Ausmaß und Struktur prekärer Beschäftigung in Berlin Ursachen sowie politische Handlungsmöglichkeiten



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Transkript:

Ausmaß und Struktur prekärer Beschäftigung in Berlin Ursachen sowie politische Handlungsmöglichkeiten Dr. Karsten Schuldt Teltow, im Februar 2008

Gliederung Zusammenfassung...3 Einleitung Untersuchungsauftrag und Methodik...8 1 Umfang prekärer Beschäftigung in Berlin und im Städtevergleich...10 1.1 Gesamtwirtschaftliche Eckdaten...10 1.2 Segmente prekärer Beschäftigung...13 2 Beschäftigungssegmente und prekäre Beschäftigung in Berlin...20 2.1 Entwicklung der Beschäftigungsformen auf den Berliner Arbeitsmärkten...20 2.1.1 Bedeutungszuwachs von prekären Beschäftigungsformen...20 2.1.2 Prekarisierungstendenzen auch im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor25 2.2 Prekäre Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen und Berufen...27 2.3 Hintergründe prekärer Beschäftigung in ausgewählten Branchen...31 3 Aspekte der sozio-demographischen und sozialräumlichen Struktur von prekärer Beschäftigung in Berlin...35 4 Berlin als Hauptstadt prekärer Beschäftigung Diskussion von Ursachen und Perspektiven...38 4.1 Zu den Ursachen des Anwachsens prekärer Beschäftigungsverhältnisse...38 4.1.1 Wirtschaftliche und politische Einflussfaktoren...38 4.1.2 Stadtspezifische sozioökonomische Hintergründe der starken Ausprägung von prekärer Beschäftigung in Berlin...47 4.2 Handlungsoptionen zur Zurückdrängung von prekärer Beschäftigung und nicht existenzsichernden Einkommen ein Beitrag zur Diskussion...49 Literatur- und Quellenverzeichnis...54 Anlage...56 2

Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit Umfang und Struktur prekärer Beschäftigungsverhältnisse in Berlin unter dem speziellen Fokus nicht existenzsichernder Erwerbseinkommen. Nicht nur in Berlin, sondern auch europa- und bundesweit sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit nicht armutsfesten Erwerbseinkommen auf dem Vormarsch. Von diesem Trend werden immer breitere Beschäftigungssegmente erreicht, die inzwischen weit über gering qualifizierte und zeitlich verkürzte Tätigkeiten hinausgehen. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig: Globalisierung und Europäisierung von Wettbewerb und Arbeitsmärkten spielen ebenso eine Rolle wie Branchenspezifika, beispielsweise unstetige, saisonal und produktionsbezogen schwankende Beschäftigung oder gering qualifizierte Tätigkeiten. In der Bundesrepublik haben in den letzten Jahren auch politische Weichenstellungen zum Voranschreiten prekärer Beschäftigungsverhältnisse auf dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt beigetragen. Dazu gehörten etwa gesetzliche Regelungen wie die steuer- und sozialversicherungsrechtliche Besserstellung von Midi- und Mini-Jobs, die mehrfache Deregulierung der Arbeitnehmerüberlassung, die massive Förderung von Existenzgründungen in Form der Ich-AG oder die Begünstigung der so genannten 1-Euro-Jobs. Mit der Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik der vergangenen Jahre, z. B. im Bereich des Postmarktes oder bei den Ladenöffnungszeiten, wurden ebenfalls politische Weichen gestellt. In Folge hat die Gestaltungskraft von Gewerkschaften, Arbeitnehmervertretungen, Arbeitnehmer/innen und Arbeitsuchenden abgenommen sowie deren Konzessionsbereitschaft, auch gering entlohnte Beschäftigungsverhältnisse zu akzeptieren, zugenommen. In Berlin haben stadtspezifische sozioökonomische Einflussfaktoren das Vordringen prekärer Beschäftigungsverhältnisse im Allgemeinen und nicht existenzsichernder Beschäftigungsverhältnisse im Besonderen zusätzlich begünstigt: Wirtschaftshistorische Spezifika im Westteil und im Ostteil der Stadt, die kritische Arbeitsmarktlage in der Bundeshauptstadt und in seinem ostdeutschen Umland, die langjährige Bewerbung Berlins als Niedriglohnenklave, die ebenfalls langjährige Überbetonung der Stadt als Dienstleistungs- und Wissensmetropole sowie die Vernachlässigung des Verarbeitenden Gewerbes bzw. der Industrie, die unterdurchschnittliche Tarifbindung sowie der geringe gewerkschaftliche Organisationsgrad in Berlin sind derartige stadtspezifische Gründe. Im Ergebnis dieser verschiedenen Einflussfaktoren haben sich die einzelnen Beschäftigungssegmente in Berlin ganz unterschiedlich entwickelt: 3

Zwischen 2003 und 2006 sind in der Stadt die Zahlen der Leiharbeitnehmer/innen (+111%) und der Midi-Jobber/innen (+105%) geradezu explodiert. Auch die Zahlen der im Nebenjob geringfügig Entlohnten (+44%), der Selbstständigen (+22%) und der ausschließlich geringfügig Entlohnten (+17%) haben beachtliche Zuwächse zu verzeichnen. Demgegenüber ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (ohne Midi-Jobber/innen) im gleichen Zeitraum um 5% zurückgegangen. Der leichte Zuwachs der Erwerbstätigenzahl insgesamt (+3%) beruht demnach maßgeblich auf dem Anstieg prekärer, vielfach gering entlohnter Beschäftigungsverhältnisse. Nicht zuletzt aufgrund des Anstiegs nicht armutsfester Beschäftigungsformen erzielen gegenwärtig 362.900 Berliner/innen Nettoerwerbseinkommen von weniger als 900 Euro monatlich. Damit müssen ein Viertel aller Erwerbstätigen in Berlin von Erwerbseinkommen an bzw. unterhalb der Pfändungsgrenze leben. Der Anteil solcher Niedrigeinkommensbezieher/innen ist bei Frauen (28,6%) deutlich höher als bei Männern (21,5%). Da mit diesen niedrigen Erwerbseinkommen vielfach nicht das Existenzminimum bestritten werden kann, müssen derzeit mehr als 110.000 Berliner/innen ergänzende Leistungen nach dem SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalt von sich und ihren Familien beziehen. Dementsprechend sind 7% aller Erwerbstätigen in der Stadt trotz Arbeit auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen, darunter auch viele Vollzeitbeschäftigte und Selbstständige. In keiner anderen bundesdeutschen Großstadt gibt es einen derart großen Anteil so genannter Aufstocker/innen wie in Berlin: In München sind es 1,5%, in Frankfurt am Main 2,1%, in Köln 3%, in Hamburg 3,3% und in Bremen 4,7%. Lediglich das ebenfalls in Ostdeutschland liegende Leipzig kommt mit 6,9% auf einen ähnlich hohen Anteil. Berlin muss damit als Hauptstadt prekärer Beschäftigung in der Bundesrepublik bezeichnet werden. Aktivitäten zur Zurückdrängung prekärer, nicht armutsfester Beschäftigungsverhältnisse müssen beim gesamten identifizierten Ursachenbündel ansetzen auf einzelne Faktoren ausgerichtete sowie nur von einzelnen Akteuren und Institutionen in Angriff genommene Interventionen dürften demgegenüber ins Leere laufen. Gefordert sind daher bundes- und landespolitische Weichenstellungen ebenso wie gewerkschaftliche Aktivitäten sowie tarifvertragliche Regelungen. Im Einzelnen werden dafür die folgenden Ansatzpunkte gesehen. Bundesebene (1) Globalisierung und Europäisierung müssen gestaltet werden, wenn an den vielen ökonomischen Vorteilen dieser Prozesse nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die Beschäftigten partizipieren sollen. Zumindest auf europäischer Ebene gibt es mit der gemeinschaftlichen Beschäftigungsstrategie und den darin verorteten Verlautbarungen bzw. Forderungen nach mehr und nach besseren Arbeitsplätzen einen Ansatzpunkt für politische Einflussnahme. Die Bundesregierung sollte daher im Rahmen der EU auf die Harmonisierung der Wettbewerbs- sowie Arbeitsbedingungen dahingehend einwirken, dass die Diskussion um einen europäischen Mindestlohn eingeleitet wird. 4

