1. Einführung und methodologische Grundlagen



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Transkript:

1. Einführung und methodologische Grundlagen (1) ja hm möglicherweise sag ich oft auch dass ich nicht deutsch bin, und wenn der patient mich nicht versteht sollte er fragen (sp06: Abs. 120, CP/SPBM) (2) patienten kann sprechen sprechen sprechen sprechen, was sie möchte sprechen, aber ist nicht was ich möchte kennengelernen (sp20: Abs. 234, LA/SPSch) Diese Äußerungen einer rumänischen Ärztin (1) und eines chilenischen Arztes (2), die beide in Deutschland arbeiten, zeigen das Spektrum von Verstehen und Verstehen-Wollen bis zum Nichtverstehen und Nichtverstehen-Wollen, das sich in der Kommunikation ausländischer Ärzte und Ärztinnen mit ihren deutschen Patienten und Patientinnen auftut. Dieses weite Feld ist noch kaum erforscht, aber von zunehmender Relevanz, nicht nur für Patienten und Patientinnen, sondern auch gesamtgesellschaftlich. Interessant ist dieses Forschungsfeld deshalb, weil in deutschen Krankenhäusern zunehmend Ärzte und Ärztinnen arbeiten, deren Muttersprache nicht deutsch ist (L2-Sprecher bzw. Sprecherinnen). Aus dieser Konstellation ergeben sich aus meiner Sicht einzigartige Perspektiven auf die Erzeugung von Verstehen im Gespräch. Die Arzt-Patienten-Interaktion ist in der angewandten Linguistik unter anderem auch deshalb so gründlich erforscht worden, weil hier ein exemplarischer, institutioneller Diskurs mit dem ihm eigenen Machtgefälle vorliegt (s. Kapitel 2.3.3). In Kombination mit dessen Eigenschaft als L2-L1- Kommunikation, die in dieser Arbeit untersucht wird, können jedoch neue Erkenntnisse zu institutionellen Diskursen, zur mündlichen Fachkommunikation und ganz allgemein zu den Bedingungen des Verstehens gewonnen werden. Viele Krankenhäuser bieten inzwischen Weiterbildungen, Sprachkurse oder Kommunikationstrainings speziell für ausländische Ärzte und Ärztinnen an, so auch die Charité Universitätsmedizin Berlin mit ihrer Tochtereinrichtung Charité International Academy. Dank einer Kooperation des Fachgebietes Deutsch als Fremdsprache an der TU Berlin und der Charité International Academy war es mir möglich, solche Kommunikationstrainings kennen zu lernen. Im Zuge dieser Zusammenarbeit traf ich ausländische Ärzte und Ärztinnen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen und Bedürfnissen. Eine genaue Analyse der derzeitigen Situation in der Kommunikation dieser Ärzte 1 mit ihren 1 In dieser Arbeit werden maskuline Formen von Arzt, Patient etc. als generische Formen verwandt. Zur Abgrenzung zur Verwendung von Arzt als auf eine männliche Person bezogen, wird in allen generischen Formen im Folgenden der erste Buchstabe kursiv gedruckt. Diese Schreibung wird in Abkürzungen wie MS (für Muttersprachler) nicht beibehalten. 9

deutschen Patienten hat bisher noch kaum angefangen und ist dringend notwendig, bevor die Entwicklung geeigneter sprach- und kulturdidaktischer Konzeptionen für diese neue Zielgruppe begonnen werden kann. Diese Untersuchung soll hier vorgelegt werden. Sie kann gleichzeitig interessante und neue Aufschlüsse über den Arzt-Patienten-Diskurs als Fachdiskurs und als L2-L1- Kommunikation liefern. Meine Arbeit geht gesprächsanalytisch vor, daher begann ich mit der Aufzeichnung und Transkription von solchen Arzt-Patienten- Gesprächen, die zugleich Gespräche zwischen L2- und L1-Sprechern sind. Die für diese Arbeit aufgezeichneten und analysierten Gespräche wurden im Rahmen ärztlicher Kommunikationstrainings an der Charité Universitätsmedizin Berlin geführt. Während das Arzt-Patienten-Gespräch eine der häufig und umfassend untersuchten Gesprächssorten darstellt, ist dieses Gespräch als L2-L1-Kommunikation von der Forschung bisher kaum beachtet (s. Kapitel 2.3, insbesondere 2.3.4). Dies hängt sicher damit zusammen, dass Ärzte als L2-Sprecher eine relativ neue Erscheinung eines zunehmend globalisierten Arbeitsmarktes sind. In Deutschland nimmt der Anteil dieser Ärzte an der Ärzteschaft jedoch kontinuierlich und schnell zu und lag 2006 im Schnitt bei 12 % im Bundesgebiet, wobei diese Quote unter den bis zu 35-jährigen sogar 17,2 % beträgt (Böhm & Afentakis 2009: 31). Diese neue Konstellation führt zu neuen Entwicklungen in der Fachkommunikation, die Gegenstand dieser Arbeit sind und die im Zuge von Globalisierungs- und damit verbundenen Migrationsprozessen zurzeit sicher in vielen und nicht nur in den deutschen Fachsprachen 2 stattfinden und damit von allgemeinem Interesse sein dürften. Diese Arbeit geht dabei folgenden Forschungsfragen nach: Wie wird die fachsprachliche Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten organisiert, wenn der Arzt Deutsch als L2 spricht? Welche Kommunikationsstrategien werden von beiden Seiten angewandt, wie sieht die gesamte Architektur solcher Gespräche aus? Wie determiniert die Fachsprache medizinischer Kommunikation das Verhalten der Teilnehmer? Wie wird Verstehen in dieser Situation organisiert? Wo, an welchen Stellen und auf welcher sprachlichen Ebene geraten die Grenzen des Verstehens in den Blick? Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen gebe ich, nach einer Vorüberlegung zur Methodologie, zunächst einen Überblick über relevante Forschungsfelder (Kapitel 2). Es folgt eine Beschreibung der Daten (Kapitel 3) und eine Konzeption einer geeigneten Analysemethode (Kapitel 4). Schließlich werden die Ge- 2 Zur Begriffsklärung des Terminus Fachsprache siehe Kapitel 2.3. 10

