Klinik und Poliklinik für Innere Medizin Medikamentöse Schmerztherapie bei akuten / chronischen Schmerzen Dominik Schneider 16.01.2013
Definition Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit aktuellen oder potentiellen Gewebeschädigungen verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. Pain 6, 249-252, 1979 15.03.2013 Seite 2
Schmerztherapie = Menschenrecht International Association for the Study of Pain (IASP) World Health Organization (WHO) Human Rights Watch International Federation of Health and Human Rights Organisation 15.03.2013 Seite 3
Pain in Europe: Resultate CH > 75 % der chronisch Schmerzkranken im erwerbsfähigen Alter (Ø 48) Durchschnittlich 14,8 Krankheitstage / Jahr Arbeitsplatz verloren aufgrund ihrer Schmerzen(16%) Harald Breivik et al: European Journal of Pain 10 (2006): 287-333 15.03.2013 Seite 4
Pain in Europe: Resultate CH Durchschnittlich 8 Jahre 15.03.2013 Seite 5
Pain in Europe: Resultate CH Schmerzmanagement: CH: 54% (!) der Betroffenen haben Schmerzen nicht unter Kontrolle (EU 40%; D 29%; UK: 37%) 27% haben nie (!) verschreibungspflichtige Präparate bekommen (D: 22%, UK: 19%) Deutsche Bundesregierung (2003): Jährliche Kosten von chronischen Schmerzen in D in Höhe 20.5 28.7 Mrd. Euro; CH: whs 4.3 Mrd. sfr 15.03.2013 Seite 6
Kostenvergleich 15.03.2013 Seite 7
Medizinhistorisches: Schmerzverständnis Antike: Schmerz durch böse Geister Fauliges Öl im Körper "Der Schmerz erhöht den Menschen - in seinem Umgang mit dem Schmerz Schmerz kann der zeigt Mensch Edelmut zum und Vorbild besondere werden" Grösse Mittelalter: Theologisierung Schmerz als «Strafe Gottes», Prüfung durch Gott Identifizierung mit Jesus Christus Schmerz als Mittel zur Kontaktaufnahme mit Gott: Kasteiungen als Reinigung 15.03.2013 Seite 8
Medizinhistorisches: Schmerzverständnis Descartes (ca. 1640): Ablösung von Körper und Seele: Körper ist seelenlose Hülle "Befindet sich z.b. das Feuer A in der Nähe des Fußes B, dann haben die kleinen, bekanntlich schnell bewegten Mechanistisch-rationaler Teilchen dieses Feuers Ansatz aus sich heraus die Kraft, die betroffene Stelle der Haut dieses Fußes in Bewegung zu versetzen. Indem sie dadurch an der kleinen (Mark-) Faser c ziehen, die - wie man sieht - dort befestigt ist, öffnen sie im gleichen Augenblick den Eingang der Pore d e, an der diese kleine Faser endet, ebenso wie man in dem Augenblick, in dem man an dem Ende eines Seilzuges zieht, die Glocke zum Klingen bringt, die an dem anderen Ende hängt." Erstmals Frage nach körperlichen Bedingungen des Schmerzes 15.03.2013 Seite 9
Medizinhistorisches: Schmerztherapie Antike: Wein mit Hanfsamen, Heilkulte, alchemistische Praktiken Vereisung mit Schnee und Eisstücken Mittelalter: Paste aus Honig und Hundekot Kariöse Zähne mit Säure verätzt oder mit Glüheisen ausgebrannt Grosszügig dosierter Alkohol Angst vor Inquisition Geschwindigkeit als Schmerztherapie Schnellste Beinamputation: 8 Sekunden?! 15.03.2013 Seite 10
Medizinhistorisches: Schmerztherapie 1775: Herstellung von Lachgas Attraktion auf Jahrmärkten 1806: Gewinnung von Morphin aus Opium 1847: Entdeckung von Chloroform Selbstversuch durch James Simpson (Geburtshelfer) Kirche gegen Chloroform in Geburtshilfe: «Geburtsschmerz ist Teil von Evas Fluch» 15.03.2013 Seite 11
