene Darstellung Disease Management Compliance Wachstumsbranche Prozessorientierte Versorgung Gesunderhaltung Substitution stationär/ambulant Nachfrageorientiertes Gesundheitsversorgung als Fokussierungstrend Insbesondere mit dem Einzug der digitalen Technik im Gesundheitswesen ist aber ein deutlicher Veränderungsprozess spürbar, der sowohl angebots- als auch nachfrageseitig wirkt. Somit geraten auch die immanenten Entwicklungsprozesse im Gesundheitsmarkt zu einer verstärkten Industrialisierung der Gesundheitsversorgung, was im Sinne einer Spezialisierungs- und Konzentrationsentwicklung der Gesundheitskapazitäten vorteilhaft sein kann, wenn die institutionellen Rahmenbedingungen die notwendigen Anpassungsflexibilitäten der Beteiligten zulassen. Die Medizinproduktion orientiert sich demnach an einer stärkeren Gesundheitserhaltung des Patienten im Gegensatz zur reinen Kuration. Darüber hinaus ist mit der Zunahme der technischen Möglichkeiten und in Kombination mit der bereits erwähnten zunehmenden Zahlungsbereitschaft für Gesundheitsleistungen der Innovationsdruck für alle Gesundheitssysteme gestiegen. Die gesundheitspo- Zeit

260 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Wachstumbranche 177 litische Herausforderung lautet daher vor allem, wie die Gesundheitssysteme in der Lage sind, mit der dieser Entwicklung zu Recht zu kommen. Angenommen eine Innovation in die Struktur der medizinischen Leistungserstellung wird eingeführt (Prozessinnovation) und mit der Erwartung in der Zukunft die Kosten der Leistungserstellung zu reduzieren verknüpft, so kann aus Sicht der Leistungserbringer ein Selektivvertrag interessant sein, solange der Soll-Deckungsbeitrag größer oder gleich dem Ist-Deckungsbeitrag ist, den die Leistungserbringer ansetzen können. Dies kann beispielsweise vorliegen, wenn die Investition Größenvorteile erwarten lässt, die entweder fallende Durchschnittskosten mit höherer Fallzahl induziert (Economies of Scale) oder Kostenvorteile durch Verbundlösungen (Economies of Scope), d. h. die Leistungserstellung einer gegebenen Fallzahl ist durch einen Anbieter günstiger als durch zwei oder mehrere, zur Folge hat. Insbesondere gilt dies bei Zusammenfassung gleichartiger standardisierter Leistungskomplexe, wie sie etwa im chirurgischen Kontext auftreten (vgl. etwa Lynk 1995) oder in Folge einer Patientenselektion die durchschnittlichen Kosten nicht vom durchschnittlich erwarteten Sollkostenwert abweichen (vgl. etwa Shelton Brown 2006). Der Leistungserbringer wird somit ein Interesse an einer Kostensenkung bei gleichbleibendem Ertrag und/oder an einer Erhöhung der Vergütung bei gleicher Kostenstruktur haben. Somit lässt sich festhalten, dass im Selektivvertrag das Interesse an Prozessinnovationen ceteris paribus höher sein dürfte als für Produktinnovationen, zumindest dann, wenn die Amortisationsperiode eher kurz ist. Wie beispielsweise Rebscher hinweist, ist bei vielen relevanten Versorgungsinhalten die Preisreagibilität, gemessen im Versicherungspreis, gering (vgl. Rebscher 2010, S. 40). Somit ist ein Zusammenhang zwischen Versorgungsangeboten und Prämie desto schwieriger, je mehr die Krankenversicherungsanbieter einheitliche und standardisierte Leistungen anbieten müssen (vgl. Breyer et. al.