(2) Mit einer Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf weitere Branchen (insbesondere aber nicht nur auf die Zeitarbeitsbranche) könnten nicht nur Niedrigeinkommen verhindert werden, sondern auch Wettbewerbsneutralität dort hergestellt werden, wo die diesbezügliche Funktion von Tarifverträgen aufgrund der Mobilisierungsund Durchsetzungsschwäche von Arbeitnehmervertretungen nicht mehr gesichert ist. Weitreichender und damit effektiver und effizienter wäre ein flächendeckender, für alle Branchen geltender gesetzlicher Mindestlohn, wie er in vielen EU-Ländern ohne negative Folgen für die jeweiligen Volkswirtschaften seit vielen Jahren Realität ist. Das Mindestarbeitsbedingungsgesetz könnte den rechtlichen Rahmen für einen solchen gesetzlichen Mindestlohn bilden. (3) Die Rücknahme der sozialversicherungsrechtlichen Besserstellung von geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnissen würde die Wettbewerbsposition von sozialversicherungspflichtiger Voll- und Teilzeitbeschäftigung am Arbeitsmarkt verbessern. Zugleich ergäben sich aus einer solchen Gesetzesänderung wachsende Einnahmen der Sozialversicherungskassen. (4) Eine De-Deregulierung der Gesetze zur Arbeitnehmerüberlassung hätte zur Folge, dass sich der Einsatz von Stammbeschäftigten und der Verzicht auf den Einsatz von Zeitarbeitnehmer/innen eher lohnen würden. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ist so umzugestalten, dass in der Zeitarbeitsbranche soziale Mindeststandards gelten und das Prinzip Gleichen Lohn für gleiche Arbeit umgesetzt wird. (5) Beiträge zur Eindämmung von prekären Beschäftigungsverhältnissen könnten auch dadurch geleistet werden, dass der Bund (v. a. die Bundesministerien, deren nachgeordnete Einrichtungen sowie die Bundesagentur für Arbeit) die öffentliche Auftragsvergabe an tarifvertragliche Mindestentgelte koppeln würden. (6) Für den Wirkungskreis des SGB II ist durch bundesgesetzliche Regelungen dafür Sorge zu tragen, dass Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung tatsächlich nur als arbeitsmarktpolitische ultima ratio zum Einsatz kommen. Für die anderen Instrumente öffentlich geförderter Beschäftigung (ABM, Beschäftigungszuschuss nach 16a SGB II, Kommunal-Kombi) ist aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes die Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung (wieder) einzuführen. Damit würde zugleich die Stigmatisierung dieser Gruppen von Arbeitslosen bzw. Beschäftigten aufgehoben. Landesebene Berlins (7) Im Hinblick auf die vorstehend angedachten Gesetzesänderungen (Arbeitnehmer- Entsendegesetz, Mindestarbeitsbedingungsgesetz, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Sozialgesetzbuch Zweites Buch) sollte das Land Berlin mit entsprechenden Bundesratsinitiativen politischen Druck auf die Bundesebene zu deren Umsetzung ausüben. 5

(8) Entsprechend dem o. a. Vorschlag für die Bundesebene sollten auch auf der Landesebene alle öffentlichen Aufträge an tarifvertragliche Mindestentgelte und andere soziale Mindeststandards gekoppelt werden. Die Relevanz einer solchen landesgesetzlichen Maßnahme gilt auch für Berlin, wo demnächst im Landesparlament eine entsprechende Gesetzesvorlage abgestimmt wird: Bei einem Bruttoinlandsprodukt von derzeit etwa 80 Mrd. Euro beläuft sich das öffentliche Auftragsvolumen des Landes, der Stadtbezirke und anderer öffentlicher Auftraggeber in Berlin auf immerhin 4 bis 5 Mrd. Euro. (9) Aus der Begrenzung der Ladenöffnungszeiten auf ein für die Kunden und für die Beschäftigten des Einzelhandels gleichermaßen verträgliches Maß, könnten ebenfalls Impulse zur Begrenzung von prekären Beschäftigungsverhältnissen ausgehen. (10) Die Folgen der Privatisierung bislang öffentlicher Dienstleistungen (etwa im Bereich des Berliner Gesundheitswesens) für die öffentlichen Haushalte einerseits und für die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Beschäftigten andererseits sollten überprüft werden. Sofern sich dabei einseitige Kosten-Nutzen-Verlagerungen zuungunsten der öffentlichen Hand und der dort zuvor Beschäftigten zeigen, sind Möglichkeiten der Rücknahme solcher Privatisierungen zu erörtern. (11) Die im Jahr 2004 vom Berliner Senat und von den Wirtschaftsverbänden eingeleitete Wachstumsinitiative 2004-2014 ist konzeptionell und operativ zu einer aktiven Industriepolitik für die Industrieregion Berlin-Brandenburg auszubauen. Aufgrund der intensiven Verflechtungsbeziehungen Berlins mit seinem Brandenburger Umland sollten dabei die Landesregierung Brandenburg und die Zukunftsagentur Brandenburg (ZAB) einbezogen werden. (12) Berlin als Stadt des Wissens, der Forschung sowie wissensbasierter Produktionen und Dienstleistungen kann es sich nicht leisten, dass Hochschulabsolventen/innen trotz hochwertiger akademischer Abschlüsse längerfristig als Praktikanten/innen ausgenutzt werden und daher wegen ausbleibender Berufs- und Einkommensperspektiven abwandern. Auch angesichts des anwachsenden Fachkräftebedarfs sollte die Landesregierung eine Kampagne zur qualifikationsadäquaten Beschäftigung und Entlohnung von Hochschulabsolventen/innen starten und durch Unterstützungsangebote für die personalpolitisch Verantwortlichen sowie für die Arbeitnehmervertretungen in einschlägigen Unternehmen begleiten. Gewerkschaften und Tarifvertragsparteien (13) Auf die zunehmende Globalisierung und Europäisierung müssen Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen mit einer intensiveren transnationalen Zusammenarbeit reagieren. Gefordert sind diesbezüglich sowohl die nationalen Dach- und Einzelgewerkschaften als auch die Arbeitnehmervertretungen, insbesondere diejenigen von international agierenden und in verschiedenen Staaten vertretenen Unternehmen. 6

