20 - DIAGNOSE UND THERAPIE DER ALGODYSTROPHY ( CRPS I ) Gerda Vacariu Univ. Klinik f. Physikalische Medizin und Rehabilitation/ Medizinische Universität Wien Abstract: Die Bezeichnung Complex Regional Pain Syndrome Typ I (CRPSI) ersetzt die bisherigen Diagnosen Algodystrophy, Morbus Sudeck und Reflexsympathische Dystrophy. Die Definition des Complex Regional Pain Syndrome, Diagnosekriterien und aktuelle Therapiekonzepte werden vorgestellt. Für den Behandlungserfolg ist unter Beachtung von Differentialdiagnosen, die frühe Erkennung von CRPS-Zeichen entscheidend. Schmerzreduktion und funktionelle Wiederherstellung sind primäres Ziel der therapeutischen Interventionen. Die Therapie sollte individuell und Symptom bezogen angepasst werden. 1. Diagnose: Schmerzsyndrome im Bereich der Extremitäten, welche vormals als Morbus Sudeck, Sudeckdystrophy, Algodystrophy und als Reflexsympathische Dystrophy bezeichnet wurden, sollten entsprechend der Empfehlung einer Konsensuskonferenz der IASP nun einheitlich als Complex Regional Pain Syndrome benannt werden (1). Der Terminus Complex Regional Pain Syndrome Typ I (CRPS I) ersetzt die frühere Bezeichnung Reflex Sympathic dystrophy (RSD), Complex Regional Pain Syndrome Typ II (CRPS II) entspricht der Kausalgie und setzt eine nachweisbare Nervenläsion voraus. Das Complex Regional Pain Syndrome ist eine Ausschlussdiagnose, charakterisiert durch Spontanschmerz mit Hyperalgesie, häufig assoziert mit Allodynie, sowie vasomotorischen und sudomotorischen Störungen, Beeinträchtigung der Motorik und trophischen Veränderungen. Die Diagnose stützt sich auf klinische Zeichen aus diesen Kategorien: 1. Schmerz/ sensorische Störung 2. Vasomotorik: Hautverfärbung/ Temperarturdifferenz 3. Sudomotorik/ Ödem: Weichteilschwellung, Veränderung der Schweißsekretion 4. Motorische/ Trophische Zeichen: Gelenkseinsteifung, Muskelschwäche, Tremor bis Dystonie, trophische Störung von Haut, Haar- und Nagelwuchs.
Ein Complex Regional Pain Syndrome kann angenommen werden, wenn zumindest anamnestisch Zeichen aus allen 4 Kategorien vorhanden waren und die klinischen Symptome durch keine weiter bestehende Pathologie erklärbar sind (2). Apparative Untersuchungen können die klinische Diagnosestellung unterstützen und sollten zur Differentialdiagnose eingesetzt werden (3, 4). Die Dreiphasenszintigraphie zeigt zu Beginn der Erkrankung eine typische diffuse Tracerakkumulation mit Gelenknaher Akzentuierung, verliert aber im weiteren Verlauf der Erkrankung an Aussagekraft. Umgekehrt sind radiologische Veränderungen mit Zeichen diffuser fleckiger Osteoporose eher im späteren Verlauf zu finden. In der Magnetresonanz zeigen sich bei Applikation von Kontrastmittel bereits früh Weichteil- und Knochensignalveränderungen. Die MRT dient derzeit vorwiegend der Differentialdiagnose. Mittels Infrarotthermographie lassen sich regionale gegenüber lokalen Temperaturdifferenzen bei entzündlichen Prozessen unterscheiden. Zum Ausschluss eines entzündlichen Geschehens sollten entsprechende Laborparameter erhoben werden, die im Fall eines CRPS unauffällig sind. Bei Verdacht auf das Vorliegen eines CRPS II ist eine elektroneurographische Untersuchung zu empfehlen. Die Aussagekraft der apparativen Untersuchungen besteht in der Bestätigung der klinischen Zeichen und in der Erfassung von nicht erkannten Pathologien. (s. Tab: Differentialdiagnosen) Differentialdiagnosen CRPS: ( Erkrankungsbilder, die häufig mit CRPS-Symptome zeigen und eventuell zu einem CRPS fortschreiten können) Orthopädische Erkrankungen: Knochenmarksödem - aseptische Knochennekrosen - Stressfrakturen Tendovaginitis - Reaktive Arthritis Osteomyelitis Weichteil- Knochentumore Neurologische Erkrankungen: Zosterneuralgie Nervenkompressionssyndrome ( CTS, TOS etc) Polyneuropathien Internistische Erkrankungen: Phlebothrombose Rheumatologische Erkrankungen ( u.a. SLE, Vaskulitiden, Dermatomyositis)
Die Problematik der klinischen Diagnose ist, ab wann Symptome, die zunächst durchaus einem posttraumatischen oder postoperativen Bild entsprechen, suspekt auf die Entwicklung eines CRPS sind. Wesentlich erscheint die Beachtung einer neuropathischen Schmerzkomponente. Häufig werden Brennschmerzen mit Hyperalgesie auf Druck und Temperatur und ausgeprägte Berührungsempfindlichkeit im Sinne einer taktilen Allodynie angegeben oder es wird ein tief liegender, einschnürender Schmerz, welcher durch Bewegung oder Senkung der betroffenen Extremität verstärkt wird, empfunden. Die derzeit vorliegenden Erkenntnisse zur Pathophysiologie des CRPS gehen von einer Irritation dünner C-Nervenfasern aus, welche zu einer neurogenen Entzündung in der betroffenen Region und in der Folge zu einer zentralen Sensibilsierung auf Rückenmarksebene wie auch im Bereich