Institut für Philosophie Peggy H. Breitenstein, M.A. PS: Michel Foucault Überwachen und Strafen (SS 07) 1. Was heißt Macht? - Etymologie: abgeleitet von got. magan Können, Kraft, Vermögen, das Mögliche wirklich zu machen - als Grundbegriff der Sozialphilosophie soziales Verhältnis bzw. Charakteristikum (zwischen-)menschlicher Beziehungen - gängige Definition: Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22), Tübingen 5 1972, S. 28f.) 2. Basaler Machtbegriff Foucaults - Machtbeziehungen (relations de pouvoir): Ich gebrauche das Wort Macht kaum, und wenn ich es zuweilen tue, dann um den Ausdruck abzukürzen, den ich stets gebrauche: die Machtbeziehungen. [ ] Was ich sagen will ist, dass in den menschlichen Beziehungen, was sie auch immer sein mögen, ob es nun darum geht, sprachlich zu kommunizieren [ ], oder ob es sich um Liebesbeziehungen, um institutionelle oder ökonomische Beziehungen handelt, die Macht stets präsent ist: Damit meine ich die Beziehungen, in denen der eine das Verhalten des anderen zu lenken versucht. Es sind also Beziehungen, die man auf unterschiedlichen Ebenen, in verschiedener Gestalt finden kann. Diese Machtbeziehungen sind mobile Beziehungen, sie können sich verändern und sind nicht ein für alle Mal gegeben. (M. F.: Die E- thik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit [Gespräch 1983], in: Ders.: Schriften in vier Bänden, Bd. IV, FfM. 2005, S. 875-902, hier 889f.) - Macht und Widerstand: Man sollte außerdem beachten, dass es Machtbeziehungen nur in dem Maße geben kann, in dem die Subjekte frei sind. [ ] Das heißt, dass es in Machtbeziehungen notwendigerweise Möglichkeiten des Widerstands gibt, denn wenn es keine Möglichkeiten des Widerstands gewaltsamer Widerstand, Flucht, List, Strategien, die die Situation umkehren gäbe, dann gäbe es überhaupt keine Machtbeziehungen. (ebenda, 890.)
- Unterscheidung von Machbeziehungen und Herrschaftszuständen (états / faits de domination): Mir scheint, dass man unterscheiden muss auf der einen Seite zwischen Machtbeziehungen als strategischen Spielen zwischen Freiheiten, also Spielen, in denen die einen das Verhalten der anderen zu bestimmen versuchen, worauf die anderen mit dem Versuch antworten, sich darin nicht bestimmen zu lassen oder ihrerseits versuchen, das Verhalten der anderen zu bestimmen, und auf der anderen Seite Herrschaftszuständen, die das sind, was man üblicherweise Macht nennt. (ebenda, 900) Herrschaftszustände: In sehr vielen Fällen sind die Machtbeziehungen derart verfestigt, dass sie auf Dauer asymmetrisch sind und der Spielraum der Freiheit äußerst beschränkt ist. [ ] In diesen Fällen ökonomischer, sozialer, institutioneller oder sexueller Herrschaft besteht das Problem in der Tat darin, zu wissen, wo sich Widerstand formieren kann. (ebenda, 891) - Foucaults Umwertung: Ich glaube, dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, sofern man sie als Strategien begreift, mit denen die Individuen das Verhalten der anderen zu lenken und zu bestimmen versuchen. [ ] Die Macht ist nicht das Böse. Macht heißt: strategische Spiele. Nehmen Sie zum Beispiel [ ] die pädagogische Institution. Ich sehe nicht, was schlecht sein soll an der Praxis desjenigen, der in einem bestimmten Wahrheitsspiel mehr weiß als ein anderer und ihm sagt, was er tun muss, ihn unterrichtet, ihm ein Wissen vermittelt, ihm Techniken mitteilt; das Problem liegt eher darin, zu wissen, wie man bei diesen Praktiken, bei denen die Macht sich nicht nicht ins Spiel bringen kann und in denen sie nicht an sich selbst schlecht ist, Herrschaftseffekte vermeiden kann [ ]. (ebenda, 899) - Funktion der Philosophie: Auf ihrer kritischen Seite, ich verstehe kritisch in einem sehr weiten Sinne, ist die Philosophie das, was alle Erscheinungen der Herrschaft, auf welcher Ebene und in welcher Form auch immer sie sich darstellen, immer wieder politisch, ö- konomisch, sexuell, institutionell usw. in Frage stellt. (ebenda, 902) 3. Mikrophysik der Macht (Foucaults Abgrenzung vom juridischen Machtmodell) - allgegenwärtige Vielfalt von Kräfteverhältnissen: "Unter Macht verstehe ich hier nicht die Regierungsmacht, als Gesamtheit der Institutionen und Apparate, die die bürgerliche Ordnung in einem gegebenen Staat garantieren. Ebensowenig verstehe ich darunter eine Unterwerfungsart, die im Gegensatz zur Gewalt in Form der Regel auftritt. Und schließlich meine ich nicht ein allgemeines Herrschaftssystem, das von einem Element, von einer Gruppe gegen die andere
