Praxis der Sterbebegleitung und Sterbehilfe in den Niederlanden

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Transkript:

Praxis der Sterbebegleitung und Sterbehilfe in den Niederlanden Pastor Dr. theol. Ralph Charbonnier Zentrum für Gesundheitsethik an der Ev. Akademie Loccum

Gliederung 1. Warum Sterbehilfe? 2. Sterbehilfe in Deutschland a. Rechtslage b. Medizinische Praxis c. Ethische Debatte 3. Sterbehilfe in den Niederlanden a. Historische Entwicklung b. Rechtslage c. Sterbehilfe in der Praxis d. Kritische Anfragen 4. Eckpunkte einer eigenen Bewertung 5. Ausblick

Warum Sterbehilfe? Sterben können Kunst des Sterbens Leiden ertragen, verringern, vermeiden, Unterstützung im Leiden Selbstbestimmung: - Gegen künstliche Lebensverlängerung um jeden Preis (Fremdbestimmung durch medizinischen Möglichkeiten) - Gegen ärztlichen Paternalismus - Selbstbestimmte Wahl des Todeszeitpunkts und der Todesart Hilfe im Sterben Sterbebegleitung Hilfe zum Sterben (Selbst-)Tötung, akt. Sterbehilfe

Sterbehilfe in Deutschland a. Rechtslage 216 StGB: Tötung auf Verlangen (= aktive Sterbehilfe): (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar. Beihilfe zum Suizid Suizid ist nicht strafbar. Beihilfe zu einer nicht strafbaren Handlung kann nicht strafbar sein. Also: Beihilfe zum Suizid ist nicht strafbar. Aber: Ärzte und Personen besonderer persönlicher Nähe haben Garantenpflicht (Verpflichtung zur Hilfeleistung)

Sterbehilfe in Deutschland a. Rechtslage Passive Sterbehilfe: Es darf eine angebotene medizinische Maßnahme abgelehnt und eine aufgenommene medizinische Maßnahme beendet werden, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht (aktuell geäußerter Wille oder vorab verfügter, in einer Patientenverfügung geäußerter Wille). Indirekte Sterbehilfe: Es darf eine medizinisch indizierte Maßnahme (z.b. Schmerzlinderung) ergriffen werden, bei der nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Nebenwirkungen dieser Maßnahme den Eintritt des Todes geringfügig beschleunigen.

Sterbehilfe in Deutschland b. Medizinische Praxis Palliativmedizin und Hospizarbeit: Nahezu flächendeckende ambulante Hospizversorgung Mangel an Hospizen Große Lücken in der ambulanten und stationären Palliativversorgung Kaum Zusammenarbeit von Ärzten und Pflege mit Seelsorgern und Psychologen Rechtliche Unsicherheit der Ärzte und Vormundschaftsrichter über Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen Paternalismus Einsatz aller medizinischen Möglichkeiten Dunkelziffer (insbes. hinsichtlich Unterscheidung zw. indirekter und aktiver Sterbehilfe)

Sterbehilfe in Deutschland c. Ethische Debatte Selbstbestimmung (auch über Zeitpunkt und Art des eigenen Todes) vs. Lebensschutz (Tötungsverbot, Rechtliche Sicherung der Fürsorge) Arzt als Dienstleister vs. (schwacher) Paternalismus des Arztes (Kriterium: Wohl des Patienten) Euthanasie unter den Nationalsozialisten Gesetzliche Regelung der Patientenverfügung

a. Historische Entwicklung Phase der Konfrontation (70 er Jahre): Gerichtliche Auseinandersetzungen, Gründung von Vereinigungen, Akt der Befreiung (Individualisierung, Selbstbestimmung, gegen medizinischen Paternalismus) Phase der Ablehnung und Akzeptanz (80/90 er Jahre): Kriterienentwicklung für weiterhin rechtswidrige, aber straffreie Euthanasie, Zusammenarbeit von Justiz und Ärzteverbänden, Orientierung am Patientenwillen, Wertung als Pflichtenkollision des Arztes, wachsende Zustimmung der Bevölkerung, statistische Untersuchung Phase der gesetzlichen Regulierung (ab 1994): 1994: Meldepflicht, 1998 zusätzlich: Untersuchungskomitees 2002: Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung

