Tutorate im Handels- und Wirtschaftsrecht FS 2016 Fall 3 Aktienrecht lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt
Lernziele Sie können einen komplexen Sachverhalt analysieren Sachverhalt lesen und verstehen «brainstorming» und diesen einer juristisch fundierten Lösung zuführen Fallfrage analysieren und verstehen (offen oder geschlossen?) «Herausschälen» der juristischen Problemkreise; mögliches Vorgehen: Anspruchsmethode (caveat: führt im HaWi z.t. zu unnötig komplexem Aufbau) Zeitachse erstellen, Schema der beteiligten Personen skizzieren, etc. Niederschrift konzis und prägnant! 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 2
Analyse des Sachverhalts und der Fragestellung
Frage 1: Was kann Xaver gegen Darrelle, Odell und Rob unternehmen?
Anspruchsgrundlagen des Verantwortlichkeitsrechts Art. 752 OR: Haftung für den Emissionsprospekt Art. 753 OR: Gründungshaftung Art. 754 OR: Haftung für Verwaltung, Geschäftsführung und Liquidation Art. 755 OR: Revisionshaftung Art. 1156 Abs. 3 OR: Prospekthaftung bei der Emission von Anleihensobligationen durch einen ausländischen Emittenten (vgl. Art. 156 IPRG) Art. 108 FusG: Verantwortlichkeit bei Fusion, Spaltung, Umwandlung oder Vermögensübertragung (für Verletzung von Pflichten, welche sich aus dem FusG ergeben) weitere in Spezialgesetzen (Art. 52 AHVG, Art. 52 BVG, etc.) 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 5
Anspruchsschema bei aktienrechtlicher Verantwortlichkeit 1. Schaden «Aktivlegitimation» Schadensdefinition Abgrenzung direkter vs. indirekter Schaden Prüfung der «Aktivlegitimation» (besser: Anspruchszuständigkeit und Klageberechtigung) 2. Passivlegitimation 3. Pflichtverletzung 4. Kausalität 5. Verschulden 6. weitere Punkte Haftungsbeschränkung (Décharge, Übertragung der Geschäftsführung (befugterweise), Einwilligung) Solidarität, Regress, Einklagung für den Gesamtschaden Verjährung 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 6
Schaden 1 2 «Nach konstanter Rechtsprechung entspricht der haftpflichtrechtlich relevante Schaden der Differenz zwischen dem gegenwärtigen nach dem schädigenden Ereignis festgestellten Vermögensstand und dem Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte [ ]. Der Schaden ist die ungewollte bzw. unfreiwillige Vermögensverminderung. Er kann in einer Vermehrung der Passiven, einer Verminderung der Aktiven oder in entgangenem Gewinn bestehen [ ].» (BGE 132 III 359, E. 4.) Abgrenzung zw. direktem und indirektem Schaden (zentral für aktienrechtliche Verantwortlichkeit) direkter Schaden: Aktionär Gläubiger ist durch ein pflichtwidriges Verhalten eines Organs in seinem Vermögen geschädigt, ohne dass gleichzeitig die Gesellschaft selbst einen Schaden erleidet indirekter Schaden: Aktionär Gläubiger erleidet nur deshalb einen Schaden, weil die Gesellschaft selbst geschädigt ist, und sich dieser Gesellschaftsschaden reflexweise auf die Beteiligung des Aktionärs bzw. Forderung des Gläubigers auswirkt (Sonderfall, da gemäss allgemeinen Prinzipien des Haftpflichtrechts Reflexschäden grundsätzlich nicht zu ersetzen sind; vgl. BGE 127 III 403, E. 4.b/aa) 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 7
Schaden 2 2 in casu: «rechtskräftige» Busse über CHF 7 000 000 grds. Gesellschaftsschaden, da Moneymachine AG Verfügungsadressat (Verminderung der Aktiven, wenn Busse bereits bezahlt, bzw. Vermehrung der Verbindlichkeiten, falls nicht) X. wäre somit indirekt geschädigt Aber: Zuständigkeit FINMA? FINMA zuständig für Erlass einer Verfügung betreffend eine Stimmrechtssuspendierung bzw. ein Zukaufsverbot (vgl. Art. 144 FinfraG; aart. 34b BEHG) Strafverfolgungsbehörde ist jedoch das EFD (Art. 50 Abs. 1 FINMAG) sachliche Unzuständigkeit stellt im Verwaltungsrecht «einen Nichtigkeitsgrund [dar], es sei denn, der verfügenden Behörde komme [ ] auf dem betreffenden Gebiet allgemeine Entscheidungsgewalt zu» (BGE 129 V 485, E. 2.3) argumentieren und ggf. «Hilfsgutachten» erstellen 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 8
