349 84 Distributionen 84. Motivation. a) In 80.9 b) wurde bemerkt, daß für die Lösung der Wellengleichung zu gewissen Anfangsdaten eine Erweiterung des Differenzierbarkeitsbegriffs notwendig ist. Im Rahmen der von L. Schwartz um 950 entwickelten Theorie der Distributionen lassen sich alle lokal integrierbaren Funktionen differenzieren, wobei die Ableitungen allerdings i. a. keine Funktionen im klassischen Sinn sind. b) Funktionen f auf einer offenen Menge Ω R n ordnen jedem Punkt x Ω einen Wert f(x) C zu. Lokal integrierbare Funktionen f L loc (Ω) ordnen aber auch jeder Testfunktion ϕ D(Ω) = Cc (Ω) den Wert u f (ϕ) := Ωf(x)ϕ(x)dx C () zu. Da man in beliebigen Punkten zentrierte Dirac-Folgen als Testfunktionen wählen kann, enthält die Linearform u f : D(Ω) C alle wesentlichen Informationen über f ; in der Tat wird f durch u f bis auf Nullfunktionen festgelegt (vgl. Satz 83.3). c) Für f C (Ω) und ϕ D(Ω) liefert partielle Integration u j f(ϕ) = Ω jf(x)ϕ(x)dx = Ω f(x) jϕ(x)dx. (2) Die rechte Seite von (2) ist aber für jede lokal integrierbare Funktion f L loc (Ω) definiert, und man faßt die Linearform ϕ Ω f(x) jϕ(x)dx (3) alsableitungvonf nachx j auf.dieseisteineverallgemeinerte FunktionoderDistribution auf Ω, d. h. eine Linearform auf D(Ω), die einer gewissen Stetigkeitsbedingung genügt. 84.2 Distributionen. a) Für eine kompakte Menge K R n sei D(K) := {ϕ C (R n ) suppϕ K} (4) der Raum der C -Funktionen mit Träger in K. Für eine offene Menge Ω R n ist dann der Raum der Testfunktionen gegeben durch D(Ω) = {D(K) K Ω kompakt}. (5) b) Eine Folge (ϕ j ) in D(Ω) heißt Nullfolge in D(Ω), falls es eine feste kompakte Menge K Ω mit ϕ j D(K) für alle j N gibt und für alle m N 0 gilt: ϕ j K,m := sup α ϕ j (x) 0. (6) x K c) Eine Linearform u : D(Ω) C heißt Distribution, wenn sie stetig ist, also die folgende Bedingung erfüllt: ϕ j 0 in D(Ω) u(ϕ j ) 0 in C. (7) Mit D (Ω) wird der Raum aller Distributionen auf Ω bezeichnet.
350 84.3 Beispiele und Bemerkungen. a) Für f L loc (Ω) wird durch () eine Distribution u f D (Ω) definiert. Die Abbildung j : L loc (Ω) D (Ω), j(f) := (u f : ϕ Ωf(x)ϕ(x)dx), (8) ist nach Satz 83.3 injektiv auf dem Quotientenraum L loc (Ω) := Lloc (Ω) /N von L loc (Ω) modulo Nullfunktionen. (Äquivalenzklassen von) Funktionen f Lloc (Ω) können also mit den Distributionen u f D (Ω) identifiziert werden, und man schreibt oft einfach f statt u f. b) Eine Linearform u : D(Ω) C ist genau dann eine Distribution, wenn es zu jeder kompakten Menge K Ω ein m = m(k) N 0 und ein C 0 gibt mit u(ϕ) C ϕ K,m für alle ϕ D(K). (9) Kann für alle kompakten Mengen K Ω das gleiche m N 0 gewählt