261 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 178 Wachstumsbranche 2005, S. 516). Demnach wird durch die Einführung einer Krankenversicherung die Zahlungsbereitschaft für medizinische Leistungen erhöht und dies u. U. auch eine Verzerrung zugunsten der Produktinnovationen mit sich bringen. Gesundheitsökonomisch lässt sich somit konstatieren, dass Produktinnovationen eher nachfrageseitig über den Moral-Hazard-Effekt und über angebotsinduzierte Nachfrage befördert werden. Prozessinnovationen sind dagegen im Selektivvertrag im Vorteil, wenn infolge fehlender Risikoteilungsmechanismen und insbesondere bei gegebenem Budget die Kostenminimierungsstrategien dominieren. Somit lässt sich bereits festhalten, dass Prozessinnovationen, d. h. die Organisation der Leistungsdurchführung ein größeres Potenzial für die Umsetzung derartiger Kosteneffekte erhoffen lassen, als es beispielsweise Produktinnovationen sind. Die Diffusion einer Innovation ist daher unmittelbar mit der Steuerungslogik der Gesundheitsversorgung verknüpft und hängt insbesondere davon ab, wie die Risikoverteilung zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Patient ausgestaltet ist. VII.1.2 Die Problematik der Nutzenbewertung Die konsequente Neuordnung des Gesundheitswesens in der zuvor beschriebenen Form eröffnet neue Perspektiven für alle Beteiligten. Stärker als bisher wird sich das Geschehen auf den verschiedenen Teilmärkten an den Präferenzen der Konsumenten ausrichten. Die Anbieter von Gesundheitsleistungen werden stärker aktiv agieren müssen. Grundlage einer stärkeren Nachfrageorientierung des Gesundheitswesens ist die Bewertung der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Leistungen bei zunehmender Knappheit der Ressourcen. Die Erfolgsbewertung von Gesundheitsleistungen innerhalb des Gesundheitswesens wird gegenwärtig von der Akutmedizin dominierend problematisiert. Vor allem die wachsenden chronischen Erkrankungen machen eine stärkere Berücksichtigung patientenbezogener Elemente der Krankheitsbilder notwendig. Das methodische Problem von Behandlungsergebnissen oder des Outcomes besteht in der Aggregation objektiver und subjektiver Indikatoren. Davon zu

262 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Wachstumbranche 179 trennen ist jedoch die Bewertung eines derartigen Behandlungsergebnisses. Aus gesundheitspolitischer Perspektive ergeben sich nun zwei Fragestellungen: Wenn der Nutzen für den Patienten nicht nachweisbar ist, beispielsweise über Methoden der Lebensqualitätsforschung, eine Wirksamkeit einer medizinischen Innovation aber vorhanden ist, so liegt grundsätzlich eine problematische Situation vor. Bei vielen Medikamenten beispielsweise, die schon länger eingeführt sind, würde eine nachträgliche Nutzenbewertung zu einer unethisch empfundenen Situation führen, wenn das Medikament vorab schon verabreicht wurde und nach Nutzenbewertung nicht mehr erstattet würde. Darüber hinaus muss auch berücksichtigt werden, dass die Nutzenkategorie selbst wieder höchst subjektive Elemente beinhaltet (beispielsweise Placeboeffekt) und so einer zentralen Bewertung mit Bezugnahme auf künftige Nutzenbewertungen nicht eindeutig zugeführt werden kann. Wenn jedoch Nutzenaspekte für ein Arzneimittel konstatiert werden können, aber keine Wirksamkeit vorliegt bzw. eine Wirksamkeit mit bisherigen Verfahren nicht gemessen werden kann, stellt sich die Frage, ob eine Erstattung per se ausgeschlossen werden kann. Damit ist aber unmittelbar die Entscheidungsfindung und die Entscheidungszuordnung über den Nutzen von Arzneimitteln angesprochen, was sich von der ordnungspolitischen Gestaltung des Gesundheitswesens nicht trennen lässt. Da letztendlich jede wirksame Maßnahme, d. h. auch jedes wirksame Medikament, nicht nur die erwünschten Wirkungen hat, ist es aus Sicht der Patienten rational, eine Analyse des Wertes der medizinischen Maßnahme mit den Kosten vorzunehmen (vgl. Porzsolt/Druckrey 1996, S. 9-22). Die Problemstellung liegt nun darin, ob sich für die gesellschaftliche Ebene eine eindeutige Lösung der Nutzenbewertung zuordnen lässt. Da jedoch nicht für alle Indikationen eindeutige empirische Evidenz vorliegt und darüber hinaus nicht eindeutig Spontanverläufe oder Placeboeffekte bestimmt werden können, ist die Frage der Nutzenbewertung unmittelbar mit der Zuordnung der Nutzenbewertung verknüpft: Wer entscheidet nach welchen Kriterien was für die Ge-

