Lebensstile und gesellschaftliche Partizipation im Ruhestand Harald Künemund Hochschule Vechta Institut für Gerontologie Zentrum Altern und Gesellschaft
Hintergrund Zunahme des Anteils und der Anzahl älterer Menschen Steigende durchschnittliche Lebenserwartung Zumindest bislang nur moderat steigende Erwerbsaustrittsalter Lebensphase Ruhestand : ein eigenständiger, im Schnitt etwa 20-jähriger Lebensabschnitt, in dem sich bald fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung befindet, und zwar mit zunehmend besserer Bildung, besserer Gesundheit und zumindest bisher auch mit besserer materieller Absicherung. Structural lag, neue Partizipationsformen und zunehmende Ausdifferenzierung von Lebensstilen?
Pflegebedarf nach Alter 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0% < 15 15-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-84 85-89 90-94 >94 Männer Frauen Quelle: Pflegestatistik 2005
Erwerbsquoten: Männer 60 bis 64 Jahre 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1972 1974 1976 Quelle: OECD labour force participation rates 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 Germany France UK Italy Sweden Spain USA EU 15
Erwerbsquoten: Frauen 60 bis 64 Jahre 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1972 1974 1976 Quelle: OECD labour force participation rates 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 Germany France UK Italy Sweden Spain USA EU 15
Erwerbstätigkeiten 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2006), Alters-Survey 1996 und 2002
Ehrenamtliches Engagement 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2006), Alters-Survey 1996 und 2002
Ehrenamtliches Engagement (alte Länder) 20 % 15 % 10 % 5 % 0 % 1985 1986 1988 1990 1992 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2001 2003 2005 Jede Woche Jeden Monat Seltener Quelle: Künemund/Schupp (2008), SOEP 1985 bis 2005
Ehrenamtliches Engagement (neue Länder) 20 % 15 % 10 % 5 % 0 % 1990 1992 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2001 2003 2005 Jede Woche Jeden Monat Seltener Quelle: Künemund/Schupp (2008), SOEP 1985 bis 2005
Mindestens monatliche ehrenamtliche Tätigkeit 1985, 1995 und 2005 (logistische Regressionen, odds ratios außer bei den Konstanten) 1985 1995 2005 Ostdeutschland (Ref.: Westdeutschland).65**.67** Frauen (Ref.: Männer).43**.53**.71** Nationalität (Ref.: Deutsch).29**.37**.42** Altersgruppe (Ref.: 35-49 Jahre) 16-34 Jahre.64**.67**.75** 50-64 Jahre.72** 1.08 1.30** 65-79 Jahre.43**.87 1.28** über 79 Jahre.20**.27**.47** Bildung (Ref.: geringer als Realschule) Realschule bzw. Fachhochschulreife 1.70** 1.44** 1.32** Abitur 1.47** 1.54** 1.55** Erwerbsstatus (Ref.: nicht erwerbstätig) erwerbstätig 1.07 1.02 1.07 geringfügig erwerbstätig 1.77* 1.79** 1.82** arbeitslos.55*.61**.64** Gesundheitliche Beeinträchtigung (Ref.: Nein).89.80*.66** Konstante -.33 -.37 -.65 Pseudo r² (Nagelkerke).11.07.05 N 11.090 13.768 21.105 Quelle: SOEP 1985, 1995 und 2005, gewichtet (*: p<.05; **: p<.001); Künemund/Schupp (2008)
Mitgliedschaften in Vereinen und Verbänden 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2006), Alters-Survey 1996 und 2002
Mitgliedschaften in informellen Gruppen 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2006), Alters-Survey 1996 und 2002
Pflegetätigkeiten 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2006), Alters-Survey 1996 und 2002
(Enkel-)Kinderbetreuung 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2006), Alters-Survey 1996 und 2002
Besuch von Kursen oder Vorträgen 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2006), Alters-Survey 1996 und 2002
Private Beschäftigung mit Computern 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2006), Alters-Survey 1996 und 2002
Künstlerische Betätigung, z.b. malen, musizieren 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2008), Alters-Survey 1996 und 2002
Konzerte, Theater, Oper, Museen, Galerien 100 90 2002 80 70 60 50 40 1996 30 20 10 0 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Altersgruppen Quelle: Künemund (2008), Alters-Survey 1996 und 2002
Lebensstile Neue Formen altersspezifischer Partizipation stoßen auf geringen Zuspruch. Seniorengenossenschaften, -selbsthilfe, politisches Engagement oder selbstorganisierte Bildung usw. sind empirisch betrachtet seltene Ausnahmen. Mitgliedschaften wie auch Engagements konzentrieren sich bei den Männern im traditionellen altersunspezifischen Bereich (z.b. Sportvereine, gesellige Vereinigungen usw.), bei Frauen ebenfalls, wenn auch etwas häufiger im alterspezifischen Bereich (z.b. Seniorentreff, Tanz).