b. Rechtslage Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung Ziele: (GKL, 2002) Im Strafgesetzbuch Strafausschließungsgrund für den Arzt aufnehmen, der unter Berücksichtung von Sorgfaltskriterien Lebensbeendigung auf Verlangen vornimmt oder Hilfe bei der Selbsttötung leistet. Melde- und Kontrollverfahren erlassen

b. Rechtslage Änderung des Strafgesetzbuches: Art. 293: (1) Wer vorsätzlich das Leben eines anderen auf dessen ausdrückliches und ernstliches Verlangen hin beendet, wird mit Gefängnisstrafe bis zu zwölf Jahren oder mit einer Geldstrafe... bestraft. (2) Die in Absatz 1 genannte Handlung ist nicht strafbar, wenn sie von einem Arzt begangen wurde, der dabei die in Artikel 2 des Gesetzes GKL genannten Sorgfaltspflichten eingehalten und dem Leichenbeschauer... Meldung erstattet hat. Art. 294: (2) Wer einem anderen vorsätzlich bei der Selbsttötung behilflich ist oder ihm die dazu erforderlichen Mittel verschafft, wird, wenn die Selbsttötung vollzogen wird, mit Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe... bestraft. Artikel 293 (2) gilt entsprechend.

b. Rechtslage Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung (GKL, 2002) Sorgfaltskriterien (GKL Art. 2): 4. Die im StGB genannten Sorgfaltskriterien beinhalten, dass der Arzt zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Patient seine Bitte freiwillig und nach reiflicher Überlegung gestellt hat, zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Zustand des Patienten aussichtslos und sein Leiden unerträglich ist, den Patienten über dessen Situation und über dessen Aussichten aufgeklärt hat, gemeinsam mit dem Patienten zu der Überzeugung gelangt ist, dass es für dessen Situation keine andere annehmbare Lösung gibt, mindestens einen anderen, unabhängigen Arzt zu Rate gezogen hat, der den Patienten untersucht und schriftlich zu den... Sorgfaltskriterien Stellung genommen hat und bei der Lebensbeendigung oder bei der Hilfe bei der Selbsttötung mit medizinischer Sorgfalt vorgegangen ist.

b. Rechtslage Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung (GKL, 2002) Sorgfaltskriterien (GKL Art. 2, sinngemäß): 4. Patient zwischen 16 Jahren und Volljährigkeit: Einwilligungsunfähig: Lebensbeendigung möglich, wenn schriftliche Bitte um Lebensbeendigung vorliegt. Einwilligungsfähig: Erziehungsberechtigten müssen in Beschlussfassung einbezogen worden sein. 5. Patient zwischen 12 und 15 Jahren: Lebensbeendigung möglich, wenn Patient als zur vernünftigen Beurteilung seiner Interessen fähig angesehen werden kann und wenn die Erziehungsberechtigten mit der Lebensbeendigung oder der Hilfe bei der Selbsttötung einverstanden sind.

b. Rechtslage Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung (GKL, 2002) Regionale Kontrollkommissionen (GKL, sinngemäß): Zusammensetzung: Jurist (Vors.), Arzt, Sachkundiger in Ethik- und Sinnfragen Ernennung durch Minister für sechs Jahre Aufgabe: Beurteilung (nach der Tötung), ob der Arzt die Sorgfaltskriterien eingehalten hat Arbeitsweise: einfache Mehrheit zählt Berichterstattung: jährlicher Bericht für Ministerien (Zahl der gemeldeten Fälle von Lebensbeendigung, Art der Fälle, Beurteilung)

c. Sterbehilfe in der Praxis 10000 9000 8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 0 1990 1995 2001 Anfragen Euthanasie und ärztlich assistierter Suizid davon ohne Einwilligung des Patienten Quelle: Bregie D Onwuteaka-Philipsen et.al.: Euthanasia, in: THE LANCET 8/2003