263 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 180 Wachstumsbranche sellschaft (die GKV) ein nutzbringendes Diagnose- oder ein nutzbringendes Therapieverfahren ist? Ein gängiger Ansatzpunkt der Nutzenbewertung liegt in der Messung der Lebensqualität. Soll die Lebensqualität als Outcomeparameter für den Nutzen des Patienten stehen, so muss neben der Messbarkeit auch noch die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sichergestellt worden sein. So lassen sich folgende Ansatzpunkte unterscheiden (vgl. grundsätzlich dazu Wörz/Perleth et al. 2002): Die reine Messung von Lebensqualität kann im ökonomischen Kontext nicht überzeugen. Vielmehr muss die Lebensqualität als Surrogat für ein Hauptzielkriterium Nutzen als rationales Entscheidungsproblem zwischen verschiedenen medizinischen Leistungen bzw. zwischen verschiedenen Arzneimitteln dienen. Ein Entscheidungstableau medizinischer Maßnahmen bzw. entsprechender Arzneimittel ließe sich grundsätzlich wie folgt skizzieren: Tab. 5: Nutzenperspektiven und gesellschaftliche Bewertung Verlängert Leben oder erhöhte Lebensqualität Lindert bestehende Symptome oder verhindert drohende Krankheiten Aussage zum gesellschaftlichen Nutzen möglich/kostenerstattung sinnvoll Alternative I Alternative II Alternative III nachgewiesen nicht nachgewiesen nicht nachgewiesen nachgewiesen nachgewiesen nicht nachgewiesen ja unter Einschränkung Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Porzsolt/Duckrey nein Eine Nutzenbewertung durch eine zentrale institutionelle Lösung muss sich der Frage stellen, nach welchen Kriterien eine einheitlich geltende Nutzen- und auch Kostenbewertung vorgenommen werden soll. Bei der Festlegung der Prüfmerkmale ist darauf hinzuweisen, dass in der internationalen Qualitätsforschung damit in erster Linie

264 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Wachstumbranche 181 clinical performance gemeint ist. Jedoch ist eine theoretisch schnelle Erreichbarkeit und Machbarkeit einzelner klinischer Messgrößen nicht einfach auf das Gesamtsystem zu übertragen (vgl. Geraedts/Selbmann/Ollenschläger 2002). Dieser Einwand kann auch auf eine zentrale Nutzenbewertung übertragen werden. Einerseits kann der Effekt eintreten, dass nur die gemessenen Aspekte der Versorgung bei der offiziellen Betrachtung beachtet werden und unter Umständen weitergehende Aspekte, insbesondere im Hinblick auf subjektive Aspekte der Lebensqualität bei vielen chronischen Erkrankungen unberücksichtigt bleiben. Andererseits ist es nicht auszuschließen, dass diagnostische oder therapeutische Maßnahmen voreilig ausgeschlossen werden, obwohl der methodische Standard der Qualitätsbeurteilung fälschlicherweise auf ein zumindest nicht besseres Ergebnis als eine vergleichbare Therapie hingewiesen hat. Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass in Evaluationsstudien objektivierbare, also zählbare, messbare Größen immer ein stärkeres Gewicht haben werden als nichtmessbare und nicht zählbare, d. h. intangible Größen. Das bedeutet aber auch eine systematische Minderschätzung weicher Aspekte. Positive und negative Wirkungen einer Diagnose und Therapie sind oft nur im Zeitraum von Jahren feststellbar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch eine leitliniengestützte Pharmakotherapie von der Mitwirkung des Patienten abhängig ist. Bei chronischen Erkrankungen gibt es häufig nicht die ursächlich wirkenden Arzneimittel, aber durchaus unterschiedliche Paradigmen der Patientenversorgung, die insbesondere die Phänomene der Compliance oder auch des Placeboeffekts berücksichtigen. Die Beurteilung des Nutzens eines Arzneimittels durch ein Expertengremium hat neben der erwähnten Subjektivität des Nutzens noch die Problematik der daraus resultierenden Problematik der Grenzziehung zwischen noch nutzbringenden oder nicht mehr nutzbringenden Arzneimittel. Hier lassen sich trotz der Forderung der evidenzbasierten Medizin normative Werturteile der Beurteilenden nicht ausblenden.