«Aktivlegitimation» 1 2 direkter Schaden: ausser Konkurs: allgemeine Regeln des ausservertraglichen Haftpflichtrechts im Konkurs (vgl. BGE 132 III 564, E. 3.2 ff.) sofern Gesellschaft nicht selbst auch direkt geschädigt wurde, untersteht Klage eines Gläubigers oder Aktionärs den gewöhnlichen Regeln der zivilrechtlichen Haftung (Art. 41 ff. OR) und ist darüber hinaus keinerlei Einschränkungen unterworfen wenn durch die Handlung eines Organs unabhängig vom direkten Schaden des Gläubigers bzw. Aktionärs auch die Gesellschaft selbst direkt geschädigt wurde, kann ein Gläubiger oder Aktionär nur in folgenden Fällen Klage erheben («Durchsetzungssperre»): unerlaubte Handlung (Art. 41 ff. OR); culpa in contrahendo; Verletzung einer ausschliesslich zum Schutz der Gläubiger (bzw. Aktionäre) konzipierten Bestimmung des Gesellschaftsrechts 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 9
«Aktivlegitimation» 2 2 indirekter Schaden: Anspruchszuständigkeit: Gesellschaft Klageberechtigung: in casu: ausser Konkurs (Art. 756 Abs. 1 OR): Gesellschaft und Aktionäre (qua Prozessstandschaft: «Klage auf Leistung an die Gesellschaft») im Konkurs: primär: Konkursverwaltung bzw. Nachlassverwalter (Art. 757 Abs. 1 Satz 2 OR) subsidiäre Klageberechtigung der Aktionäre und Gläubiger (Art. 757 Abs. 2 Satz 1 OR) X. kommt Klageberechtigung zu, er kann nach Art. 756 Abs. 1 OR aber nur auf Leistung an die Moneymachine AG klagen 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 10
Passivlegitimation Organkategorien formelle Organe materielle Organe faktische Organe Organe durch Kundgabe in casu: Darrelle, Odell und Rob sind alle Verwaltungsräte, somit formelle Organe der Moneymachine AG und dementsprechend passivlegitimiert 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 11
Pflichtverletzung 1 6 Vorbemerkungen: in der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit regelmässig reine Vermögensschäden, weshalb die Schutznormtheorie (vgl. BGE 110 II 391, E. 2) zu beachten ist insb. relevant bei Art. 754 OR, da dieser das pflichtwidrige Verhalten nicht umschreibt Folge: indirekter Schaden: Geltendmachung eines vertraglichen Anspruchs der Gesellschaft gegen ihr Organ es genügt Verletzung einer beliebigen, dem betr. Organ obliegenden Pflicht direkter Schaden: ausservertraglicher Anspruch (Art. 41 ff. OR) gemäss den Prinzipien des allgemeinen Haftpflichtrechts ist Verletzung einer Schutznorm erforderlich (zu beachten: bes. Praxis des Bundesgerichts betr. aktienrechtliche Schutznormen im Rahmen der Durchsetzungssperre) 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 12
Pflichtverletzung 2 6 Sorgfaltspflicht nach Art. 717 Abs. 1 OR verpflichtet Verwaltungsrat u.a. zur Einhaltung der Rechtsordnung gemäss Sachverhalt: rechtskräftige Bussenverfügung «Stellen sich in einem Prozess Vorfragen aus einem andern Rechtsgebiet, deren Beurteilung in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Behörde fällt, steht dem Richter nach der in der Schweiz herrschenden Rechtsauffassung unter Vorbehalt einer abweichenden gesetzlichen Regelung die Befugnis zu deren selbständiger Prüfung zu, solange die zuständige Behörde darüber noch nicht entschieden hat. Liegt jedoch ein rechtskräftiger Entscheid der zuständigen Behörde vor, ist der Richter grundsätzlich daran gebunden, ansonst er sich in unzulässiger Weise in einen fremden Zuständigkeitsbereich einmischen würde. Eine solche Bindung entfällt höchstens dort, wo sich ein Entscheid als absolut nichtig erweist [ ]» (BGE 108 II 456, E. 2) aufgrund der detaillierten Ausführungen im Sachverhalt empfiehlt sich in einer HaWi-Prüfung aber in jedem Fall eine Abhandlung der börsenrechtlichen Probleme 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 13
Pflichtverletzung 3 6 Anwendbarkeit der Art. 120 ff. FinfraG? zeitlicher Anwendungsbereich Sachverhalt spielte sich vor Inkrafttreten des FinfraG ab, weshalb die damals geltenden Bestimmungen des BEHG anzuwenden wären (Unzulässigkeit der echten Rückwirkung) Fall wird zur Prüfungsvorbereitung aber nach FinfraG gelöst, zumal die für den vorliegenden Fall relevanten Bestimmungen des BEHG per 1. Januar 2016 ohne substanzielle Änderungen ins FinfraG (bzw. die ausführenden Verordnungen) überführt wurden räumlich-persönlicher Anwendungsbereich Antibiotics AG ist an SIX kotiert, Sitz aber unbekannt falls Sitz im Ausland, müsste sie in der Schweiz «hauptkotiert» i.s.v. Art. 115 Abs. 1 FinfraV sein begründete Annahme treffen! (p.m.: wenn FinfraG BEHG nicht anwendbar, Meldepflichten nach Art. 697j ff. OR zu beachten) 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 14