c. Sterbehilfe in der Praxis Anteil von Euthanasie- und ärztl. ass. Suizid-Todesfällen an allen Todesfällen (in %) 3 2,5 2 1,5 1 0,5 Euthanasie ärztlich assistierter Suizid Euthanasie ohne ausdrücklichen Wunsch des Patienten 0 1990 1995 2001 Quelle: Bregie D Onwuteaka-Philipsen et.al.: Euthanasia, in: THE LANCET 8/2003

c. Sterbehilfe in der Praxis Altersstruktur: Anteil der Euthanasie- und ärztl. assistierten Suizid- Patienten an Gesamtzahl der gestorbenen Personen einer Altersgruppe (in %) 5 4,5 4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0 1990 1995 2001 0-64 Jahre 65-79 Jahre 80 J. und älter Quelle: Bregie D Onwuteaka-Philipsen et.al.: Euthanasia, in: THE LANCET 8/2003

c. Sterbehilfe in der Praxis Tötungen ohne ausdrückliches Verlangen der Patienten In ca. 600 Fällen/Jahr misslingt der ärztlich assistierte Suizid, so dass die Patienten aktiv getötet werden mussten Dunkelziffer? (1995: ca. 40 %) Vertrauensverlust zum Ärztestand/ 20 000 living-cards Ökonomischer Druck (15 % der Ärzte sehen sich durch diesen Druck zur Euthanasie oder zur ärztlichen Assistenz eines Suizides gedrängt)

d. Kritische Anfragen Wird die Dilemma-Situation des Arztes entschärft? Kriterium: Freiwillige Bitte des Patienten Ist Selbstbestimmung gegeben? Kriterium: Aussichtsloser Zustand des Patienten und unerträgliches Leiden 2/3 der Anfragen werden abgelehnt: Folgen für Patienten?! Tötung ohne Einwilligung: Paternalismus Kontrolle nach der Tötung keine Korrekturmöglichkeit Drei-köpfige Kommission, Mehrheitsentscheid (Gegenstimme unerheblich) Gesetzes-Folgenabschätzung: ökonomisch günstige Entwicklung? ( sozialverträgliches Frühableben ), weniger Druck, eine Palliativ- und Hospizversorgung aufzubauen? Gefährdung des Vertrauens zwischen Arzt und Patient

Eckpunkte einer eigenen Bewertung Anthropologie: Mensch ist ein Beziehungswesen: Selbstbestimmung und Fürsorge bedingen einander. Ethik: Eine weniger kritische Handlungsweise ist einer kritischen Handlungsweise vorzuziehen. Konkret: Zunächst ist eine flächendeckende, qualitativ ausreichende Palliativversorgung und Hospizarbeit sicherzustellen. Rechtsethik: Bei extrem unerträglichem Leiden sind in Einzelfällen Ausnahmen mit ärztlich assistiertem Suizid und aktiver Tötung denkbar (Dilemma-Situation, Schuld ist unvermeidbar). Eine gesetzliche Regelung aber macht aus einem Einzel- und Ausnahmefall ein reguläres (Anspruchs-) Recht auf ärztliche Assistenz beim Suizid oder auf aktive Tötung. Ein solches Recht induziert Inanspruchnahme. Christliche Ethik: Die Selbstbestimmung findet bei der Tötung auf Verlangen ihre Grenze. Stattdessen: Warten auf den Tod.

Ausblick Warum wird die aktive medizinische Lebensbeendigung ausgerechnet in den Niederlanden akzeptiert? Euthanasie-Experte Chris Rutenfrans: Ich selbst denke an zwei Faktoren, die in den Niederlanden zufällig zusammenkommen. Erstens sind wir ein protestantisches Land.... Protestanten haben eine andere Lösung für die immerwährende Spannung zwischen Norm und Praxis als die Katholiken. Wenn eine Norm nicht in allen Fällen gerechtfertigt und menschlich ist,... dann wollen Protestanten die Norm verändern und anpassen an die Praxis.... Der zweite Punkt ist, dass die Niederlande, anders als andere protestantische Länder, vor dem Zweiten Weltkrieg keine Euthanasiebewegung gekannt hat. Dadurch sind wir uns weniger bewusst als die Deutschen z.b. des Zusammenhangs zwischen Vorkriegsdiskussionen und den abscheulichen Euthanasie-Aktionen Nazi-Deutschlands.