265 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 182 Wachstumsbranche Die Beurteilung der Wirksamkeit und des klinischen Nutzens eines Arzneimittels ist demzufolge nicht ohne weiteres möglich (vgl. Langheim/Kern/Beske 1999). Es wäre eine entsprechende Versorgungsforschung notwendig, die aber gegenwärtig nur sehr rudimentär vorhanden ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die ordnungspolitische Frage, ob eine zentrale Nutzenbewertung in Anbetracht der eingeschränkten Zielkonformität ein verhältnismäßiges Instrument in Hinblick auf die ordnungspolitischen Konsequenzen einer derartigen Regulierung ist. Wenn es jedoch infolge unterschiedlicher Paradigmen zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln im Speziellen und medizinischen Innovationen im Allgemeinen keine eindeutige wissenschaftliche Festlegung eines Nutzenprofils gibt, ohne die Gefahr ausschließen zu können, alternative Heilverfahren zu diskriminieren, bleibt letztlich nur die marktwirtschaftliche Lösung des Wettbewerbs als Such- und Entdeckungsverfahren. Folglich ist damit die Nutzenbewertung ein Element des Versorgungsprozesses zwischen Arzt und Patient. Es ist somit sinnvoll, die Nutzenbewertung und damit verbunden die Erstattungsfähigkeit auf der Mikroebene zwischen Leistungserbringer, Arzt und Kostenträger anzusiedeln, wohingegen über die Zulassung von Arzneimitteln beispielsweise bezüglich Unbedenklichkeit und Wirksamkeit weiterhin der Gesetzgeber entscheiden müsste. Es müssen im Rahmen der Patientenbetreuung Anreize für die Leistungserbringer vorhanden sein, ihre Patienten mit möglichst geringem Mitteleinsatz zu kurieren und sie gesund zu halten (vgl. Oberender 2000, S. 273 ff.). Erfolgsversprechende Lösungsansätze bilden in diesem Zusammenhang integrierte Versorgungssysteme, in der die Behandlung eines Patienten mit einer vorher ausgehandelten Komplexpauschale vergütet wird, die für alle in Anspruch genommenen Leistungen gilt. Welche medizinische Innovation dann als nutzbringend angesehen werden, bleibt der Entscheidung im Arzt- Patienten-Verhältnis zugeordnet.

266 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Wachstumbranche VII.2 Sozioökonomie der Gesundheitswirtschaft Unabhängig von der Diskussion wie viel Marktsteuerungselemente im Gesundheitswesen langfristig umgesetzt werden sollen, lässt sich bereits festhalten, dass die volkswirtschaftliche Bedeutung des Gesundheitswesens in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Einen guten Eindruck von der gegenwärtigen Bedeutung des Gesundheitsmarktes und den herrschenden Angebotsstrukturen vermitteln in diesem bedeutenden Sektor unserer Volkswirtschaft die Anzahl der Beschäftigten und auch der Anteil der Gesundheitsausga- am Brutto- ben am Bruttoinlandsprodukt. Der Anteil dieses Bereichs inlandsprodukt lag 2007 in Deutschland bei 10,4 % (vgl. Abbildung 16) ). Abb. 16: Gesundheitsausgaben als Anteil am BIP im Jahr ,4 11 8,9 9,1 10,8 8,4 Quelle: eigene Darstellung in Anlehung an WHO, 15,7 6,1 Dies bedeutet auch, dass einee große Zahl von Menschen ihr Ein- des Jahres kommen aus diesem Wirtschaftszweig bezieht. Zu Beginnn 2009 übten etwa 4,6 Mio. Menschen Berufe im Gesundheitswesen (Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Krankenschwestern, übrige Gesundheitsberufe und soziale Berufe) aus (vgl. Statistisches Bundesamt 183