werden, so heißt das minimale derartige m N 0 die Ordnung von u. c) Die Dirac-Funktionale oder δ-funktionale δ a : ϕ ϕ(a), a R n, (0) sind Distributionen der Ordnung 0 auf R n. Für a = 0 schreibt man einfach δ := δ 0 D (R n ). In der Elektrostatik beschreibt qδ a eine Punktladung q > 0 im Punkte a R n. d) Ein Dipol in a R mit Moment wird als Grenzfall für ε 0 der Punktladungen in a+ε und ε in a aufgefaßt. Wegen ε u ε (ϕ) := ε (δ a+ε(ϕ) δ a (ϕ)) ϕ (a) für ϕ D(R) wird er durch die folgende Distribution erster Ordnung beschrieben: d a : ϕ ϕ (a), a R. () e) Durch die Formel u(ϕ) := ϕ (l) ( ), ϕ D(0,2), (2) l l= wird eine Distribution u D (0,2) definiert: Für eine Nullfolge (ϕ j ) in D(0,2) gibt es m N mit suppϕ j [,2 ] für alle j N, und daher folgt m m u(ϕ j ) = m l= ϕ (l) j ( ) 0 für j. l 84.4 Konvergente Folgen von Distributionen. a) Eine Folge (u k ) D (Ω) von Distributionen heißt konvergent, wenn für alle ϕ D(Ω) die Folge (u k (ϕ)) in C konvergiert. In diesem Fall wird durch u(ϕ) := lim k u k (ϕ), ϕ D(Ω), (3) eine Distribution u = lim n u k D (Ω) definiert. Die Stetigkeit von u ergibt sich aus dem Satz von Banach-Steinhaus (vgl. [], Band 3, 34.7 und 39.5). b)strebteinefolge(f k ) L loc (Ω) lokalim Mittelgegen0, d.h.gilt K f k(x) dx 0
35 für alle kompakten Mengen K Ω, so folgt offenbar auch u fk 0 in D (Ω). Die Konvergenz im Distributionssinn ist wesentlich schwächer als die lokale Konvergenz im Mittel oder auch die Konvergenz fast überall (vgl. Beispiel 84.5 e)). c) Für den Dipol aus 84.3d) gilt u ε := ε (δ a+ε δ a ) d a in D (R). d) Für eine Funktion f auf R n definiert man die gespiegelte Funktion durch ˇf : x f( x). (4) Für eine Dirac-Folge (δ k ) L (R n ) und ϕ D(R n ) gilt R nδ k(x)ϕ(x)dx = (δ k ˇϕ)(0) ˇϕ(0) = ϕ(0) nach Satz 79.4, also δ k δ in D (R n ). e) Die Funktion ist nicht lokal integrierbar auf R. Zu ϕ D[,R] gibt es x ϕ C(R) mit ϕ(x) = ϕ(0)+xϕ (x) für x R, und es folgt ϕ(x) x ε dx = ϕ(0) x ε x R dx + x ε x R ϕ (x)dx R ϕ (x)dx für ε 0 +. Folglich existiert der Grenzwert CH x := lim ε 0 +χ { x ε} x (5) in D (R); er heißt Cauchyscher Hauptwert der Funktion x. f) Für ε > 0 gilt R x±iε Lloc ϕ(x) x±iε dx = R = iϕ(0) (R). Für ϕ D[,R] hat man x iε x 2 +ε ϕ(x)dx 2 R ε x 2 +ε 2 dx+ R = 2iϕ(0) arctan R ε + R iπϕ(0)+ R ϕ (x)dx für ε 0 +. Folglich existieren die Grenzwerte x±i0 ϕ(x) ϕ(0) x±iε ϕ(x) ϕ(0) dx x±iε dx := lim (6) ε 0 + x±iε in D (R), und es gelten die Formeln = iπδ +CH, δ = ( ). (7) x±i0 x 2πi x i0 x+i0 84.5 Differentiation von Distributionen. a) Motiviert durch (2) erklären wir die Ableitung einer Distribution u D (Ω) nach der j-ten Variablen durch ( j u)(ϕ) := u( j ϕ) für ϕ D(Ω). (8) b) Aus ϕ k 0 in D(Ω) folgt auch j ϕ k 0 in D(Ω) und somit u( j ϕ k ) 0 in C; in (8) wird also in der Tat eine Distribution definiert. c) Die linearen Operatoren j : D (Ω) D (Ω) sind stetig in dem Sinne, daß aus u k u in D (Ω) auch j u k j u in D (Ω) folgt. Offenbar gilt i j = j i für