des sensorischen Cortex führen. Die autonomen Störungen werden auf eine Kopplung sympatischer Nervenfasern mit afferenten Fasern in der Peripherie und im Bereich des Hinterhorns zurückgeführt (5). Unklar bleibt weiterhin, warum sich im Einzelfall ein CRPS ausbildet. Neben einem Ungleichgewicht des afferenten Informationsflusses mit zentralen Umformungsprozessen dürften auch genetische Faktoren eine Rolle spielen. Epidemiologische Studien bestätigten eine höhere Prävalenz bei Frauen und in der kaukasischen Bevölkerung (6, 7). Umstritten ist weiterhin eine mögliche psychische Prädisposition. Oft finden sich einschneidende Lebensereignisse kurz vor Auftreten der Erkrankung (8, 9). In der epidemiologischen Untersuchung von Allen et al. (6) bestand in 56% der Fälle ein Zusammenhang mit einer Verletzung am Arbeitsplatz. Diskutiert wird auch das Auftreten einer Pseudodystrophy durch zu lange Immobilisation einer Extremität, welche auch bei somatoformen Schmerzsyndromen und als Konversionssyndrom auftreten kann (10). Im Tierexperiment konnten allein durch längere Ruhigstellung einer Extremität CRPS-Zeichen ausgelöst werden (11). Da die Ausprägung eines Complex Regional Pain Syndrome von sehr milden Verläufen mit Spontanheilung bis zu massiver Behinderung schwankt, sollte früh an die mögliche Entwicklung eines CRPS und entsprechenden Therapiemaßnahmen gedacht werden (12). Unter laufender Betreuung können Patienten auch früh über mögliche CRPS-Zeichen informiert werden, da bei früher adäquater Behandlung auch mit sehr guten Verläufen zu rechnen ist. 2. Therapie: Die Wiederherstellung einer optimalen Funktion steht im Mittelpunkt des therapeutischen Managements (13). Die Therapie sollte individuell und an den Schweregrad der Symtomatik angepasst werden (14). Lange Zeit wurde das CRPS in 3 Stadien unterteilt (15). Da man allerdings diesen Stadienhaften Verlauf oft nicht findet, wird derzeit die Einteilung in Subtypen mit unterschiedlicher Ausprägung der Symptomatik diskutiert (16). Für die
Therapie ist eine Symptomorientierte Stadieneinteilung zur Festlegung der therapeutischen Schwerpunkte empfehlenswert (17). Im ersten Stadium steht die entzündliche Komponente mit Überwärmung, Hautrötung, Schwellung und die neuropathischen Schmerzkomponente oft im Vordergrund. Therapeutisch steht der Reizabbbau durch milde Kryotherapie, abschwellende Maßnahmen durch Lagerung und manuelle Lymphdrainage und medikamentöse Schmerztherapie im Vordergrund. Zu Beginn können bereits geringste somatosensible Stimuli die Symptome verschlimmern. Bei ausgeprägten Schmerzen sollte eine therapeutische Sympathikusblockade durchgeführt und bei positivem Ansprechen zur Durchbrechung der sympatisch-afferenten Kopplung auch Serienmäßig wiederholt werden. Der positive Effekt der Sympathikusblockaden kann allerdings nicht bei allen Patienten festgestellt werden. Für Calcitonin und Corticosteroide sind in den frühen Stadien positive Wirkungsnachweise berichtet worden (18,19). Dieses erste Stadium ist oft vollkommen reversibel. Die Durchführung regelmäßiger Bewegungstherapie ist die Säule des therapeutischen Managements. Diese sollte im akuten Stadium bei möglichst schmerzfreier Extremität durchgeführt werden. Viel versprechend sind Konzepte auf neurophysiologischer Basis welche mit anbahnenden Bewegungen über die gesunde Seite beginnen (20, 21). Jede Aggravierung der Symptomatik erfordert eine Modifizierung des Therapieplanes. Auch im ergotherapeutisches Funktionstraining wird zunächst eine direkte sensible Stimulierung der betroffenen Extremität vermieden. Manuelle Lymphdrainage kann vor Beginn eines Desensibilisierungstrainings, welches vom Patienten selbstständig durchgeführt werden sollte, hilfreich sein Im 2.( dystrophen) Stadium (Abb 3) wechseln Hyper- und Hypothermie, die Hautverfärbung wird blass, livid, mit glänzendem Hautkolorit, oft ist die Sudomotorik verstärkt, zunehmend kommt es zu einer Einsteifung der Gelenke. Durch Überreizung kann die akute entzündliche Komponente wieder in den Vordergrund treten, insgesamt kommt es jedoch meist zu einem langsamen Nachlassen der Schmerzen. Therapeutisch wird die Bewegungstherapie forciert um Gelenkeinsteifungen zu verhindern. Propriozeptive Stimuli werden zur Anbahnung eines normalen Bewegungsmusters zunehmend eingesetzt, ergotherapeutisches Funktionstraining wird mit intermittierenden Quengelschienen kombiniert, auch dosierte stressloading Programme können beginnen (22). Zur Verbesserung der Trophik werden thermoneutrale Kohlensäurebäder eingesetzt. Wenn der neuropathische Schmerz weiter im Vordergrund steht, sollte ein Therapieversuch mit Gabapentin oder trizyklischen Antidepressiva und eventuell weitere sympathische Ganglienblockaden durchgeführt werden (23).
