Unklare Beschwerdebilder im Sozialversicherungsrecht
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- Mona Langenberg
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1 Unklare Beschwerdebilder im Sozialversicherungsrecht I. Ausgangslage oder? 1
2 Fragestellung ATSG: Art. 8 Abs. 1 Art. 7 Art. 6 Satz 1 Zumutbarkeit Anspruchsvoraussetzungen Rechtsanwendung Medizin Leiden im Niemandsland somatische funktionelle / somatoforme bestimmte psychische Medizin Medizin nicht-mehr-können-wollen nicht-mehr-wollen-können Rechtsanwendung 4 2
3 Verwandte Fragestellungen psychische Unfallfolgen: Adäquanz des Kausalzusammenhangs Einteilung nach Unfallschwere mittlerer Bereich: Kriterien HWS-Distorsion ohne organische Läsionen «typisches» Beschwerdebild Kausalzusammenhang entsprechend Adäquanzprüfung II. Zumutbarkeit Klassische Abgrenzungen BGE 102 V 165: Aufbietung allen guten Willens, Arbeit in ausreichendem Mass zu verrichten BGE 107 V 17: invaliditätsfremde Gründe (Alter, Bildung, Sprache) BGE 127 V 294: soziokulturelle Faktoren 3
4 Leitentscheid BGE 130 V 352 anhaltende somatoformeschmerzstörung: Vermutung der Überwindbarkeit = in der Regel nicht invalidisierend Ausnahme I gemäss ärztlicher Beurteilung von derartiger Schwere, dass Verwertung derarbeitskraft bei objektiver Betrachtung sozialpraktisch nicht mehr zumutbar Ausnahme II psychische Komorbidität oder weitere Faktoren 7 Leitentscheid: Ausnahme I Ein Abweichen von diesem Grundsatz [der Überwindbarkeit] fällt nur in jenen Fällen in Betracht, in denen die festgestellte somatoforme Schmerzstörung nach Einschätzung des Arztes eine derartige Schwere aufweist, dass der versicherten Person die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bei objektiver Betrachtung und unter Ausschluss von Einschränkungen, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder dies für die Gesellschaft gar untragbar ist. 4
5 Logik der Rechtsprechung unklares Beschwerdebild Medizin: Verwertung zumutbar? nein ja «Überwindbarkeit»? psychische Komorbidität weitere Kriterien nein ja Überwindbarkeit: Medizin und Recht psychische Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer oder weitere Faktoren: Fakten Wertung 5
6 Entwicklung seit 2004 Ausdehnung auf weitere Diagnosen: Fibromyalgie, dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen, Chronic FatigueSyndrome (CFS), Neurasthenie, dissoziative Bewegungsstörungen, nichtorganische Hypersomnie, leichte Persönlichkeitsveränderung bei chronischem Schmerzsyndrom, HWS-Verletzungen (Schleudertrauma) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle alle pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromalen Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage ( päusbonog ): BGE 136 V IV-Revision 6a 2013: unklare Beschwerden (BGE 139 V 547) Schmerz-Praxis Überwindbarkeits-Praxis BGE 139 V 547 rechtsgleich ausgestaltete Voraussetzungen für Nachweis einer Invalidität (E. 5.9) Nachweis invaliditätsbegründender Arbeitsunfähigkeit: somatische (+) Erkrankungen vs. unklare Beschwerden (E. 7.1) Nachweis invalidisierender Beeinträchtigung kann scheitern an (E. 8.1): sozialer/soziokultureller Art der Beeinträchtigung mangelnder Evidenz und Erheblichkeit (Überwindbarkeit) Therapierbarkeit fehlender Dauerhaftigkeit gleicher Massstab, aber spezielle Beweislast bei unklaren Beschwerden, da nicht objektivierbar (E. 9.4) 6
7 BGE 140 V 193 Primat der Rechtsanwendung (E. 3.1): Arbeitsunfähigkeit als Rechtsbegriff freie Beweiswürdigung medizinisches Ermessen rechtsgleiche Praxis Aufgabenverteilung (E. 3.2): Medizin: Befunde, Diagnose Rechtsanwendung: Folgenabschätzung, u.u. ergänzt mit Angaben seitens Berufsberatung / -integration BGE 140 V 290 objektivierte undunklare Beschwerden (E ): subjektive Angaben genügen nicht Einschränkungen u.u. plausibilisieren (E ): Freizeitverhalten, familiäre Aktivitäten Auswirkungen auf Arbeitsfähigkeit trotz sorgfältiger Abklärungen vage und unbestimmt Beweis nicht geleistet (E. 4.1) 7
8 Zwischenfazit konstant: Aufgabenteilung Medizin Rechtsanwendung statt «Vermutung» der Überwindbarkeit / Beweis Gegenbeweis: Beweis der Anspruchsgrundlage tendenziell keine oder zumindest weniger kategorische Unterscheidung objektivierbare / unklare Beschwerden III. Kritik und Weiterführendes Vermutung / Normhypothese Ansatzpunkt «Schmerz»- Ressourcenorientierung Alles oder Nichts nicht validierte Kriterien Kommunikation EMRK? Notbehelf der Rechtsprechung 8
9 Henningsen 2014 Störungsgruppierung / Bezeichnung «Päusbonog»: partiell passend, insgesamt falsch Funktions- und Arbeitsfähigkeit: kein Unterschied zwischen somatoformen / verwandten, depressiven und organisch klar definierten Störungen Zumutbarkeit Willensanspannung: direkt abhängig von Schweregrad / Prognose, einzuschätzen mittels «Hilfstatsachen» Schweregradkriterien: psychische Komorbidität + primärer Krankheitsgewinn ungeeignet Funktion / Aktivität / Partizipation (ICF) berücksichtigen bei somatischen und psychischen Störungen, mit und ohne organisch definierter Pathologie Hennigsen: Anknüpfungspunkte kein prinzipieller Unterschied somatoforme / funktionelle andere psychische Störungen Zumutbarkeit: Schweregrad Prognose Schweregrad-Kriterien = «Hilfstatsachen» (+/-geeignete) Beurteilung somatische und psychische (mit und ohne organisch definierte Pathologie) Störungen an ICF anlehnen: Funktion / Aktivität / Partizipation 9
10 Perspektivenwechsel I somatische funktionelle / somatoforme bestimmte psychische Medizin: Zumutbarkeit Schweregrad / Prognose «Hilfstatsachen»: Schweregrad-Kriterien Rechtsanwendung Perspektivwechsel II unklares Beschwerdebild Medizin: Verwertung zumutbar? nein ja «Überwindbarkeit»? psychische Komorbidität weitere Kriterien ja nein Beweiswürdigung, wenn medizinische Beurteilungen divergieren 10
11 Medizin: Ausblick fachlicher Konsens Ressourcenorientierung / Schweregrad- Kriterien / ICF-Anlehnung gleich plausibel bei nicht somatischen und somatischen Leiden Recht: Beweisfrage = relevante Anspruchsgrundlagen gegeben? Beweiswürdigung bei divergierenden Beurteilungen anschlussfähig an Ausnahme I von BGE 130 V 352 Vom Notbehelf der Rechtsanwendung zur überzeugenden gutachterlichen Stellungnahme 11
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