(14) Mit Blick auf die im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzipien gilt es, in Tarifverträgen armutsfeste Löhne und Gehälter zu vereinbaren. Deren Höhe ist so zu bemessen, dass zumindest bei Vollzeitbeschäftigung das soziokulturelle Existenzminimum aus eigenem Erwerbseinkommen gesichert werden kann. (15) Aus unterschiedlichen Gründen, u. a. aufgrund von Machtdisparitäten zwischen den Tarifvertragsparteien, können tarifliche Regelungen nicht immer armutsfeste Erwerbseinkommen sichern. Gleichwohl stellen auch solche Vereinbarungen wichtige Korrektive gegenüber teilweise einseitigen Arbeitgeberforderungen dar. Insofern steht vor den Gewerkschaften, den betrieblichen Arbeitnehmervertretungen und den Beschäftigten die Aufgabe, die Reichweite von Tarifverträgen zu erhöhen. (16) Die Ausdehnung der Reichweite von Tarifverträgen erfordert u. a. einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Dadurch kann die Mobilisierungs- sowie Durchsetzungskraft gesteigert werden. Dazu sind neue und kreative Wege der Mitgliedergewinnung, des Organizing und der Mitgliederbindung zu beschreiten, nicht zuletzt in Wirtschaftszweigen, Branchen, Berufen und Beschäftigungssegmenten, die bislang nicht zu den Schwerpunkten gewerkschaftlichen Engagements zählen. (17) Der vom DGB und von seinen EinzeIgewerkschaften im Jahr 2005 eingeleitete industriepolitische Dialog Aktiv für die Berliner Industrie Qualität und Innovation statt Billiglohn ist fortzusetzen, um auch auf diesem Weg die bisherige strukturelle Achillesferse der Berliner Wirtschaftsstruktur zu stärken. Auch hier ist anzuregen, dass die im Land Brandenburg vertretenen Strukturen des DGB und der Einzelgewerkschaften in diesen industriepolitischen Dialog einbezogen werden. Mit Gesetzen, Tarifverträgen usw. allein ist es jedoch nicht getan. Gesetze, Verordnungen und Regelungen müssen vielmehr auch umgesetzt werden, wenn sie Gestaltungskraft erlangen sollen. Dementsprechend sind für verschiedene der vorstehend skizzierten Vorschläge Kontrollmechanismen notwendig der Blick in andere EU-Staaten zeigt jedoch, dass auch diese bei entsprechendem Willen von Politik, Tarifvertragsparteien und Öffentlichkeit möglich sind. 7

Einleitung Untersuchungsauftrag und Methodik Der Autor wurde im September 2007 vom DGB, Bezirk Berlin-Brandenburg, mit finanzieller Beteiligung der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, mit der nunmehr vorliegenden Kurzstudie beauftragt. Gegenstand dieser Untersuchung war der Vergleich von Umfang, Struktur und Ursachen prekärer Beschäftigung in Berlin mit deren Verbreitung in anderen deutschen Großstädten, insbesondere in Bremen, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, Leipzig und München. Was ist prekäre Beschäftigung? In der Bundesrepublik Deutschland ist seit etwa zwei Dekaden eine Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und ein Vormarsch atypischer Beschäftigungsverhältnisse zu konstatieren. Das Ursachenspektrum für diese Entwicklungstendenzen ist sehr differenziert sowie komplex zugleich und soll an dieser Stelle zunächst nicht erörtert werden. Mit dem Begriff prekäre Beschäftigung hat sich inzwischen ein Terminus gebildet, mit dem diese atypischen Beschäftigungsformen stärker auf ihre individuellen und sozialen Wirkungen hinterfragt werden. Prekäre Beschäftigung kann demnach als ein atypisches Beschäftigungsverhältnis definiert werden, in dem die negativen individuellen und sozialen Implikationen dominieren. Prekäre Beschäftigung im Sinne der hier vorliegenden Kurzstudie soll, aufgrund des leistbaren empirischen Aufwandes, als ein Beschäftigungsverhältnis verstanden werden, dem kein existenzsicherndes individuelles Erwerbseinkommen zugrunde liegt. Forschungsstand: Berlin wird seit einigen Jahren als Hauptstadt prekärer Beschäftigung bezeichnet. Erste Grundlagen für derartige Einschätzungen waren die bundesweit höchste Zahl an so genannten Mini-Jobbern (Bundesagentur für Arbeit) oder die ebenfalls bundesweit am höchsten geschätzte Zahl von Freelancern aus wissenschaftlichen, kreativen und medialen Berufen (DIW 2004). Abgesehen von diesen und anderen selektiven Hinweisen liegen umfassende Informationen zu Umfang, Struktur sowie Ursachen prekärer Beschäftigung in der Bundeshauptstadt, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Oschmiansky 2007), derzeit jedoch nicht vor. Wissenschaftliche Untersuchungen, die sich dezidiert mit der Verbreitung prekärer Beschäftigung im Städtevergleich beschäftigen, finden sich gegenwärtig überhaupt nicht. Ausgangshypothese: In Berlin ist prekäre Beschäftigung stärker verbreitet als in anderen Großstädten der Bundesrepublik. Aus wirtschaftshistorischen, sozioökonomischen, wirtschaftsgeographischen u. a. Gründen ist prekäre Beschäftigung zudem ein grundlegender Bestandteil der Berliner Wirtschaftsstruktur (geworden) und kein temporäres Phänomen. Aktivitäten, die das Ziel der Zurückdrängung prekärer Beschäftigung und nicht existenzsichernder Einkommen verfolgen, müssen daher bei grundsätzlichen Veränderungen der Berliner Regionalökonomie und der Stadtgesellschaft ansetzen. 8

Untersuchungsleitende Fragestellungen: Im Einzelnen sollen mit der vorliegenden Kurzstudie vor allem die folgenden Fragen Beantwortung finden: Welches Ausmaß haben prekäre Beschäftigung und nicht existenzsichernde Einkommen in den Großstädten Berlin, Bremen, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, Leipzig und München? Lässt sich der Umfang prekärer Beschäftigung nach Branchen quantifizieren? In welchem Maße sind Frauen, Migranten/innen u. a. Personengruppen von prekärer Beschäftigung betroffen? Welche politischen Handlungsoptionen zur Eindämmung prekärer Beschäftigung lassen sich erkennen? Welche dieser Handlungsoptionen oder welche anderen Möglichkeiten wären für Berlin ratsam? Methodisches Vorgehen und Datenquellen: Die vorliegende Kurzstudie fokussiert aus Zeit- und Ressourcengründen auf sekundärstatistische Analysen (Betriebspanel, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, Erwerbstätigenrechnung, Mikrozensus, Statistik der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, Statistik zur geringfügigen Beschäftigung, Statistik zur Grundsicherung für Arbeitsuchende, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung usw.). Ergänzend dazu wurden das Gemeinsame Tarifregister Berlin-Brandenburg und das WSI-Tarifarchiv ausgewertet. Darüber hinaus wurden branchenspezifische Datenquellen heran gezogen und entsprechende Experteninterviews geführt. Schließlich dienten leitfadenbasierte Experteninterviews dazu, regional- bzw. lokalpolitische Handlungsoptionen zu identifizieren und zu bewerten. 9