aufrechterhalten wird und das in sukzessiven Zweiteilungen den gesamten Gesellschaftskörper durchdringt. Die Analyse, die sich auf der Ebene der Macht halten will, darf weder die Souveränität des Staates, noch die Form des Gesetzes, noch die globale Einheit einer Herrschaft als ursprüngliche Gegebenheiten voraussetzen; dabei handelt es sich eher um Endformen. Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern. Die Möglichkeitsbedingung der Macht [...] liegt nicht in der ursprünglichen Existenz eines Mittelpunktes, nicht in einer Sonne der Souveränität, von der abgeleitete oder niedere Formen ausstrahlen; sondern in dem bebenden Sockel der Kraftverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind. Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt erzeugt. Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall. Und die Macht mit ihrer Beständigkeit, Wiederholung, Trägheit und Selbsterzeugung ist nur der Gesamteffekt all dieser Beweglichkeiten, die Verkettung, die sich auf die Beweglichkeiten stützt und sie wiederum festzumachen sucht. Zweifellos muß man Nominalist sein: die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt." (M. F.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, FfM. 1983, 113f.) - Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht. (ebenda, 115) - Die Machtbeziehungen verhalten sich zu anderen Typen von Verhältnissen (ökonomischen Prozessen, Erkenntnisrelationen, sexuellen Beziehungen) nicht als etwas Äußeres, sondern sind ihnen immanent. [ ] Die Machtbeziehungen bilden nicht den Überbau, der nur eine hemmende oder aufrechterhaltende Rolle spielt wo sie eine Rolle spielen, wirken sie unmittelbar hervorbringend. (ebenda, 115) - Die Macht kommt von unten, d.h. sie beruht nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt [ ]. Man muß eher davon ausgehen, daß die vielfältigen Kräfteverhältnisse, die sich in den Produktionsapparaten, in den Familien, in den einzelnen Gruppen und Institutionen ausbilden und auswirken, als Basis für weitreichende und den gesamten Gesellschaftskörper durchlaufende Spannungen dienen. Diese bilden eine große Kraftlinie, die die lokalen Konfrontationen durchkreuzt und verbindet aber umgekehrt bei diesen auch Neuverteilungen,
Angleichungen, Homogenisierungen, Serialisierungen und Konvergenzen herbeiführen kann. (ebenda, 115) - Die Machtbeziehungen sind gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv. Erkennbar sind sie nicht, weil sie im kausalen Sinn Wirkung einer anderen, erklärenden Instanz sind, sondern weil sie durch und durch von einem Kalkül durchsetzt sind: keine Macht, die sich ohne eine Reihe von Absichten und Zielsetzungen entfaltet. Doch heißt das nicht, daß sie aus der Wahl oder Entscheidung eines individuellen Subjekts resultiert. (ebenda, 116) Vergleich der beiden Machtbegriffe und Modelle der Machtanalyse Juridisches Modell (Leviathan) Strategisches Modell Foucaults - Macht als Besitz, Gut, Substanz; sie kann besessen, abgetreten, getauscht werden - über sie verfügen bestimmte soziale Gruppen, Schichten, Klassen, andere nicht - Machtverhältnisse bzw. -prozesse verlaufen von oben nach unten, sind von zentralen Instanzen aus (Staatsapparat) auf Individuen gerichtet (politischer Souverän vs. Freiheit des Subjekts) - Macht äußert sich in Gestalt von Verboten, Zwängen, Ausschließungen, Unterwerfungen - sie dient der Unterdrückung und der Aufrechterhaltung bestehender sozialer, ökonomischer, politischer Verhältnisse Traditionelle Machtanalyse: - fragt nach (il)legitimem Gebrauch, (un)rechtmäßiger Anwendung, nach Möglichkeiten des Konsenses - Macht ist nicht Eigentum, ist nicht im Besitz bestimmter Personen oder Gruppen etc. - Macht ist soziale Beziehung, also relational; diese Beziehungen sind vielfältig - Machtverhältnisse durchziehen netzartig den Gesellschaftskörper; reichen ü- ber Staatsapparate hinaus - Machtverhältnisse sind zwar asymmetrisch, aber umkehrbar - Machtverhältnisse erzeugen strategische Situation; Konfrontation, Kampf, Krieg - Macht ist gebunden an Widerstand (als andere Seite der Macht), der produktiv ist wie die Macht Genealogie der Macht: - analysiert Strategien, technologische Eigenarten, Verknüpfungen - richtet Fokus auf den produktiven Charakter von Machtverhältnissen
4. Zum Machtbegriff Foucaults (Auswahl Primärliteratur): Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977 [hier vor allem S. 36-42] Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983 [hier vor allem S. 101-124] Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999 [hier vor allem S. 7-51] Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Band 3: 1976-1979, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003 [hier die Nummern: 192, 197, 216] Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Band 4: 1980-1988, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005 [hier die Nummern: 291, 297, 306, 356] Foucault, Michel: Analytik der Macht, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005 [= eine Auswahl aus den Schriften in vier Bänden, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Lemke]