spräche im Kapitel 5 einer Analyse unterzogen. Im Anhang 07 finden sich sämtliche Gespräche des Korpus als Transkript. Der Komplexität des Gegenstandes kann nur interdisziplinäres Vorgehen gerecht werden, gilt es doch, zumindest drei verschiedene Ebenen angemessen zu berücksichtigen. Alle Gespräche finden zwischen L1- und L2-Sprechern statt. Daher wird die Perspektive der Fremdspracherwerbs- und der Fremdsprachenlehrforschung, insbesondere von Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache 3 eine zentrale Rolle spielen. Der interaktionale Charakter des Datenmaterials verlangt die Berücksichtigung von Erkenntnissen aus verschiedenen Feldern angewandter Linguistik, so aus der Diskursanalyse, der kritischen Diskursanalyse, der Gesprächsanalyse, der Konversationsanalyse sowie, darauf aufbauend, die Herausarbeitung einer eigenen Methode des Umgangs mit dem Material. Die Einbettung der Gespräche im beruflichen Kontext und ihr Charakter als Fachgespräche erfordern es weiterhin, Ergebnisse der Fachsprachenforschung im weitesten Sinn zu berücksichtigen. Hierzu gehört, nach einer grundlegenden Diskussion von Fach- und Berufssprachen auch die Berücksichtigung von Ergebnissen der Forschung zur Fachsprache Medizin. Bevor die methodischen Zugänge aus diesen drei Perspektiven erschlossen werden, zunächst einige Vorüberlegungen zur Methodologie. Grotjahn 2006 hat einige methodologische Diskussionen aus der Sozialwissenschaft auf die Fremdsprachenerwerbsforschung übertragen und dabei die folgenden, erkennntnistheoretischen Hauptpositionen unterschieden: Realismus: Die erhobenen Daten lassen Schlüsse auf eine objektive Realität zu. Instrumentalismus oder pragmatischer Realismus: Die erhobenen Daten sollen unter anderem zur Entwicklung nützlicher Technologien dienen. Konstruktivismus: Eine Erkenntnis der Realität ist grundsätzlich ausgeschlossen, Erkenntnisse können lediglich zu Erfahrungen passen (Grotjahn 2006: 249f.). 3 Im Fall der hier betrachteten Lerner vermischen sich die theoretisch getrennten Konzepte von Deutsch als Fremd- resp. Deutsch als Zweitsprache (s. u. a. Kniffka & Siebert-Ott 2007:15). Die hier vorgestellten Ärzte haben Deutsch zunächst im Ausland erworben (DaF), leben und arbeiten aber jetzt in Deutschland, wobei sie weiter Deutsch lernen (DaZ). In der vorliegenden Arbeit ist daher zumeist die Terminologie Deutsch als L2 gewählt worden, um diesen komplexen Spracherwerbsprozessen gerecht zu werden. 11