1 Umfang prekärer Beschäftigung in Berlin und im Städtevergleich 1.1 Gesamtwirtschaftliche Eckdaten Der Arbeitsplatzbesatz ausgewiesen als Anzahl der Erwerbstätigen am Arbeitsort je 1.000 Einwohner ist, wie die folgende Übersicht verdeutlicht, in den analysierten Städten sehr unterschiedlich. Übersicht 1 Arbeitsplatzbesatz im Großstadtvergleich Anzahl der Erwerbstätigen am Arbeitsort je 1.000 Einwohner (2006) Berlin Bremen Frankfurt am Main Hamburg Köln Leipzig München Einwohner (31.12.2006) 3.404.037 663.979 652.610 1.754.182 989.766 506.578 1.294.608 Erwerbstätige (2006) 1.571.500 382.200 587.800 1.063.100 634.100 275.300 926.100 Arbeitsplatzbesatz absolut 462 576 901 606 641 543 715 Berlin = 100 100 129 195 131 139 118 155 Quelle: eigene Berechnungen nach Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder und Statistisches Bundesamt 1 Berlin liegt mit einem Arbeitsplatzbesatz von 462 auf 1.000 Einwohner auf dem letzten Platz aller Vergleichsstädte und ist damit nicht nur weit entfernt vom Spitzenreiter Frankfurt am Main (901) sowie München (715), Köln (641) oder Hamburg (606), sondern steht bei diesem gesamtwirtschaftlichen Indikator auch schlechter da als das Haushalts-Notlage-Land Bremen (576) oder die sächsische Großstadt Leipzig (543). Zwar wird der Arbeitsplatzbesatz nicht nur von der Wirtschaftskraft der einzelnen Städte, sondern auch von deren Zentralität beeinflusst gleichwohl kommt mit diesem Indikator zum Ausdruck, dass die Erwerbschancen für Arbeitsuchende in Berlin zumeist deutlich geringer sind als in anderen deutschen Großstädten. Die im Städtevergleich hohe Arbeitslosenquote Berlins, als Spiegelbild des geringen Arbeitsplatzbesatzes, unterstreicht diese Einschätzung: Im Jahresdurchschnitt 2006 hatte Berlin eine Arbeitslosenquote (bezogen auf alle Erwerbspersonen) von 17,5%. Die entsprechenden Werte betrugen hingegen in Bremen 14,5%, in Köln 13,1%, in Hamburg 11%, in Frankfurt am Main 10,9% und in München sogar nur 7,6%. Lediglich im sächsischen Leipzig wurde mit 18,7% eine höhere Arbeitslosenquote registriert. Diese schwierige Arbeitsmarktsituation dürfte, vorliegenden Untersuchungen zu Folge (Kettner/Rebien 2007), zu einer steigenden Kompromissbereitschaft von Arbeitsuchenden führen, gegebenenfalls auch wenig attraktive Beschäftigungsbedingungen zu akzeptieren, um überhaupt einen Arbeitsplatz zu erhalten. 1 Der Arbeitsplatzbesatz je 1.000 Einwohner ergibt sich als Quotient aus der Anzahl der Erwerbstätigen und der Einwohnerzahl multipliziert mit 1.000. 10

Das gesamtwirtschaftliche Einkommensniveau liegt in Berlin mit durchschnittlich 26.275 Euro im Jahr 2006 mit nur einer Ausnahme unter demjenigen der anderen Vergleichsstädte. In Frankfurt am Main (33.978 Euro), München (32.922 Euro), Hamburg (30.710 Euro) und Köln (30.422 Euro) realisieren Arbeitnehmer/innen durchschnittlich ein deutlich höheres Jahreseinkommen als in Berlin. Auch in der Vergleichsstadt Bremen (27.103 Euro) kommen Arbeitnehmer/innen auf ein, wenn auch nur geringfügig, höheres Jahreseinkommen als in der Bundeshauptstadt. Nur in der sächsischen Großstadt Leipzig (24.772 Euro) werden je Arbeitnehmer/in geringere durchschnittliche Einkommen realisiert (Übersicht 2). Übersicht 2 Bruttolohn- und -gehalt p. a. je Arbeitnehmer/in im Großstadtvergleich (2006) 36.000 34.000 32.000 30.000 28.000 26.000 24.000 22.000 20.000 Berlin Bremen Frankfurt am Main Hamburg Köln Leipzig München Quelle: Statistische Ämter der Länder (2007) Bemerkenswert daran ist einerseits, dass diesem geringen gesamtwirtschaftlichen Einkommensniveau in Berlin bundesweit mit die längsten Jahresarbeitszeiten zu Grunde liegen: Im Jahr 2005 wurden in Berlin je Erwerbstätigen 1.498 Arbeitsstunden geleistet. Demgegenüber waren es in Hamburg und München jeweils 1.478 Arbeitsstunden, Leipzig 1.465, in Köln 1.460 und in Bremen sogar nur 1.410 Arbeitsstunden. Lediglich in Frankfurt am Main wurden mit 1.564 mehr Arbeitsstunden geleistet. 2 Unter Berücksichtigung von Jahreseinkommen und Jahresarbeitszeit werden, mit Ausnahme von Leipzig, in keiner der Vergleichsstädte so geringe Stundenlöhne gezahlt wie in der Bundeshauptstadt Berlin. Interessant ist andererseits, dass dieses geringe gesamtwirtschaftliche Einkommensniveau von Berlin nicht vorrangig auf unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen, etwa die Bedeutung des Verarbeitenden Gewerbes oder den Anteil der Dienstleistungen zurück zu führen ist. Vielmehr gilt, dass das Einkommensniveau beim Gros der Wirtschaftszweige in Berlin unterdurchschnittlich ist und damit niedriger ist als in den meisten Vergleichsstädten (Übersicht 3). 2 Internetangebot des Arbeitskreises Erwerbstätigenrechnung zum Standardarbeitsvolumen in den Landkreisen und kreisfreien Städten (http://www.statistikhessen.de/erwerbstaetigenrechnung/veroeffentlichungen.htm). 11