267 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 184 Wachstumsbranche 2009). Es erscheint deshalb zweckmäßig, von der Gesundheitswirtschaft zu sprechen. Der Bedeutungszuwachs der Gesundheitswirtschaft ist ohne die Veränderungen der grundlegenden Rahmenbedingungen nicht abzubilden. Die öffentliche Diskussion ist aber hauptsächlich durch die Begriffe Kostenexplosion und Beitragssatzstabilität geprägt. Trotz einer kontinuierlichen Anhebung der Beitragssätze und der Beitragsbemessungsgrenzen werden immer mehr Mittel notwendig, um die Ausgaben der Sozialversicherungssysteme, speziell der GKV, zu finanzieren. Dabei ist dieses Ausgabenwachstum durchaus ambivalent zu betrachten. Eine Veränderung der Ausgabenanteile für bestimmte Güter und Dienstleistungen ist innerhalb einer Volkswirtschaft zunächst Ausdruck eines normalen Strukturwandels. Güter mit einer hohen Einkommenselastizität erlangen dabei eine zunehmende Bedeutung (vgl. dazu u. a. Oberender/Fibelkorn 1997, S. 15 f.; zum Ansatz der Einkommenselastizität vgl. Fehl/Oberender 2004, S. 334). Das Problem der Kostenfalle im Gesundheitswesen entsteht erst durch die Koppelung der Beiträge an die Lohnkosten, was unter Berücksichtigung einer gering steigenden Produktivität die negativen Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit mit sich bringt. Der Gesundheitsmarkt im Status quo lässt sich anhand einer Zwiebel gut charakterisieren (vgl. Abbildung 17). Während der GKV- Markt, der gegenwärtig über 50 % des Gesamtmarktes ausmacht, mit einem de facto Nullwachstum auskommen muss, lassen sich für den Markt der Zuwahlleistungen oder im freien Gesundheitsmarkt, bei entsprechend weiter Interpretation des Gesundheitsbegriffes, deutliche Steigerungsraten konstatieren. 65 An dieser Stelle wird insbesondere die Bedeutung des demographischen Prozesses in Kombination mit dem medizinisch-technischen Fortschritt deutlich. Dieser sorgt für ein Nachfragepotenzial, das in den nächsten Jahren deutlich ansteigen wird, d. h. die äußere Zwiebel wächst im Grundsatz überproportional. 65 Die Entwicklung im Bereich Wellness oder Anti-aging kann hier Pate stehen.

268 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Wachstumbranche 185 Abb. 17: Wachstumsmarkt Gesundheit in Deutschland 2009 Freier Gesundheitsmarkt Mrd. 8-10% p.a. GKV ca. 170,8 Mrd. (2009) 0,64 % 0,64 % Medizinisch sinnvoll Machbares 1,0 1,2 Bill. = ca % des BSP 8-10% p.a. Friedensgrenze BSP: 2,4 Bill. Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage des Statistischen Bundesamtes, Das Gesundheitswesen ist in diesem Zusammenhang einem doppelten Anpassungsdruck ausgesetzt: Einerseits deuten alle sozioökonomischen Faktoren auf eine wachsende Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen hin, auf der anderen Seite behindern strukturelle Probleme eine tragfähige Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Dies hat aber wiederum unmittelbare Rückwirkungen auf die Anforderungen, denen Entscheider im Gesundheitswesen ausgesetzt sind. VII.3 Nachfrageentwicklung Bei einer genaueren Betrachtung der Nachfragepotenziale wird deutlich, dass vor allem der Gesundheitsbereich von den Herausforde-

269 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 186 Wachstumsbranche rungen der demographischen Entwicklung und des medizintechnischen Fortschritts profitieren kann. Diese Entwicklung wird erhebliche Einflüsse auf die Entwicklung der Krankenversicherung haben. Mit zunehmender Lebenserwartung ist mit einem Anstieg der Leistungsausgaben zu rechnen, unabhängig davon, ob nun die Aussagen der Medikalisierungs- oder Morbiditätskompressionsthese gelten. Mit dem medizinisch-technischen Fortschritt ist zugleich auch das Wissen breiter Bevölkerungsschichten über Krankheiten und gesundheitsbewusste Faktoren angestiegen. Auch diese Entwicklung kann nachfragesteigernd wirken. Innerhalb der Bevölkerung werden die Gruppe der Senioren zukünftig an Bedeutung gewinnen. Dabei entfaltet zum einen die quantitative Dimension Relevanz, wie sie sich in der Entwicklung des Altenquotienten und dem Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung abgezeichnet hat. Mit der steigenden Krankheitsanfälligkeit im Alter verbindet sich ein zunehmender Bedarf an Gesundheitsleistungen, vor allem im Bereich der stationären Versorgung und der Pflege Mit dieser demographisch induzierten Nachfrageausweitung geht zum anderen ein qualitativer Wandel der Nachfragestruktur einher, welcher nicht nur einen steigenden Qualitätsanspruch an die klassischen Gesundheits- und Pflegeleistungen mit sich bringt und zudem durch die Kaufkraft der Senioren alimentiert wird. Ein Wertewandel in Form, Aktivität und Vitalität auch im Alter zu erhalten, eröffnet weiter ein Marktsegment für alle diejenigen Produkte und Leistungen, welche über die klassische Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit hinaus die Steigerung der individuellen Lebensqualität zum Ziel haben. Hier liegen besondere Chancen für Wellnessseinrichtungen, Bäder, Kurorte und die Tourismusbranche. Um Aussagen über die künftige Entwicklung auf der Angebotsseite des Gesundheitsmarktes machen zu können, ist zunächst eine Analyse des vermutlichen Nachfragepotenzials erforderlich. Das Nachfragepotenzial setzt sich im Wesentlichen aus drei Gruppen von Kostenträgern zusammen:

