Persönlichkeitsstörung und antisoziale Entwicklung Zürich 04.02.2016 Klaus Schmeck Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Persönlichkeitsstörungen im DSM5 2 Die Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen wurde weitgehend unverändert aus dem DSM-IV-TR übernommen. Überarbeitete Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen im Anhang des DSM-5 Persönlichkeitsstörungen definiert als Einschränkungen in den beiden Funktionsbereichen: 1. Selbst-bezogene Persönlichkeitsfunktionen (Identität und Selbstlenkung) 2. Interpersonale Persönlichkeitsfunktionen (Empathie und Intimität) Die Altersbegrenzung für die Diagnose einer PersonlichkeitsStörung wurde aufgehoben.
Antisoziale PS im DSM-5 tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das seit dem 15. Lebensjahr auftritt. Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: 1. Versagen bei der Anpassung an gesellschaftliche Normen; wiederholtes Begehen von Handlungen, die einen Grund für eine Festnahme darstellen 2. Falschheit; wiederholtes Lügen, Gebrauch von Decknamen oder Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen 3. Impulsivität oder Unfähigkeit, vorausschauend zu planen 4. Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Tätlichkeiten äußert 5. Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit bzw. der Sicherheit anderer Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 11. Februar 2016 3
Antisoziale PS im DSM-5 6. Durchgängige Verantwortungslosigkeit; wiederholtes Versagen, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen 7. Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierungen äußert, wenn andere Menschen verletzt, misshandelt oder bestohlen wurden. B) Die Person ist mindestens 18 Jahre alt. C) Eine Störung des Sozialverhaltens war bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres vorhanden. D) Das antisoziale Verhalten tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Schizophrenie oder einer manischen Episode auf. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 11. Februar 2016 4
Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen im ICD-11 (Tyrer, 2014; Tyrer et al., 2015) AllebisherexistierendenDiagnose-Kategorienvon PS sollen gestrichen werden. Klassifikation auf einer einzigen Dimension nach Schweregrad: - keine Persönlichkeits-Beeinträchtigungen - Persönlichkeits-Auffälligkeiten(difficulties) - leichte Persönlichkeitsstörung - mittelschwere Persönlichkeitsstörung - schwere Persönlichkeitsstörung Die Art der Persönlichkeits-Beeinträchtigungen wird durch Einschätzungenvon Persönlichkeits-Traits bestimmt. Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 11. Februar 2016 5
Dissoziale Persönlichkeitsstörung im ICD-11 Tyrer et al., Lancet, 2015 «Dissocial features» Kern des dissozialenpersönlichkeitstraitsistdie Missachtung sozialer Verpflichtungen und Konventionen sowie der Rechte und Gefühle anderer. Weiterhin zählen dazu Kaltherzigkeit, Empathiemangel, Rücksichtslosigkeit Feindseligkeit, Aggression Unfähigkeit oder Unwillen, prosoziales Verhalten zu zeigen oft verbundenmiteinerübermässigpositivensichtvon sich selbst, Anspruchshaltung und einer Tendenz zu manipulativem und ausbeuterischem Verhalten Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 11. Februar 2016 6
Entwicklung von Antisozialen Persönlichkeitsstörungen Frühe Kindheit Adoleszenz Erwachsenenalter Angst Depression Substanzmißbrauch Opposition. Trotzverhalten Störung des Sozialverhaltens Antisoziale Persönlichkeitsstörung Hyperkinetische Störung 7 nach Loeber et al. (2000)
Predictors of Antisocial Personality Continuities from Childhood to Adult Life. Simonoff et al., Br J Psychiat. 2004, 184:118-124
Kernsymptomatik dissozialen Verhaltens Wiederholtes Überschreiten von gesellschaftlich vereinbarten Normen Unfähigkeit, Schuld und Reue zu empfinden Mangelnde Empathie und affektive Berührtheit Unfähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen Risikobereitschaft ohne ausreichende Angst vor den Konsequenzen K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch
Dissoziale Handlung als Folge einer mangelnden Balance zwischen Aktivierung und Hemmung Starke Verhaltensaktivierung Mangelnde Verhaltenshemmung Impulsivität Neugier / Reizsuche / Risikobereitschaft geringe Empathie fehlende Schuldgefühle fehlende Angst emotionale Dysregulation Rollenvorbilder Gruppendruck Alkoholkonsum K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 10
Ausgeprägtes Neugierverhalten(JTCI) und Störungen des Sozialverhaltens (Schmeck & Poustka, 2001) Conduct Other Diagnosis Total Disorder Novelty Seeking-T-score 12 8 20 >60 ( >84 th percentile) (71%)* (17%) (31%) Novelty Seeking-T-score 5 40 45 60 (29%) (83%) (69%) Total 17 48 65 OR = 12 K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 11
Die Bedeutung von Empathie bei der Kontrolle von antisozialem Verhalten Das Ausagieren von gewalttätigen Impulsen wird verhindert durch das Erleben von Furcht, Empathie mit dem Opfer oder Schuldgefühle Blair (2005): Die Neigung zu aggressivem Verhalten reflektiert verminderte Empathie für das Leiden anderer. Aggressives Verhalten ist assoziiert mit abweichender VerarbeitungaffektiverInformationen(Herpertz& Sass, 2000). K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 12