352 i, j n. Man beachte den Gegensatz zum klassischen Differenzierbarkeitsbegriff! d) Nach (2) gilt j u f = u j f für f C (Ω), und entsprechend hat man α u f = u α f für f C m (Ω) und α m. Die Distributionsableitungen stimmen also in diesen Fällen mit den klassischen Ableitungen überein. e) Es gilt k sinkx 0 gleichmäßig auf R, also auch k sinkx 0 in D (R). Aus c) folgt sofort auch coskx 0 in D (R) und durch weitere Differentiation k m sinkx 0 in D (R) für ungerade m N, tatsächlich sogar für alle m N. f) Für A L loc (R) und c > 0 liegt die Funktion u ± A : (x,t) A(x ± ct) in L loc (R2 ). Für k N wählt man ψ k D(R) mit k k A(y) ψ k(y) dy ; k dann gilt also u ± ψ k u ± A in Lloc (R2 ) und somit in D (R 2 ). Da die Funktionen u ± ψ k : (x,t) ψ k (x ± ct) die Wellengleichung ( t 2 c 2 x)u 2 = 0 lösen, folgt dann ( t 2 c2 x 2)u± A = 0 im Distributionssinn. g) In der Situation von f) sei v A (x,t) := x+ct 2c x ct A(y)dy. Offenbar gilt dann v ψk v A lokal gleichmäßig auf R 2 und somit in D (R 2 ). Da auch die Funktionen v ψk die Wellengleichung ( t 2 c 2 x)u 2 = 0 lösen, folgt dann auch ( t 2 c 2 x)v 2 A = 0 im Distributionssinn. h) Man kann zeigen, daß jede Distribution lokal eine endliche Summe von Ableitungen von stetigen Funktionen ist. 84.6 Multiplikation. a) Für a C (Ω) und u D (Ω) erklärt man das Produkt au D (Ω) durch (au)(ϕ) := u(aϕ) für ϕ D(Ω). (9) b) Aus ϕ k 0 in D(Ω) folgt aufgrund der Leibniz-Regel auch aϕ k 0 in D(Ω) und somit u(aϕ k ) 0 in C; in (9) wird also in der Tat eine Distribution definiert. c) Für a C (Ω), f L loc (Ω) und ϕ D(Ω) gilt (au f )(ϕ) = u f (aϕ) = Ω f(x)a(x)ϕ(x)dx = u af(ϕ); das Produkt af im Distributionssinn stimmt also mit dem (fast überall definierten) punktweisen Produkt überein. d) Für a C (Ω) und u D (Ω) gilt die Produktregel j (au) = ( j a)u+a j u; (20) in der Tat hat man für ϕ D(Ω): j (au)(ϕ) = (au)( j ϕ) = u(a j ϕ) = u(( j a)ϕ j (aϕ)) = ( j a)u(ϕ)+ j u(aϕ) = ( j a)u(ϕ)+a j u(ϕ). e) Für ϕ D(R) ist (xδ)(ϕ) = δ(xϕ) = 0, also xδ = 0. Weiter hat man z.b. (xδ )(ϕ) = δ (xϕ) = δ(ϕ+xϕ ) = δ(ϕ), also xδ = δ. f) Man hat x CH = ; in der Tat gilt für ϕ D(R) x (x CH xϕ(x) )(ϕ) = lim x ε 0 + x ε dx = x ϕ(x)dx = u (ϕ). g) Es ist (xδ)ch x = 0, aber (x CH x )δ = δ; auf D (R) kann daher eine kommutative und assoziative Multiplikation nicht definiert werden.