270 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Wachstumbranche 187 Werden Leistungen bezogen, die dem Regelleistungskatalog der GKV angehören, übernimmt die GKV die Rolle des Kostenträgers. Als weitere Ausgabenträger kommen Versicherungen in Betracht, bei denen der Patient eine Versicherung für Leistungen abgeschlossen hat, die nicht im Katalog der GKV-Regelversorgung enthalten sind. Die Ausgaben für Gesundheitsleistungen, für die der Patient keine Versicherung abgeschlossen hat, hat er folglich selbst zu tragen. Neben diesen drei Bereichen mit besonderer Bedeutung für die Finanzierung der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen werden gegenwärtig die Ausgaben im Gesundheitswesen noch von anderen Kostenträgern mit bestritten. Vor allem die Arbeitgeber im Rahmen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, aber auch weitere Zweige der Sozialversicherung, z.b. Renten- und Unfallversicherung, treten als Finanziers von Gesundheitsleistungen auf. Bedeutende Träger von Gesundheitsausgaben sind bisher auch die öffentlichen Haushalte. Im Zuge der künftigen Umstrukturierungen des Gesundheitswesens wird es vermutlich zu einer stärker verursachungsgerechten Zuordnung von Kosten auf die Kostenträger kommen. Zusammengefasst lässt sich schätzen, dass in den nächsten Dekaden der Ausgabentrend und damit die Marktentwicklung überproportional ansteigen werden. Schätzungen der Marktentwicklung gehen von einem Wachstumsschub im Gesundheitswesen auf insgesamt ca. 520 Mrd. im Jahr 2020 aus. Hauptsächlicher Treiber dieser Entwicklung wird der medizinisch-technische Fortschritt sein (vgl. Abbildung 18).

271 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Quelle: Eigene Fortschreibung auf Grundlage von Kartte Wachstumsbranche Abb. 18: Prognose der Marktentwicklung der Gesundheitsaus- gaben in Deutschland bis Was sich künftig ändern wird, ist die relative Bedeutung der einzel- nenn Kostenträger. Durch einee wachsende Diskussion um Umfang und Inhalt der Regelversorgung im Bereich der GKV wird es zu einer Aufwertung des selbstbestimmten Zusatzversicherungsschutzes kommen. So ist es möglich, dass bestimmtee Risiken gar nicht versi- über ein chert werden, z. B. kann der Versicherte nur eine Police bestimmtes Sortiment von Arzneimitteln abschließen. Über den Umfang, in dem die Bürger bereit sein werden, auf einen die Regelversorgung ergänzenden Versicherungsschutz zu verzichten und damit Risiken aus dieser Ebene in den Bereich der Selbstzahlung zu verlagern, sind gegenwärtig zuverlässige Aussagen zwar nicht möglich, wohl aber vorsichtige Prognosen über die Entwicklung des Gesundheitsbewusstseins der Bevölkerung und über die Kaufkraft bestimmter Bevölkerungsschichten.

272 um 13:13 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Wachstumbranche Die erforderlichee Kaufkraft ist vorhanden. Die Gleichsetzung der Begriffe Alter und Armut verliert immer stärker an Realitätsbe- vor dem Hindergrund der bislang ungeklärten Pflegeabsicherung, noch keine Redee sein kann. Oft tragen zusätzliche Einnahmequellen wesentlich zu einer Aufbesserung der gesetzlichen Rentenzahlungen bei. Wie Abbildung 19 zeigt, überstieg das verfügbare Einkommen zug, wenn auch von einer vollständigen Entkoppelung, insbesondere der Pensionärshaushalte das durchschnittliche Einkommen aller Privathaushalte deutlich. Das verfügbare Einkommen der Rentner- haushalte liegt ebenfalls nahe am durchschnittlichen Einkommen. Abb. 19: Monatliches Nettoeinkommen in Euro nach sozialer Stellung Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung Statistisches Bundesamt Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich aufgrund der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich außerhalb der 66 Es liegt eine Darstellung des Nettoäquivalenzeinkommens vor.

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