Medizinhistorisches: Schmerztherapie 1899: Herstellung von Acetylsalicylsäure in haltbarer Form 1950er: Markteinführung von Paracetamol Seit 1960er: Synthetische Opiate Erfolg??? Akuter Schmerz Chronischer Schmerz 15.03.2013 Seite 12
Bio-psycho-soziales Modell Aus Studien zur Allg. Systemtheorie und Anwendung auf Biologie Ausformulierung und Propagierung 1976 (G. Engel) Nach Schuntermann, 1999 15.03.2013 Seite 13
Bio-psycho-soziales Modell Gesundheit: Ausreichende Kompetenz des System «Mensch» beliebige Störungen auf beliebigen Ebenen autoregulativ zu bewältigen Nicht die Abwesenheit pathogener Keime oder Fehlen von Störungen Krankheit: System «Mensch» kann die autoregulative Kompetenz zur Bewältigung von Störungen nicht ausreichend zur Verfügung stellen Art und Ebene der Störung ist weniger relevant Egger J.: Psychologische Medizin, 2005;2; 3-12 Waddell G.: Spine 1987;12:632-644 15.03.2013 Seite 14
Schmerzempfinden Ein Patient hat dann Schmerzen, wenn er ein Gefühl als Schmerz empfindet, unabhängig davon, ob dies für den Beobachter rational nachvollziehbar oder objektiv messbar ist. 15.03.2013 Seite 15
Schmerzempfinden 15.03.2013 Seite 16
Nozizeption Erlernen von Schmerzwahrnehmung in Kindheit (Persönlichkeitsentwicklung) Affektiv (aversiv) Später kognitiv 15.03.2013 Seite 17
Schmerzphysiologie: Einfluss der Psyche Konditionierung der Katze durch Belohnung Schmerztoleranz lässt sich durch Konditionierung erhöhen Zimmermann M.: Psychologische Schmerztherapie (2003), S. 42 15.03.2013 Seite 18
Schmerzleitung 15.03.2013 Seite 19
Schmerzphysiologie: Nozizeptor Zimmermann M.: Psychologische Schmerztherapie (2003), S. 28 15.03.2013 Seite 20
Einteilung Akuter Schmerz: kurzer, sich selbst limitierender Prozess, Warnsymptom Chronischer Schmerz: hält länger als 3 bzw. 6 Monate an oder dauert länger als erwartete Heilungsdauer. Hat Funktion als Warnsignal verloren. 15.03.2013 Seite 21
Schmerzformen Nozizeptorschmerz Somatischer Schmerz Viszeraler Schmerz (referred pain) Neuropathischer Schmerz Attackenförmig Kontinuierlich (zentraler Schmerz) Schmerz mit gemischer Aetiologie z.b. Tumorschmerz Psychogener oder psychosomatischer Schmerz 15.03.2013 Seite 22
Schmerzformen Nozizeptiver Schmerz Neuropathischer Schmerz Schmerzqualität dumpf/hell, pulsierend, krampfartig, stechend brennend, schneidend, elektrisierend, zerreissend Basisschmerz ~ konstant konstant Zusätzliche Schmerzattacken gelegentlich häufig, intensiv Neurologische Befunde keine Sensibilitätsstörungen : Hypästhesie, Hyperästhesie, Dysästhesie, Hypalgesie, Hyperalgesie, Allodynie Schmerzursprung Nozizeptoren PNS, ZNS Schmerzlokalisation Schmerzbeginn am Ort der Läsion (ausser viszeraler Schmerz) unmittelbar nach Schädigung entsprechend dem Innervationsgebiet, in die Peripherie projiziert Latenz nach der Läsion (Tage oder Wochen) 15.03.2013 Seite 23
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Schmerzformen Medikamentöse Schmerztherapie Nichtopiode Analgetika Nozizeptiver Schmerz Neuropathischer Schmerz +++ Opioide Analgetika +++ ++ Antidepressiva + +++ Antikonvulsiva (+) +++ Neuroleptika + ++ Corticosteroide (zur Akutintervention) ++ + Interventionelle Schmerztherapie Blockadetechniken Intraartikuläre Techniken Denervierungstechniken ++ ++ + ++ ++ 15.03.2013 Seite 25
Schmerztherapie nach Schmerzmechanismus