Im Vergleich mit Hamburg, Frankfurt am Main und München gibt es in Berlin keinen Wirtschaftszweig, in dem Arbeitnehmer/innen höhere Bruttolöhne- bzw. Bruttogehälter beziehen. Auch in Köln werden in fast allen Wirtschaftszweigen höhere Einkommen realisiert als in Berlin. Diesbezügliche Ausnahmen bilden lediglich das Verarbeitende Gewerbe und das Gastgewerbe, in denen Arbeitnehmer/innen in Berlin und in Köln im Durchschnitt Einkommen gleicher Höhe beziehen. Im Vergleich von Berlin mit dem Haushalts-Notlage-Land Bremen zeigt sich ein etwas anderes Bild: Bei einem gesamtwirtschaftlich ähnlichen Einkommensniveau werden im Verarbeitenden Gewerbe und in den meisten Dienstleistungsbereichen (Gastgewerbe, Unternehmensbezogene Dienstleistungen, Öffentliche Verwaltung/Verteidigung/Sozialversicherung) in Berlin höhere Löhne bzw. Gehälter gezahlt als in Bremen. Ein gleiches Einkommensniveau in Berlin und Bremen findet sich im Wirtschaftszweig Verkehr und Nachrichtenübermittlung. Demgegenüber erzielen in der Land- und Forstwirtschaft/Fischerei, in der Energie- und Wasserversorgung, im Baugewerbe und im Handel Arbeitnehmer/innen in Bremen höhere Bruttolöhne- bzw. Bruttogehälter als in Berlin. Lediglich im sächsischen Leipzig liegt das Einkommensniveau in den meisten Wirtschaftszweigen unter den Vergleichswerten aus Berlin. Aber auch dort gibt es mit der Land- und Forstwirtschaft/Fischerei sowie dem Baugewerbe Wirtschaftszweige, in denen höhere Einkommen als in der Bundeshauptstadt realisiert werden. Übersicht 3 Bruttolohn- und -gehalt p. a. je Arbeitnehmer/in im Großstadtvergleich nach Wirtschaftszweigen (2006) Berlin Bremen Frankfurt am Main Hamburg Köln Leipzig München alle Wirtschaftszweige 100 103 129 117 116 94 125 Land-, Forstw., Fischerei 100 141 154 139 149 133 160 Produzierendes Gewerbe 100 106 115 118 109 78 117 dar. Verarb. Gewerbe 100 99 108 112 100 72 109 dar. Energie-, Wasservers. 100 116 111 106 117 91 113 dar. Baugewerbe 100 124 130 126 125 102 128 Dienstleistungen 100 97 128 115 111 96 117 dar. Handel 100 106 141 133 138 91 135 dar. Gastgewerbe 100 92 120 104 100 94 119 dar. Verkehr 100 100 125 114 107 87 112 dar. Unternehmensdienstl. 100 88 139 115 103 84 120 dar. Öffentl. Verwaltung, Verteidigung, Sozialvers. 100 97 112 112 119 96 112 Quelle: eigene Berechnungen nach Statistische Ämter der Länder (2007) 3 3 Berechnungsbeispiel: Das durchschnittliche Bruttolohn- bzw. -gehalt im Verarbeitenden Gewerbe Berlins lag im Jahr 2006 bei 40.506 Euro (=100), in Hamburg dagegen bei 45.531 Euro (entsprechend 112% des Berliner Niveaus). 12

Diese wirtschaftszweigbezogenen Einkommenshöhen sind ein erster Hinweis darauf, dass in Berlin schlecht entlohnte Beschäftigungsverhältnisse häufiger vertreten sind als in den anderen Vergleichsstädten und darüber hinaus in fast allen Wirtschaftszweigen anzutreffen sind. 1.2 Segmente prekärer Beschäftigung Prekarität von Beschäftigung umfasst verschiedene Dimensionen, die von den zeitlichen Arbeitsbedingungen über die arbeitsrechtliche Absicherung bis hin zum Einkommen reichen können. Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Kurzstudie ist auftragsgemäß vor allem die Einkommensdimension. Geringfügig entlohnte Beschäftigung Bei geringfügig entlohnter Beschäftigung, den so genannten Mini-Jobs, handelt es sich um Beschäftigungsverhältnisse, bei denen das monatliche Arbeitsentgelt regelmäßig unter 400 Euro liegt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Personen, die ausschließlich einer solchen Beschäftigung nachgehen und denen, die ergänzend zu einem anderen Beschäftigungsverhältnis einen Mini-Job ausüben. Die folgenden Daten zeigen die Verbreitung von geringfügig entlohnter Beschäftigung in Berlin und in den Vergleichsstädten. Übersicht 4 Geringfügig entlohnte Beschäftigte am Wohnort Geringfügig entlohnte Beschäftigung im Großstadtvergleich (30.6.2006) Berlin Bremen Frankfurt am Main Hamburg Köln Leipzig München 185.263 58.636 48.963 135.755 85.418 31.318 111.471 dar. ausschließlich 137.049 42.428 30.386 90.682 59.711 25.003 64.125 dar. im Nebenjob 48.214 16.208 18.577 45.073 25.707 6.315 47.346 Geringfügig entlohnte Beschäftigte am Arbeitsort 192.172 69.525 67.006 149.897 95.803 42.562 126.089 dar. ausschließlich 141.390 49.501 42.027 100.385 66.534 33.915 74.786 dar. im Nebenjob 50.782 20.024 24.979 49.512 29.269 8.647 51.303 Quelle: Internetangebot der Bundesagentur für Arbeit (http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/200612/iiia6/sozbe/geb_gem_d.xls) Strukturell ist interessant, dass sich in Berlin mit 74% nach Leipzig (80%) die größten Anteile von ausschließlich geringfügig entlohnten an allen geringfügig entlohnten Beschäftigen finden. Auf ähnlich hohe Anteile kommen unter den westdeutschen Großstädten nur Bremen (72%) und Köln (70%), wohingegen die entsprechenden Anteile in Hamburg (67%), Frankfurt am Main (62%) und vor allem München (58%) deutlich geringer sind. Mit dieser stadtspezifischen Struktur von geringfügig entlohnter Beschäftigung in Berlin sind, wie noch zu zeigen sein wird, auch außerordentlich hohe Anteile an ergänzende Transfereinkommen Beziehenden (so genannte Aufstocker/innen) verbunden. 13

Gemessen an ihrem Anteil an allen Erwerbstätigen am Arbeitsort ist ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigung am stärksten in Bremen präsent (13%). Einen ähnlich hohen Anteil weist Leipzig auf (12%). Auch in Köln (10%), Berlin, Hamburg (jeweils 9%) sowie München (8%) und Frankfurt am Main (7%) ist ausschließlich geringfügige Beschäftigung stark vertreten. Geringfügig entlohnte Beschäftigung ist in vielen Fällen mit nicht existenzsichernden Einkommen verbunden, die dazu führen, dass die betreffenden Personen bzw. Haushalte ergänzende Transferleistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beziehen müssen, um ihren Lebensunterhalt sichern zu können. In dieser Hinsicht steht Berlin, wie die folgende Übersicht 5 zeigt, im Städtevergleich sowohl absolut als auch relativ gesehen an unrühmlicher erster Stelle. In Berlin bezogen im April 2007 mehr als 43.100 ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigte wegen nicht existenzsichernder Arbeitseinkommen ergänzende Transferleistungen nach dem SGB II, während es in Hamburg (13.230), Köln (9.715), Bremen (8.389) und Leipzig (7.447), vor allem aber in München (4.951) und in Frankfurt am Main (4.565) deutlich weniger Personen waren. Aus den statistischen Daten ist jedoch nicht ersichtlich, ob Arbeitslosengeld II wegen einer geringfügig entlohnten Beschäftigung gezahlt wird, oder ob die Aufnahme eines Mini-Jobs wegen des Arbeitslosengeld II-Bezugs gewählt wurde. In keiner anderen Vergleichsstadt, mit Ausnahme des sächsischen Leipzig (30,3%), muss ein annähernd so großer Anteil an den ausschließlich geringfügig Beschäftigten zur Sicherung des Existenzminimums ergänzende Transferleistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen wie in Berlin (31,6%). In Bremen sind es 19,9%, in Köln 16,3%, in Frankfurt am Main 15,1%, in Hamburg 14,8% und in München lediglich 7,7%. Übersicht 5 Anzahl und Anteil ausschließlich geringfügig entlohnter Beschäftigter mit ergänzenden Transferleistungen aus dem SGB II im Großstadtvergleich (April 2007) 50.000 40.000 30.000 ausschließlich geringfügig entlohnte "Aufstocker/innen" Anteil "Aufstocker/innen" an allen ausschließlich geringfügig entlohnten (in %) 35,0 30,0 25,0 20,0 20.000 10.000 15,0 10,0 5,0 0 Berlin Leipzig Bremen Frankfurt am Main Hamburg Köln München 0,0 Quelle: Internetangebot der Bundesagentur für Arbeit (http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/200704/iiia7/ehb-einkommend.xls 14