Verschiedene Positionen des Konstruktivismus scheinen recht problematisch zu sein und gerade im Bereich der Unterrichtsforschung ist auch auf die mit konstruktivistischem Elan oft verbundenen empirischen Lücken hingewiesen worden (u. a. Schlak 2004). Die Diskussion der sehr vielfältigen konstruktivistischen Ansätze (s. von Ameln 2004) wird daher hier nicht weitergeführt werden. Für die Erforschung der oben skizzierten linguistischen Daten scheint vielmehr ein poststrukturalistisches Paradigma geeignet zu sein, das jedoch ebenso wie konstruktivistische Theorien grundlegend in Opposition zu realistischen und instrumentalistischen Annahmen steht. Diese Grundannahme ergibt sich aus dem Untersuchungsgegenstand wie folgt: Die Gesprächslinguistik hat umfangreiche Forschungsarbeiten geleistet, die darauf hindeuten, dass Gespräche und die mit ihnen verbundenen, vielfältigen Handlungen nicht als Folge einer dahinter liegenden Realität zu sehen sind. Sie sind an die soziale und sprachliche Ordnung gebunden, die sie gleichzeitig erzeugen und fortwährend verändern. Dieser grundsätzliche Befund erlaubt immer noch sehr unterschiedliche Methoden des Umgangs mit dem Forschungsgegenstand (s. u.), spricht aber dafür, eine naiv-realistische Konzeption abzulehnen. Die Diskursanalyse (insbesondere diejenige, die sich auf Foucault beruft) und die Diskurslinguistik haben diese Ergebnisse aufgegriffen und weiterentwickelt und dabei gezeigt, dass poststrukturalistisches Vorgehen immer de-ontologisierenden Charakter (Bublitz et. al. 1999: 13f.) hat, dass mithin die Annahme einer objektiven (also nicht-diskursiven) Realität für die Betrachtung von Diskursen wenig hilfreich ist. Diese Position wird unten noch näher erläutert und zu einer Methode erweitert werden. Das Forschungsinteresse dieser Arbeit richtet sich vor allem auf pragmatische Aspekte. Im Fokus der Forschung steht hier die Organisation von Verstehen, damit ist ein pragmalinguistisches Grundverständnis gegeben. Wenn dies auch in der Fremdspracherwerbsforschung noch wenig thematisiert ist, so ist doch unbestreitbar, dass die Pragmatik in der Tradition der Wittgenstein schen und Austin schen Sprachphilosophie die strukturalistische Untersuchung von sprachlichen Zeichen ablehnt und damit realistische und instrumentalistische Positionen verlässt. Aus diesen Vorüberlegungen heraus wird diese Arbeit unter nicht-realistischen und nicht-instrumentalistischen Vorzeichen stehen, die genaue Methode wird im Kapitel 3 beschrieben werden. Mit der Entscheidung für ein diskursanalytisches Vorgehen eng verbunden ist daher eine Erkenntnisposition, die dem Poststrukturalismus am nächsten steht, wie noch genauer zu zeigen sein wird. Poststrukturalistische und konstruktivistische Theorien sind sich jedoch in ihrer Op- 12

position zum Realismus einig. Die betrachteten Gespräche in ihrer Spezifik als Fachgespräche, L1-L2-Gespräche und Teile von Diskursen können nicht adäquat unter realistischen Grundpositionen analysiert werden. Grotjahn erläutert weiterhin die Unterschiede zwischen quantitativen und qualitativen Forschungsparadigmen (Grotjahn 2006: 251ff.) und schlägt substituierend die Konzepte von analytisch-nomologischer und explorativinterpretativer Forschungsmethodologie vor (ibid.). Auch an dieser Wegscheide wird der Charakter des Forschungsgegenstands die weitere Richtung des Vorgehens bestimmen. Flick, Kardorff und Steinke haben als kennzeichnend für die qualitative Forschung vor allem die gemeinsame Herstellung von sozialer Wirklichkeit und Bedeutungszuschreibung beschrieben (Flick, Kardorff & Steinke 2000: 22). Genau diese gemeinsame Herstellung von Bezügen ist charakteristisch für die zugrunde liegenden Gespräche (den Forschungsgegenstand) und prägt daher auch den Forschungsprozess. Dementsprechend sind Methodenvielfalt, Kontextualität und die Theoriebildung als Ziel und nicht als Ausgangspunkt kennzeichnend für mein Vorgehen. Das genaue Design der Studie wird unten erörtert werden, hier soll nur grundlegend der explorativinterpretative Charakter dieser Arbeit festgestellt werden. In den Überblicksdarstellungen zur second language acquisition-forschung (im Folgenden SLA) aus der anglo-amerikanischen Tradition wie Ellis 2008 und Ortega 2009 findet sich die Einteilung in methodologische Grundannahmen, wie sie Grotjahn vorgeschlagen hat, so nicht wieder. Allerdings wird die soziolinguistische Wende, die in den 90er Jahren stattgefunden hat (s. Block 2003), ausführlich dargestellt (s. Ortega 2009: 216 ff., Ellis 2008: 517 ff.). Dieser social turn kann als eine Folge des Erstarkens sozialwissenschaftlicher Theoriebildung gedeutet werden und die Verschränkungen von SLA und soziokulturellen Theorien, kulturwissenschaftlichen Theorien und der Gesprächsanalyse im weitesten Sinne hat natürlich eine große Anzahl von letztlich qualitativen Studien hervorgebracht, auf die noch genauer zu sprechen kommen sein wird. Die Grundannahmen von socioculturalism und post-structuralism, dass Realität nur in sozialer Vermittlung existiert und nur Diskurse Bedeutungen und Wissen generieren (s. Ortega 2009: 217 f.), sind natürlich ebenso realismusfern wie die konstruktivistischen Schulen. 13