Lebensstile Bislang auch sonst kaum Anzeichen für neue Freizeitstile im Alter überwiegend ähneln die Tätigkeitsmuster dem traditionellen Altersbild. Die häufigsten Tätigkeiten im Alter sind Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften lesen, Radio hören, Spazierengehen und Besuche bei Bekannten und Verwandten. Mit zunehmendem Alter häufiger werden nur Fernsehen und das Lösen von Kreuzworträtseln und Denksportaufgaben. Zumindest in jüngeren Altersgruppen waren aber zahlreiche Stilisierungen und distinktive Geschmäcker erkennbar (z.b. Punker, Grufties usw.), im mittleren Alter ist dies aber offenbar bereits weniger stark ausgeprägt, im Alter noch kaum erkennbar. Für Prognosen entscheidend: Alters- oder Kohorteneffekte?
Beispiel 1
Lebensstile: Bücher lesen - Altersgruppenvergleich 100 % 80 % 60 % 40 % 20 % 0 % Periode: '85 '95'05 '85'95 '05 '85'95'05 '85'95'05 '85 '95'05 '85'95 '05 '85 '95'05 Alter: 14-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70+ Mehrmals pro Woche Mehrmals pro Monat Seltener Quelle: Media Analyse 1985, 1995 und 2005
Lebensstile: Bücher lesen - Kohortenvergleich 100 % 80 % 60 % 40 % 20 % 0 % Periode: '85 '95 '05 '85 '95 '05 '85 '95'05 '85 '95 '05 '85 '95 '05 '85 '95 '05 '85 '95 '05 Kohorte: '86-'91 '75-'85 '66-'75 '56-'65 '46-'55 '36-'45 < '36 Mehrmals pro Woche Mehrmals pro Monat Seltener Quelle: Media Analyse 1985, 1995 und 2005
Lebensstile: Stilpräferenzen Faktorenanalyse ausgewählter Lese- und Fernsehpräferenzen Niveaumilieu Unterhaltungsmilieu Fernsehen: Fernseh-Shows, Quizsendungen -,115,682 Fernsehen: Talk-Shows,199,598 Fernsehen: Unterhaltungsserien -,200,636 Lesen: Neues aus dem Leben bekannter Menschen,036,624 Fernsehen: Kunst- und Kultursendungen,769,032 Fernsehen: Klassische Musik, Oper, Theater,651,013 Lesen: Kultur, Kunst,745,005 Lesen: Klassische oder moderne Literatur,550 -,104 Quelle: Alterssurvey 2002
Lebensstile: Altersgruppenvergleich 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % 5 % 0 % 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Niveaumilieu Unterhaltungsmilieu Quelle: Alterssurvey 2002
Lebensstile: Altersgruppenvergleich (Männer) 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % 5 % 0 % 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Niveaumilieu Unterhaltungsmilieu Quelle: Alterssurvey 2002
Lebensstile: Altersgruppenvergleich (Frauen) 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % 5 % 0 % 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 80-85 Niveaumilieu Unterhaltungsmilieu Quelle: Alterssurvey 2002
Fazit Es spricht einiges für eine zunehmende Stilisierung und Differenzierung von Lebensstilen. Das Ausmaß jedoch bleibt schwer abzuschätzen, da praktisch noch keine Erfahrungswerte vorliegen. Bislang fehlen verlässliche Daten auf repräsentativer Basis fast völlig die Älteren sind in Lebensstiluntersuchungen noch kaum eine Thema. Es fehlt insbesondere an verlässlichen Längsschnittdaten. Die methodischen Probleme der Klassifikation von Lebensstilen sind noch nicht zufrieden stellend gelöst.
Fazit Wird das durchschnittliche Rentenzugangsalter steigen, könnte sich dies auch zu niedrigeren Partizipationsquoten der jungen Alten führen, die nun wieder weniger Freizeit hätten. Auch die deutliche Absenkung des Rentenniveaus wird sich wahrscheinlich sozial differenziert in geringeren Engagement- und Partizipationsquoten niederschlagen. Ohnehin spricht einiges dafür, dass nicht nur konsumfreudige und -fähige Ältere, sondern auch Benachteiligte quantitativ an Bedeutung gewinnen werden. Töchter ökonomisch Benachteiligter aus den geburtenstarken Jahrgängen wären wahrscheinlich besonders betroffen.
Literatur Harald Künemund (2006): Partizipation und Engagement älterer Menschen. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Gesellschaftliches und familiäres Engagement älterer Menschen als Potenzial. Expertisen zum 5. Altenbericht der Bundesregierung Band 5. Berlin: Lit Verlag, 283-431. Harald Künemund (2008): Bildung und Produktivität im Alter Ergebnisse der Alterssurveys. Erscheint In: Gembris, Heiner (Hrsg.): Musik und Alter: Berufliche, gesundheitliche und kulturelle Perspektiven. Frankfurt: Lang. Harald Künemund & Jürgen Schupp (2008): Konjunkturen des Ehrenamts Diskurse und Empirie. In: Marcel Erlinghagen & Karsten Hank (Hrsg.): Produktives Altern und informelle Arbeit in modernen Gesellschaften. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 145-163.