Etwa 49% der ergänzende Transferleistungen erhaltenden ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten in Berlin sind Frauen und entsprechend 51% Männer. Gemessen an ihrem Anteil an allen ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten (55%), sind Frauen damit unterproportional vertreten. Dies hängt in erster Linie mit der Rechtskonstruktion der Bedarfsgemeinschaften zusammen, wonach jemand nur in Abhängigkeit von der Höhe des (etwaigen) Partnereinkommens eigenständige Transferleistungen erhält; dies trifft in der Regel Frauen. Etwa 22% der ergänzende Transferleistungen erhaltenden ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten in Berlin sind Ausländer/innen. Gemessen an ihrem Anteil an allen ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten (13%) sind Ausländer/innen damit deutlich überproportional vertreten. 4 Schließlich zeigt sich, dass in Berlin 10% aller ergänzende Transferleistungen beziehenden ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten junge Menschen unter 25 Jahre sind. Gemessen an ihrem Anteil an allen ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten (21%) ist diese Personengruppe damit unterproportional vertreten. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung Auch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, d. h. ein Beschäftigungsverhältnis mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 15 Stunden, führt nicht immer zu existenzsichernden Arbeitseinkommen. Nicht zuletzt aufgrund des gesamtwirtschaftlich geringen Einkommensniveaus 5 in der Stadt sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Berlin von diesem Phänomen des bundesdeutschen Beschäftigungssystems in stärkerem Maße betroffen als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in den anderen Vergleichsstädten. In Berlin bezogen im April 2007 fast 58.900 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wegen nicht existenzsichernder Arbeitseinkommen ergänzende Transferleistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende, während es in Hamburg (19.958), Leipzig (10.201), Bremen (8.672), Köln (8.540), München (7.891) und Frankfurt am Main (7.114) deutlich weniger waren. Auch in diesem Beschäftigungssegment gilt: Nur in der Vergleichsstadt Leipzig (6,6%) muss ein annähernd so großer Anteil an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zur Sicherung des Existenzminimums ergänzende Transferleistungen nach dem SGB II beziehen wie in Berlin (6,2%). In Bremen sind es demgegenüber 4,5%, in Hamburg 3,6%, in Frankfurt am Main 3,2%, in Köln 2,7% und in München sogar nur 1,6%. 4 5 Daten zu allen Personen mit Migrationshintergrund liegen nicht vor. Vergleiche dazu Abschnitt 1.1. 15

Übersicht 6 70.000 Anzahl und Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter mit ergänzenden Transferleistungen aus dem SGB II im Großstadtvergleich (April 2007) 7,0 60.000 50.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte "Aufstocker/innen" Anteil "Aufstocker/innen" an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (in %) 6,0 5,0 40.000 4,0 30.000 3,0 20.000 2,0 10.000 1,0 0 Berlin Leipzig Bremen Frankfurt am Main Hamburg Köln München 0,0 Quelle: Internetangebot der Bundesagentur für Arbeit (http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/200704/iiia7/ehb-einkommend.xls) Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass nicht existenzsichernde Arbeitseinkommen nicht etwa vorrangig bei sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten anzutreffen sind: Für Berlin gilt vielmehr, dass unter den insgesamt 59.600 ergänzende Transferleistungen nach dem SGB II erhaltenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit 41.600 Personen (70%) sogar mehr Vollzeitbeschäftigte sind als Teilzeitbeschäftigte (18.000 bzw. 30%). Dies dürfte vorrangig mit der Rechtskonstruktion der Bedarfsgemeinschaft zusammen hängen, so dass Teilzeitbeschäftigte überproportional häufig zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes zuächst auf das (etwaige) Partnereinkommen verwiesen werden. Etwa die Hälfte der ergänzende Transferleistungen beziehenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind in Berlin Frauen und entsprechend die andere Hälfte Männer. Dies entspricht annähernd auch dem Geschlechterverhältnis aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. 20% der ergänzende Transferleistungen beziehenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berlin sind Ausländer/innen. Gemessen an ihrem Anteil an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (6%) sind Ausländer/innen damit mehr als doppelt so häufig vertreten, was vermutlich ein Hinweis auf besonders geringe sozialversicherungspflichtige Einkommen von Ausländer/innen ist. 16

Junge Berliner/innen unter 25 Jahre sind zu etwa 15% unter den ergänzende Transferleistungen beziehenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten vertreten Gemessen an ihrem Anteil an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (11%), ist diese Personengruppe damit überproportional vertreten. Dies könnte ein Hinweis auf das Senioritätsprinzip in diesem Beschäftigungssegment sein, wonach jüngere Beschäftigte im Durchschnitt geringere Arbeitseinkommen beziehen als Ältere. 6 Selbstständigkeit Ein Teil der selbstständig Erwerbstätigen realisiert so geringe Erwerbseinkommen, dass dieser Personenkreis zur Sicherung des Existenzminimums ebenfalls auf ergänzende Transferleistungen nach dem SGB II angewiesen ist. Im April 2007 betraf dies in Berlin immerhin 8.402 Selbstständige. In den Vergleichsstädten lagen die entsprechenden Zahlen deutlich geringer, und zwar in Hamburg 1.714, Leipzig 1.429, Bremen 940, Köln 863, München 798 und Frankfurt am Main 498. Übersicht 7 Anzahl und Anteil selbstständig Erwerbstätiger mit ergänzenden Transferleistungen aus dem SGB II im Großstadtvergleich (April 2007) 9.000 6.000 selbstständig erw erbstätige "Aufstocker/innen" Anteil "Aufstocker/innen" an allen Selbstständigen (in %) 6,0 5,0 4,0 3,0 3.000 2,0 1,0 0 Berlin Leipzig Bremen Frankfurt am Main Hamburg Köln München 0,0 Quelle: eigene Berechnungen nach Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder und Internetangebot der Bundesagentur für Arbeit (http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/200704/iiia7/ehb-einkommend.xls Während in Berlin mehr als 5% aller Selbstständigen wegen geringer Einkommen ergänzende Transferleistungen nach dem SGB II beziehen müssen, sind es in der sächsischen Großstadt Leipzig knapp 5% und in den westdeutschen Vergleichsstädten nur zwischen 1% und 2%. 6 Siehe dazu Kapitel 3. 17

