Musterlösung Klausur Europäisches Privatrecht II 25. Juni 2012 Prof. Dr. Helmut Heiss Prof. Dr. Dominique Jakob Prof. Dr. Andreas Kellerhals Prof. Dr. Anton K. Schnyder Aufgabe A (Prof. Dr. Heiss) 1. Stellung der EU-Mitgliedstaaten VK, Irland und Dänemark a. Allgemeines Rechtsakte der Union zum IPR/IZVR sind kompetenzrechtlich auf Art. 81 AEUV gestützt, der im Dritten Teil, Titel V des AEUV ( Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ) steht. Art. 81 AEUV geht auf Art. 65 EGV i.d.f. des Vertrages von Amsterdam zurück. Der Vertrag von Amsterdam stellte einen Änderungsvertrag zum EGV dar, welcher der Zustimmung aller Mitgliedstaaten, also auch des VK, Irlands und Dänemarks bedurfte. Die genannten Mitgliedstaaten waren aber nur bereit, den Vertrag von Amsterdam zu schliessen, wenn sie selbst hinsichtlich der Rechtsakte, die künftig nach Art. 65 EGV erlassen würden, eine Sonderstellung erhielten. Eine solche Sonderstellung wurde den genannten Mitgliedstaaten durch spezielle Protokolle eingeräumt. b. Stellung des VK und Irlands Das VK und Irland sind an Rechtsakte nach ex-art. 65 EGV/Art. 81 AEUV nicht gebunden. Sie haben jedoch eine Option, an jedem einzelnen Rechtsakt teilzunehmen. Sie haben bisher an fast allen Rechtsakten teilgenommen.
c. Stellung Dänemarks Auch Dänemark ist an Rechtsakte nach ex-art. 65 EGV/Art. 81 AEUV nicht gebunden. Es hat nach dem Vertrag von Amsterdam auch keine Option, an solchen Rechtsakten freiwillig teilzunehmen. Daher mussten einschlägige Rechtsakte im Verhältnis zu Dänemark mit völkerrechtlichen Verträgen nachvollzogen werden. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Rechtsstellung Dänemarks grundsätzlich nicht verändert. Allerdings wurde Dänemark eine Option eingeräumt, per Erklärung in ein Optionsmodell nach dem Muster des VK und Irlands zu wechseln. 2. Stellung der EWR-Vertragsstaaten Der EWR-Vertrag enthält keinen Abschnitt Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Es fehlt daher an einer speziellen Angleichungskompetenz im IPR/IZVR Rechtsakte der EU zum IPR/IZVR können daher EWR-Vertragsstaaten nicht binden. Allerdings können Rechtsakte der EU, die auf anderer Kompetenzgrundlage (z.b. Art. 114 AEUV) erlassen wurden, ebenfalls Normen des IPR/IZVR enthalten. Soweit diese Rechtsakte für EWR-Vertragsstaaten bindend sind, sind diese auch an die darin enthaltenen Vorschriften des IPR/IZVR gebunden. Beispiele sind insbesondere das Sonderkollisionsrecht für Verbraucher in den Verbraucher- RLen sowie das Versicherungskollisionsrecht (siehe Art. 178 Richtlinie 2009/138/EG Solvabilität II) Darüber hinaus steht im Verhältnis zu den EWR-Vertragsstaaten das Instrument des völkerrechtlichen Vertrags zur Verfügung (z.b. revlugü, welches allerdings im Fürstentum Liechtenstein nicht gilt) 2
3. Grundfreiheitenprüfung von Kollisionsnormen Die Grundfreiheiten kennen eine Diskriminierungs- und Beschränkungskontrolle Rechtsunterschiede an sich stellen keine Diskriminierung dar kollisionsrechtliche Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit daher (wohl) zulässig Kollisionsnormen können aber gegen das Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbot verstossen, wenn sie ein bestimmtes diskriminierendes oder beschränkendes sachrechtliches Ergebnis ansteuern Z.B. Sitztheorie (vgl. EuGH in Überseering ) Z.B. 23 Abs. 2 öatomhg Aufgabe B (Prof. Dr. Jakob) Diese Fragen verlangen jeweils einen Essay, der einer Musterlösung nicht zugänglich ist. Aufgabe C (Prof. Dr. Kellerhals) Diese Fragen verlangen jeweils einen Essay, der einer Musterlösung nicht zugänglich ist. 3