Pflichtverletzung 4 6 Erwerbstatbestände: «direkt»: in eigenem Namen auf eigene Rechnung «indirekt»: in eigenem Namen auf fremde Rechnung (Verfolgung eines fremden Interesses; vgl. Art. 11 FinfraV-FINMA) «in gemeinsamer Absprache»: Gruppentatbestand Umschreibung in Art. 12 FinfraV-FINMA (für Meldepflicht) zwar Verfolgung eines eigenen Interesses, aber gleichzeitig Unterordnung unter Willen der Gruppe was wird von der Meldepflicht erfasst? Erwerbspositionen (Art. 14 Abs. 1 lit. a FinfraV-FINMA): Aktien (getrennt auszuweisen, Art. 16 Abs. 1 lit. d FinfraV-FINMA), erworbene Call-Optionen, geschriebene Put-Optionen, CFD-long, etc. Veräusserungspositionen (Art. 14 Abs. 1 lit. b FinfraV-FINMA): geschriebene Calls, erworbene Puts, CFD-short, etc. Entstehung der Meldepflicht: bei Abschluss Verpflichtungsgeschäft («signing»; Art. 13 Abs. 1 FinfraV-FINMA) Meldefrist: 4 Börsentage (an Gesellschaft und OLS SIX; Art. 24 Abs. 1 FinfraV-FINMA) 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 15
Pflichtverletzung 5 6 Meldepflichtverletzung? Erwerbstatbestände: direkter Erwerb von 5.98% (Aktien der Antibiotics AG und Call-Optionen auf ebendiese) indirekter Erwerb von 8.97% (Aktien der Antibiotics AG) Meldepflicht bei Überschreitung der Schwellenwerte: Meldung hätte innert der Meldefrist erfolgen müssen, sobald durch die aggregierte Beteiligung einen Schwellenwert überschritten wurde Meldefrist nach Art. 24 Abs. 1 FinfraV-FINMA beginnt am ersten Börsentag nach Überschreiten der Schwellenwerte zu laufen (Art. 9 Abs. 1 FinfraV-FINMA) SV gibt keine Auskunft darüber, an welchen Daten genau die Schwellenwerte von 3%, 5% und 10% überschritten wurden Moneymachine AG hat aber einzig Überschreiten der Schwellenwerte von 15%, 20% und 25% korrekt gemeldet und somit die Meldepflicht betr. der Schwellenwerte von 3%, 5% und 10% verletzt 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 16
Pflichtverletzung 6 6 Eingeschränkte Überprüfung des Geschäftsführungsermessens («Business Judgment Rule»)? Voraussetzungen der «Business Judgment Rule» schweizerischer Prägung Abwesenheit von Interessenkonflikten Entscheid wurde in ordnungsgemässem Verfahren, gestützt auf ausreichende Informationen getroffen kein Widerspruch zum Gesellschaftszweck und im Gesellschaftsinteresse kein Verstoss gegen zwingende gesetzliche Vorschriften Entscheid ist grundsätzlich nachvollziehbar und sachlich vertretbar («sanity check»; str.) in casu? Investition in bzw. Übernahme der Antibiotics AG ist Geschäftsentscheid Frage, in welchem Umfang Meldepflichten bestehen, ist jedoch eine Rechtsfrage, bei der dem Verwaltungsrat kein Ermessen zukommt 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 17
Weitere Punkte Kausalität erscheint unproblematisch Verschulden: objektivierter Sorgfaltsmassstab vorliegend Übernahmeverschulden keine Hinweise auf Vorliegen haftungsbeschränkender Tatbestände Einklagung von Darrelle, Odell und Rob auf Leistung von CHF 7 000 000 an Moneymachine AG möglich, Richter hätte Anteil (und Regressumfang) jedes Beklagten festzusetzen Verjährung unproblematisch, da Frist nach Art. 760 OR noch bis mind. 2018 läuft Unterbrechungsmöglichkeit: Einleitung einer Betreibung oder Einreichung eines Schlichtungsgesuchs (Art. 135 Ziff. 2 OR) 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 18
Frage 2: Was ändert sich durch Konkurs der Moneymachine AG?
Vorgehen im Konkurs der Moneymachine AG Klageberechtigung ändert sich bei indirektem Schaden primär: Konkursverwaltung klageberechtigt (Art. 757 Abs. 1 Satz 2 OR) sofern die Konkursverwaltung «verzichtet», könnte X klagen (Art. 757 Abs. 2 Satz 1 OR) Anwendungsfall der Abtretung nach Art. 260 SchKG (str.) X. könnte somit Abtretungsbegehren stellen dem Abtretungsbegehren könnten sich jedoch andere Klageberechtigte, insb. Gläubiger, anschliessen dies wäre für X. relevant, als dann konkursrechtliche Rangordnung Platz greift und X. erst nachdem die Gläubiger für ihre Forderung Befriedigung erlangt haben, im Ausmass seiner Beteiligung «Schadenersatz» erhält 08./09./11.03.2016 Tutorate im HaWi FS16 Fall 3 lic. iur. Olivier Baum, Rechtsanwalt Seite 20
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