Mit den vorstehend benannten absoluten und relativen Indikatoren zu selbstständigen Aufstocker/innen kommt zum Ausdruck, dass Berlin nicht nur im Segment der abhängigen, sondern auch im Segment der selbstständigen Beschäftigung die Hauptstadt prekärer Beschäftigung ist. Zusammenfassung: Erwerbstätige mit nicht existenzsichernden Erwerbseinkommen Werden die vorstehenden Daten addiert, so zeigt sich, dass im April 2007 in Berlin etwa 110.400 Menschen trotz Erwerbstätigkeit wegen nicht existenzsichernder Erwerbseinkommen zur Sicherung des Lebensunterhaltes auf ergänzende Transferleistungen nach dem SGB II angewiesen waren. Dies betraf damit immerhin 7% aller Erwerbstätigen in der Stadt. Nur das sächsische Leipzig (6,9%) kommt im Städtevergleich auf einen ähnlich hohen Wert. Demgegenüber waren die entsprechenden Anteile von Erwerbstätigen mit nicht existenzsichernden Einkommen in den westdeutschen Vergleichsstädten Bremen (4,7%), Hamburg (3,3%), Köln (3%), Frankfurt am Main (2,1%) und München (1,5%) deutlich niedriger (Übersicht 8). Im Hinblick auf das Einkommensniveau ähnelt die Bundeshauptstadt Berlin dem ostdeutschen Leipzig und kann bezüglich der erzielbaren Erwerbseinkommen weder mit solchen westdeutschen Wachstumszentren wie Frankfurt am Main, Hamburg und München noch mit Köln oder dem Haushalts-Notlage-Land Bremen mithalten. Berlin muss damit zweifelsfrei als Hauptstadt prekärer Beschäftigung bezeichnet werden in keiner anderen deutschen Großstadt ist ein ähnlich großer Anteil von Erwerbstätigen aufgrund geringer Erwerbseinkommen auf ergänzende Transferleistungen zur Existenzsicherung angewiesen (Übersicht 8). Die unrühmliche Spitzenposition von Berlin im Kommunalranking des aktuellen Schuldenkompass der Schufa (http://www.schulden-kompass.de) ist eine der Kehrseiten dieser weitgehenden Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse in der Stadt. 7 Übersicht 8 Aufstocker/innen insgesamt (April 2007) Erwerbstätige am Arbeitsort (2006) Anteil Aufstocker/innen an Erwerbstätigen in % Erwerbstätige mit ergänzenden Transferleistungen nach dem SGB II im Großstadtvergleich Berlin Bremen Frankfurt am Main Hamburg Köln Leipzig München 110.400 18.000 12.200 34.900 19.100..19.100 13.600 1.571.500 382.200 587.800 1.063.100 634.100 275.300 926.100 7,0 4,7 2,1 3,3 3,0 6,9 1,5 Quelle: eigene Berechnungen nach Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder und Internetangebot der Bundesagentur für Arbeit (http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/200704/iiia7/ehb-einkommend.xls 7 Nach Angaben der SCHUFA zählen 13% der Berliner Einwohner zu den Risikogruppen mit Verschuldung, davon gehören 6,4% zur höchsten Risikogruppe. Die entsprechenden Werte in den Vergleichsstädten lauten wie folgt: Bremen 10% bzw. 4,9%, Frankfurt am Main 10,4% bzw. 4,4%, Hamburg 9,3% bzw. 4,5%, Köln 10,2% bzw. 4,7%, Leipzig 10,4% bzw. 5,5% sowie München 7,7% bzw. 3,2%. Vergleiche dazu http://www.schulden-kompass.de 18

Die Dunkelziffer von Erwerbstätigen mit nicht existenzsichernden Einkommen dürfte sogar noch über diesen Zahlen liegen, da bekannt ist, dass gerade höher qualifizierte Personen aus unterschiedlichen Gründen auf die ihnen zustehenden Transferleistungen verzichten. Einen Anhaltspunkt für die Gesamtzahl der erwerbstätigen Niedrigeinkommensbezieher/innen liefert der Mikrozensus. Danach haben im April 2006 insgesamt 362.900 Berliner/innen bzw. 24,9% aller Erwerbstätigen ein monatliches Nettoerwerbseinkommen von weniger als 900 Euro bezogen. 8 Während bei Frauen der Anteil solcher Niedrigeinkommensbezieherinnen zu diesem Zeitpunkt bei 28,6 % lag, waren es bei Männern mit 21,5 % deutlich weniger. Vergleichbare Angaben gibt es auf Grundlage dieser Datenquelle nur für Bremen und Hamburg. In diesen beiden Großstädten bezogen zum gleichen Zeitpunkt 23,9% (Bremen) bzw. 23,4% (Hamburg) aller Erwerbstätigen monatliche Nettoerwerbseinkommen von weniger als 900 Euro. Die in vierjährlichem Rhythmus von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder durchgeführte Gehalts- und Lohnstrukturerhebung lässt präzisere Informationen zu Umfang und Struktur der Niedrigeinkommensbezieher/innen zu (Hafner/Lenz 2007). Die gegenwärtig verfügbaren Daten stammen allerdings aus dem Jahr 2002 und sind daher für die Zwecke der vorliegenden Kurzstudie nicht mehr aktuell. Neuere Daten, für das Jahr 2006, werden voraussichtlich im zweiten Halbjahr 2008 veröffentlicht. 8 Dieser statistisch im Mikrozensus ausgewiesene Betrag von 900 Euro ist auch insofern eine geeignete Abgrenzungsgröße, als das er annähernd dem derzeit gültigen Pfändungsfreibetrag entspricht. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Niedrigeinkommen nicht zwingend mit Niedriglöhnen einher gehen müssen; beispielsweise spielt die Dauer der Arbeitszeit als weiterer wichtiger Einflussfaktor eine wichtige Rolle (Vollzeit, Teilzeit). 19

2 Beschäftigungssegmente und prekäre Beschäftigung in Berlin 2.1 Entwicklung der Beschäftigungsformen auf den Berliner Arbeitsmärkten In den vergangenen Jahren haben sich in Berlin die verschiedenen Beschäftigungsformen sehr unterschiedlich entwickelt. Beschäftigungsformen mit wachsendem Gewicht stehen solche gegenüber, die an Bedeutung verloren haben. In den beiden folgenden Abschnitten wird aufgezeigt, dass sowohl im regulären Arbeitsmarkt als auch im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor deutliche Prekarisierungstendenzen zu verzeichnen sind. 2.1.1 Bedeutungszuwachs von prekären Beschäftigungsformen Die Erwerbstätigenzahl hat sich in der Bundeshauptstadt zwischen den Jahren 2000 und 2003 zunächst verringert. Seit dem Jahr 2004 ist demgegenüber wieder ein Anstieg zu registrieren. Im Ergebnis dieser Entwicklungen lag die Erwerbstätigenzahl in 2007 mit 1.605.600 um 30.200 bzw. 1,9% über derjenigen des Jahres 2000 (1.575.400). Übersicht 9 Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen in Berlin 2000-2007 1.500.000 1.250.000 1.000.000 750.000 Erw erbstätige Arbeitnehmer/innen Selbstständige 500.000 250.000 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 Quelle: Amt für Statistik Berlin Brandenburg (2007b: 8) Wie die vorstehende Übersicht verdeutlicht, ist das Beschäftigungssegment der Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen im Betrachtungszeitraum kontinuierlich angewachsen von 168.100 im Jahr 2000 auf 226.000 im Jahr 2006. 9 Der absolute Zuwachs betrug damit 57.900 und der relative Zuwachs 34,4%. Besonders kräftige Beschäftigungsgewinne hatte dieses Segment in den Jahren 2004 und 2005 zu verzeichnen, die auf die massive Förderung der Selbstständigkeit in Form der so genannten ICH-AG zurück zu führen waren. 9 Für die einzelnen Beschäftigungssegmente hat der Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung für das Jahr 2007 noch keine Zahlen vorgelegt. 20