Das 3. Stadium ist charakterisiert durch zunehmende Atrophie des Gewebes und Gelenkkontrakturen. Es tritt bei sehr schweren Verläufen und bei mangelnder oder zu spät einsetzender Bewegungstherapie auf. Die Defizite in diesem Stadium lassen sich nicht mehr vollkommen zurückbilden. Im Vordergrund der therapeutischen Intention steht die Optimierung der gestörten Funktion um ein möglichst normales Bewegungsmuster zu generieren. Wenn durch lange Immobilität und Schonhaltung Schmerzen und trophische Störungen im Vordergrund stehen, sollte an Neuromodualtionsverfahren, wie die SCS gedacht werden (24). Alle schweren Verläufe bedürfen einer früh einsetzenden multidisziplinären Betreuung mittels Physikalischer Therapie, Schmerzmanagement und psychotherapeutischen Verfahren. Die Angst vor Bewegung ist ein Fokus der verhaltenstherapeutischen Maßnahmen um Immobilität und Schonhaltungen zu vermeiden. Durch die lange und oft zermürbende Leidensgeschichte dieser Patienten ist eine stützende, die Eigenaktivität fördernde Betreuung in regelmäßigen Zeit- und nicht Symptomkontingenten Intervallen erforderlich. Gelingt es behandelnden Ärzten und Therapeuten ein vertrauensvolles Therapiebündnis mit dem Patienten zu erreichen, ist eine Restitutio ad integrum möglich. Literatur: 1. Stanton-Hicks M, Jänig W, Hassenbusch S et al.(1995) Reflex sympathetic dystrophy: changing concepts and taxonomy. Pain 63:127-133 2. Harden RN, Bruehl S, Galen BS et al. (1999) Complex Regional Pain Syndrome: are the IASP diagnostic criteria valid and sufficiently comprehensive? Pain 83: 211-219 3. Vacariu G (2002) Complex Regional Pain Syndrome. Disability and Rehabilitation 24 (8): 435-442 4. Stanton-Hicks M (2000) Complex Regional Pain Syndrome: Controversies. Clin J Pain 16: 33-40 5. Jänig W, Baron R (2004) Experimental approach to CRPS. Pain 108: 3-7. 6. Allen G, Galer BS, Schwartz L (1999) Epidemiology of Complex Regional Pain syndrome: a retrospective chart review of 134 patients. Pain 80: 539-544 7. Mailis A, Wade J (1994) Profile of caucasian women with possible genetic predisposition to Reflex sympathetic Dystrophy. Clin J Pain 10: 210-217 8. Geertzen JHB, De Bruijn-Kofman AT et al. (1998) Stressful life events and psychological dysfunction in complex regional pain syndrome type I. Clin J Pain 14: 143-147 9. Bruehl S, Husfeldt B et al. (1996) Psychological differences between reflex sympathetic dystrophy and non-rsd chronic pain patients. Pain 67: 107-114 10. Ochoa JL, Verdugo RJ (1995). Reflex sympathetic dystrophy: a common clinical avenue for somatoform expression. Neurol Clin 13: 351-358 11. Guo TZ, Offley Sc et al. (2004) Substance P signaling contributes to the vascular and nociceptive abnormalities observed in a tibial fracture rat model of complex regional pain syndrome type I. Pain 108 12. Zyluk A (1998)The natural history of post-traumatic reflex sympathetic dystrophy. J Hand Surg 23: 20-23
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