Aufgabe D (Prof. Dr. Schnyder) 1. Wo und wie ist der Tatbestand der Abspaltung von Gesellschaftsteilen in der einschlägigen EG-RL geregelt? Die Abspaltung (Spaltung) von Gesellschaftsteilen ist in der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Dezember 1982 geregelt. Art. 1 der Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, die Spaltung in ihr Recht einzuführen. Gestatten die Mitgliedstaaten aber den Vorgang der Spaltung, haben sie dies im Sinne der Richtlinienbestimmungen (Art. 1) zu tun. Die Richtlinie sieht drei Arten von Spaltung vor: - Spaltung durch Übernahme: Art. 2 ff. - Spaltung durch Gründung neuer Gesellschaften: Art. 21 ff. - Verbindung einer Spaltung durch Übernahme mit einer Spaltung durch Gründung neuer Gesellschaften: Art. 2 ff. i.v.m. Art. 22 "oder" Spaltung/Abspaltung i.e.s. ("spin-off"): Art. 25. 2. In welchem Zusammenhang hat das Bundesgericht das Prinzip der "europarechtskonformen Auslegung" niedergelegt? In BGE 129 III 335. Im Entscheid ging es um die Anwendung bzw. Nichtanwendung von Art. 333 Abs. 3 OR. Das Bundesgericht gelangte zum Ergebnis, dass eine europarechtskonforme Auslegung der Norm zu deren Nichtanwendung in casu führe. Bei der Auslegung schweizerischen Rechts sei autonom-nachvollzogenes Binnenmarktrecht (unter Einschluss seiner Weiterentwicklung) grundsätzlich europarechtskonform auszulegen. 4
3. Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen den gesellschaftsrechtlichen Verordnungen der EG bzw. EU und dem einzelstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten? Nennen Sie zwei Beispiele. Die Verordnungen gehen dem einzelstaatlichen Recht grundsätzlich vor. Sie sind unmittelbar anwendbar und bedürfen dem Grundsatz nach keiner Umsetzung durch mitgliedstaatliches Recht. Dennoch finden sich in den meisten Fällen in den Mitgliedstaaten "Umsetzungs"erlasse zu den Verordnungen. Dies hängt damit zusammen, dass die Verordnungen zu zahlreichen wichtigen Fragen für die Mitgliedstaaten Optionen eröffnen oder gar die Regelung einer Frage gänzlich dem nationalen Recht überlassen. Beispiele: Verordnungen zu EWIV, SE, SCE. (je ½ P.,max. 1 P.) 4. Wie und wo ist die Haftung der Mitglieder einer EWIV für deren Verbindlichkeiten geregelt? Worüber kann einzelstaatliches Recht und welches befinden? Wäre eine nationale Regelung zulässig, wonach für die Haftung der Mitglieder der Grundsatz der differenzierten Solidarität zur Anwendung gelangte? Die Haftung ist in Art. 24 der Verordnung vom 25. Juli 1985 über die EWIV geregelt. Danach haften die Mitglieder der Vereinigung unbeschränkt und solidarisch (gesamtschuldnerisch) für die Verbindlichkeiten der EWIV. Nach Art. 24 Abs. 1 Satz 2 bestimmt "das einzelstaatliche Recht" über die Folgen der Haftung. Welches nationale Recht zuständig ist, bleibt offen. Grundsätzlich dürfte es sich um das Sitzrecht handeln: Art. 2 Abs. 1 der VO (evtl. analog). Wäre unzulässig, zumal Art. 24 Abs. 1 der VO hierzu eine klare Vorgabe enthält. Total 80 P. 5