Demgegenüber ist das Beschäftigungssegment der Arbeitnehmer/innen von 2000 bis 2005 geschrumpft. Erstmals im Jahr 2006 waren bei den Arbeitnehmer/innen wieder Beschäftigungsgewinne zu verzeichnen. Im Vergleich der Jahre 2000 und 2006 ist die Zahl der Arbeitnehmer/innen von 1.407.400 auf 1.345.500 zurückgegangen, was einem Rückgang von 61.900 bzw. -4,4% entspricht. Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind trotz der dramatischen Verluste in den Jahren 2000 bis 2005 nach wie vor das bedeutendste Beschäftigungssegment in Berlin. Der Anteil an der Erwerbstätigenzahl insgesamt ist jedoch von 72% in 2000 auf 65% in 2007 gesunken, die absolute Zahl von 1.137.100 im März 2000 auf 1.040.100 im März 2007 10 zurück gegangen. Das entspricht Verlusten in Höhe von 97.000 bzw. -8,5 %. Übersicht 10 Entwicklung der Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berlin 2000-2007 1.200.000 1.150.000 1.100.000 1.050.000 1.000.000 3-2000 9-2000 3-2001 9-2001 3-2002 9-2002 3-2003 9-2003 3-2004 9-2004 3-2005 9-2005 3-2006 9-2006 3-2007 Quelle: Internetangebot der Bundesagentur für Arbeit (http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/aktuell/iiia6/sozbe/zr_svb_heftd.xls) Leichte Zuwächse hat das Segment der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wieder seit Mitte des Jahres 2006 zu verzeichnen. Gleichwohl ist der Ausgangsbestand des Jahres 2000 noch lange nicht erreicht. Die zuletzt zu registrierenden Beschäftigungsgewinne bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind zu einem großen Teil auf die Zuwächse bei den so genannten Midi-Jobs 11 sowie im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung zurück zu führen: Zwischen Dezember 2005 und Dezember 2006 hat die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berlin um 27.467 zugenommen 34% dieses Zuwachses bzw. 9.494 neue Arbeitsplätze waren auf eine größere Anzahl von Midi-Jobs zurück zu führen, 29% bzw. 8.063 neue Arbeitsplätze gingen auf das Konto von mehr Leiharbeitnehmer/innen. 10 vorläufige Angaben 11 Midi-Jobs sind solche sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, deren Arbeitsentgelt über 400 Euro und bis zu 800 Euro liegt und für der/die Arbeitnehmer/in auf die Anwendung der Gleitzeitregelung nicht verzichtet hat. 21

Teilweise deutliche Beschäftigungsgewinne waren in den vergangenen Jahren bei den Midi- Jobs sowie bei den geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnissen festzustellen. Übersicht 11 Entwicklung der Anzahl der Midi-Jobs, der ausschließlich geringfügig Entlohnten sowie der im Nebenjob geringfügig Entlohnten in Berlin 2000-2007 150.000 120.000 90.000 60.000 Midi-Jobs geringfügig Entlohnte (ausschließlich) geringfügig Entlohnte (im Nebenjob) 30.000 0 3-2000 9-2000 3-2001 9-2001 3-2002 9-2002 3-2003 9-2003 3-2004 9-2004 3-2005 9-2005 3-2006 9-2006 3-2007 Quelle: Internetangebot der Bundesagentur für Arbeit (http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/200612/iiia6/sozbe/qheft11.xls#'njgebbl'!a1) Die vorstehende Übersicht verdeutlicht, dass die Anzahl der Midi-Jobs von 29.600 im Dezember 2003 auf 60.822 im Dezember 2006 angestiegen ist und sich damit mehr als verdoppelt hat (+105,5%). 12 Beschäftigte in derartigen Beschäftigungsverhältnissen erzielen lediglich Erwerbseinkommen zwischen 400 Euro und 800 Euro monatlich. Auch die Anzahl der im Nebenjob geringfügig Entlohnten hat stark zugenommen: 37.171 im Dezember 2003 standen 53.500 im Dezember 2006 gegenüber. Der Zuwachs betrug dementsprechend 43,9%. 13 Die Anzahl der ausschließlich geringfügig Entlohnten weist ebenfalls starke Zuwächse auf. Waren es im Dezember 2003 noch 121.617, so lag deren Zahl im Dezember 2006 bereits bei 142.826 (+17,4%). Diese teilweise außerordentlich starken Zuwachsraten haben sich eingestellt, seit dem auf der Grundlage der AGENDA 2010 und der so genannten Hartz-Reformen die steuer- und sozialversicherungsrechtliche Besserstellung von geringer entlohnten Beschäftigungsverhältnissen erfolgte. 12 Für die Midi-Jobs liegen erst seit 2003 Daten vor und zudem jeweils nur für den Monat Dezember. 13 Auch für dieses Beschäftigungssegment liegen Daten erst ab 2003 vor. 22

Auch in einem weiteren Beschäftigungssegment waren im Zuge von rechtlichen Weichenstellungen beträchtliche Zuwächse bei den Beschäftigungszahlen zu registrieren: Durch die mehrfache Deregulierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes hat in der Region Berlin- Brandenburg die Anzahl der Leiharbeitnehmer/innen erheblich zugenommen: Wurden im Dezember 2000 erst 12.251 gezählt, so waren es im Dezember 2006 bereits 26.991 und damit 120% mehr. Untersuchungen zu diesem Beschäftigungssegment zeigen, dass Arbeitnehmerüberlassung häufig mit prekären Arbeits- und Entlohnungsbedingungen einher geht. Vor allem werden Leiharbeitnehmer/innen trotz gleicher Tätigkeit vielfach geringer entlohnt als die Stammbelegschaften der Entleihunternehmen. 14 Wird zusammenfassend die Entwicklung der einzelnen Beschäftigungssegmente im Vergleich betrachtet, so zeigt sich für den Zeitraum von Ende 2003 bis Ende 2006 folgendes Bild. Übersicht 12 Entwicklung der verschiedenen Beschäftigungssegmente in Berlin von 2003 bis 2006 220 211 Midi-Jobs 2003 = 100 200 180 160 140 120 100 205 144 122 117 103 95 geringfügig Entlohnte (ausschließlich) geringfügig Entlohnte (im Nebenjob) sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (ohne Midi-Jobs) Selbstständige Erw erbstätige insgesamt 80 Leiharbeitnehmer/innen 2003 2004 2005 2006 Quelle: eigene Berechnungen Bei einer leicht anwachsenden Erwerbstätigenzahl (+3%) ist die Anzahl der Beschäftigten im so genannten Normalarbeitsverhältnis (sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ohne Midi-Jobs) rückläufig (-5%). Deutliche Beschäftigungszuwächse sind demgegenüber bei den Selbstständigen festzustellen (+22%). Hohe Zuwächse sind auch bei denjenigen Beschäftigungsformen anzutreffen, die weniger reguliert sind und vor allem mit geringeren, vielfach nicht existenzsichernden Erwerbseinkommen verbunden sind. Auf die stärksten Beschäftigungszuwächse kamen im Zeitraum 2003 bis 2006 die Leiharbeit (+111%) und die Midi-Jobs (+105%). Große Beschäftigungsgewinne waren darüber hinaus bei den im Nebenjob geringfügig Entlohnten (+44%) und bei den ausschließlich geringfügig Entlohnten (+17%) festzustellen. 14 Vergleiche dazu IG Metall Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen 2007. 23