353 Bei linearen gewöhnlichen Differentialgleichungen mit C -Daten sind beliebige DistributionslösungenautomatischC -Funktionenundsomitklassische Lösungen.Dies beruht auf dem folgenden 84.7 Lemma. Es seien I R ein offenes Intervall und u D (I) mit u = 0. Dann ist u eine konstante Funktion. Beweis. a) Für ϕ D(I) setzt man ψ(x) := x ϕ(y)dy, x R. Aus (ϕ) = I ϕ(y)dy = 0 folgt dann ψ D(I), und die Voraussetzung u = 0 liefert u(ϕ) = u(ψ ) = u (ψ) = 0. b) Nun wählt man χ D(I) mit (χ) =. Für ϕ D(I) gilt dann (ϕ (ϕ)χ) = 0, nach a) also auch u(ϕ (ϕ)χ) = 0. Dies zeigt u(ϕ) = u(χ)(ϕ), also u = u(χ). 84.8 Satz. Es seien I R ein offenes Intervall, A C (I,M C (n)) und b C(I,C n ). Für ein Tupel u D (I) n von Distributionen gelte u +Au = b. (2) Dann ist u C (I,C n ) eine klassische Lösung von (2). Beweis. a) Zunächst sei A = 0. Mit einer Stammfunktion v C (I,C n ) von b gilt dann (u v) = 0, und aus Lemma 84.7 folgt u = v +c, c C n. b) Im allgemeinen Fall wählt man ein Fundamentalsystem Φ C (I,M C (n)) des homogenen Systems y = A y, das also Φ = A Φ erfüllt (vgl. Definition 46.3). Für Ψ := Φ gilt dann Ψ = ΨA, und es folgt (Ψu) = Ψu +Ψ u = Ψ(u +Au) = Ψb C(I,C n ). Nach a) hat man Ψu C (I,C n ) und wegen der Invertierbarkeit von Ψ auch u C (I,C n ). Satz 84.8 gilt entsprechend auch für Distributionslösungen linearer Differentialgleichungen höherer Ordnung, da diese in Systeme erster Ordnung transformiert werden können (vgl. 47.). Dagegen ist Satz 84.8 für Distributionslösungen partieller Differentialgleichungen i. a. nicht richtig, wie das Beispiel der Wellengleichung zeigt. 84.9 Elliptische und hypoelliptische Operatoren. a) Ein Differentialoperator P(D) := a α D α, a α C, D j := i j, (22) der Ordnung m heißt elliptisch, falls P m (ξ) := α =m a α ξ α 0 für alle Vektoren ξ R n \{0} gilt. b) Das Polynom P(z) := a α z α C[z,...,z n ] heißt Symbol des Differentialoperators P(D), P m (D) := a α D α sein Hauptteil. Im Fall m = 2 und n = 2 α =m sind die reellen Niveaulinien {ξ R 2 P(ξ) = c} von P (leer, einpunktig oder) Ellipsen.
354 c) Beispiele elliptischer Differentialoperatoren sind der Laplace-Operator = n j 2 = n Dj 2 inr n oder dercauchy-riemann-operator z = (id 2 x D y ) in R 2. j= j= d) Ein Differentialoperator P(D) heißt hypoelliptisch, falls für jede offene Menge Ω R n und u D (Ω) aus P(D)u C (Ω) auch stets u C (Ω) folgt. e) Ein elliptischer Operatore ist hypoelliptisch. Ist in diesem Fall P(D)u reellanalytisch, so gilt dies auch für u. f) Nach einem Satz von L. Hörmander ist P(D) genau dann hypoelliptisch, falls gilt: z k Imz k für jede Folge (z k ) C n mit P(z k ) = 0. (23) Für Beweise der Aussagen in e) und f) sei auf [3], Abschnitt 5.4 und die dort zitierte Literatur verwiesen. g)derwärmeleitungsoperator t α x = id t +α n Dj 2 inr n+ isthypoelliptisch, aber nicht elliptisch. h) Der Wellenoperator t 2 c2 x = Dt 2 n +c2 Dj 2 im R n+ erfüllt Bedingung j= (23) nicht, ist also nicht hypoelliptisch. 84.0 Distributionen mit kompaktem Träger. a) Für offene Mengen V Ω in R n gilt D(V) D(Ω). Die Einschränkung einer Distribution u D (Ω) auf V wird mit u V := u D(V) bezeichnet. b) Der Träger einer Distribution u D (Ω) wird definiert als suppu := Ω\ {V Ω offen u V = 0}. (24) Es ist suppu eine in Ω abgeschlossene Menge, und es gilt u Ω\suppu = 0. c) Für eine Distribution u : D(Ω) C ist suppu genau dann kompakt, wenn für eine feste kompakte Menge K Ω und ein festes m N 0 eine Abschätzung u(ϕ) C ϕ K,m = C j= sup α ϕ(x) (25) x K für alle Testfunktionen ϕ D(Ω) gilt. Für jede Abschneidefunktion η D(Ω) mit η = nahe K (vgl. Satz 83.2) gilt dann u(ϕ) = u(ηϕ) für alle ϕ D(Ω). Daher wird u durch ũ(ψ) := u(ηψ), ψ C (Ω), (26) zu einer stetigen Linearform auf E(Ω) := C (Ω) fortgesetzt; der Raum aller Distributionen mit kompaktem Träger auf Ω wird daher mit E (Ω) bezeichnet. d) Insbesondere besitzen Distributionen mit kompaktem Träger endliche Ordnung. In (25) kann man i.a. K nicht durch suppu ersetzen.