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Psychopathische Persönlichkeitsmerkmale YPI-Faktor Grandios, manipulativ kaltherzig-unemotional Impulsiv, verantwortungslos Subskala Oberflächlicher Charme Grandiosität Pathologisches Lügen Manipulation Kaltherzigkeit Unemotionalität fehl. Schuldbewusstsein Impulsivität Reiz-Suche Verantwortungslosigkeit K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch
20 Verteilung des YPI Gesamt-Scoresin einer Schulstichprobe (Stadlin et al., 2015) 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 Community sample YPI Total-Score K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch
Verteilung des YPI Gesamt-Scores für Jungen und Mädchen (Stadlin et al., 2015) 25 20 15 10 5 male (n = 480) female (n = 360) 0-5 -6-7 -8-9 -10-11 -12-13 -14-15 -16-17 -18 YPI Total-Score K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch
YPI Gesamt-Score (Schmid et al., 2013) 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 mw + 1sd 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 Community sample (N = 840) Juvenile justice/youth welfare sample (N = 287) YPI Total-Score K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch
YPI Werte bei männlichen Jugendlichen mit delinquentem Verhalten (Schmid et al., 2013) 15 12.5 ** ** ** ** P < 0,01 = ** P < 0,05 = * N = 222 10 no offence (n=21) 7.5 low-level offence (n=24) moderate offence (n=25) severe offence l.v. (n=76) 5 severe offence h.v. (n=76) Interpersonal Affective Behavioral Total Score K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch
YPI Werte bei weiblichen Jugendlichen mit delinquenten Verhalten (Schmid et al., 2013) 15 12.5 ** ** ** P < 0,01 = ** P < 0,05 = * N = 78 10 7.5 5 Interpersonal Affective Behavioral Total Score no offence (n=11) low-level offence (n=13) moderate offence (n=19) severe offence l.v. (n=24) severe offence h.v. (n=11) K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch
Bedeutung psychopathischer Persönlichkeitsmerkmale für den Verlauf einer Massnahme (Schmid et al., 2013) 17 15 13 *** *** ** 11 * irreguläres Maßnahmenende (N=74) vorhandene Verlaufsmessung (N=378) 9 7 5 Gesamtwert Interpersonal Affektiv Behavioral Psychopathie (YPI) K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 25
Heritabilitätvon antisozialem Verhalten in einer Stichprobe von 7500 Zwillingen (Viding et al., 2009) K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 26
Interaktion von biologischen und psychosozialen Risikofaktoren Role of Genotype in the Cycle of Violence in Maltreated Children Caspi A et al., Science (2002) 297:851-854 100 80 60 40 20 % Störungen des Sozialverhaltens N = 108 42 13 N = 180 79 20 Geringe MAO-A- Aktivität starke MAO-A- Aktivität Keine Misshandlung Wahrsch. Misshandlung Schwere Misshandlung K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch
Fonagy (2004): Persönlichkeitsstörung und Gewalt ein psychoanalytischbindungstheoretischer Ansatz Sicheres Bindungsmuster in der frühen Kindheit steht in engem Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Mentalisierung (sich selbst und andere verstehen können). Straftäter haben geringere Fähigkeit zur Mentalisierung im Vergleich zu Kontrollpersonen. Gewalttäter haben noch niedrigere Fähigkeiten zur Mentalisierung als andere Straftäter. Geringe Mentalisierungsfähigkeit verringert das Einfühlungsvermögen in potentielle Opfer, damit fehlt zentrale Hemmschwelle. K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 28
Fonagy: Soziale Gewalt geht in der Vorgeschichte einher mit der Brutalisierung einer affektiven Bindung Fonagy(2004): Untersuchung von Jugendlichen / jungen Erwachsenen mit schwerem kriminellem Verhalten. Nahezu alle Gewaltverbrecher waren in der Vergangenheit selber von Angehörigen ihres engsten familiären oder sozialen Umfelds misshandelt worden. Häufig Unterwerfung unter eine Autoritätsperson, die exzessive Gewalt ausübte. Gefühl von Scham, abgelöst von intensiver Wut. Entsteht auch beim Miterleben der Misshandlung einer Bindungsfigur. K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 29
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Zusammenfassung Entstehung von dissozialen Persönlichkeitsstrukturen und - störungen ist ein multifaktorielles Geschehen, bei dem das Zusammentreffen von neurobiologischen Funktionsstörungen und psychosozialen Lebensbelastungen zu einer abweichenden Entwicklung der Persönlichkeit führt. Besonders problematisch für Behandlung und Prognose sind psychopathische Persönlichkeitsmerkmale mit kaltherzigunemotionalen Wesenszügen Die Behandlung von solchen Kindern und Jugendlichen stellt weiterhin eine grosse Herausforderung dar. K. Schmeck, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel www.upkbs.ch 11. Februar 2016 31
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