Anamnese Schmerzqualität Intensität (Visuelle Analogskala VAS) Zeitliches Auftreten Lokalisation /Ausstrahlung Zusammenhang mit Bewegung / Nahrung? Umstände, die zu Linderung / Intensivierung führen 15.03.2013 Seite 27
Schmerzursache Körperliche Untersuchung Einholen alter Befunde / Beurteilungen Durchführung / Ergänzung der Diagnostik Frühere Therapieversuche? 15.03.2013 Seite 28
Therapie: Grundsätze Akute Schmerzen: rasche Therapieanpassung Auch an Wochenendvisiten Chronische Schmerzen: Schrittweise Steigerung der Therapie Schmerzfreiheit häufig nicht möglich! Arzt-Patientenverhältnis essentiell! Nebenwirkungen möglichst verhindern Vorerfahrungen mit einbeziehen Patienten und Pflege als aktiven Partner in Schmerztherapie integrieren 15.03.2013 Seite 29
Risikofaktoren für eine Schmerzkarriere Arbeitsunfähigkeit von länger als 4 Monaten ein niedriger Sozialstatus/Berufsqualifikation eine geringe Arbeitszufriedenheit eine vorausgegangene Bandscheibenoperation psychische und soziale Schwierigkeiten depressive Störungen Vermeidungsverhalten oder übertriebene Durchhaltestrategien eine belastende Kindheit mangelhafte emotionale Beziehung geringe Geborgenheit Misshandlungen sexueller Missbrauch häufiger Streit im Elternhaus oder Scheidung 15.03.2013 Seite 30
Schmerzerfassung Visuelle Analogskala (VAS) Schmerztagebuch VAS 3xtgl Vor + nach Gabe der Reservemedikation durch Pat./Angeh./Pflege Anpassung der Analgetika Ziel ist ein VAS 3 Wenn >5 mehrmals im Laufe des Tages vorkommen, so ist möglicherweise die Basistherapie ungenügend. VAS > 7= sehr starke Schmerzen, sofort intervenieren. 15.03.2013 Seite 31
Schmerzprotokoll Wirken Analgetika? Verlauf der Schmerzangaben über Tage Wie oft und wann Reservemedikation? Spezielles Muster? Adaequate Dosis der Reservetherapie? Unterschiede zwischen körperlicher Belastung und Ruhe? Gabe von Reserve vor Mobilisation? 15.03.2013 Seite 32
Medikamentöse Schmerztherapie WHO Prinzipien: by the mouth Alternativen; Transkutan, rectal, wenn enteraler Weg erschwert ist by the clock Einnahme entsprechend Wirkdauer der Medikamente by the ladder Schmerztherapie soll der Schmerzstärke angepasst werden 15.03.2013 Seite 33
WHO-Stufenschema --- veraltet? 15.03.2013 Seite 34
WHO-Stufen Stufe 1: Paracetamol NSAR Metamizol Wahl nach Comorbiditäten, Indikation immer wieder in Frage stellen Eher nicht untereinander mischen Cave: NSAR bei KHK, Interaktion mit ASS Lokale NSAR: gute Alternative 15.03.2013 Seite 35
WHO-Stufen Stufe 2 (schwache Opioide): Tramadol Codein (als Co-Dafalgan) Tilidin (Valoron, braucht Betäubungsmittelrezept) Retardprodukte = weniger Nebenwirkungen Kombination mit Stufe 1 grundsätzlich sinnvoll Gewisse NW (z.b. Nausea, Schwindel) lassen nach einigen Tagen nach 15.03.2013 Seite 36
WHO-Stufen Stufe 3 (starke Opioide): Morphin Fentanyl Hydromorphon Buprenorphin Methadon Oxycodon Tapentadol 15.03.2013 Seite 37
WHO-Stufen Stufe 3 (starke Opioide): Kein Ceilingeffekt Keine Maximaldosierung; ist durch NW gegeben Opioid-induzierte Hyperalgesie Vorsicht bei Niereninsuffizienz: Kumulation Geeignet bei schwerer NI: Hydromorphon (Palladon), Buprenorphin (Transtec, Temgesic), Methadon 15.03.2013 Seite 38
WHO-Stufen Stufe 3 (starke Opioide): Enges therapeutisches Fenster: Gut erreichbar durch langsame Dosissteigerung Obligate NW prophylaktisch therapieren Nausea, Harnverhalt (temporär) Obstipation (persistierend) immer Laxantien!! Suchtgefahr nur bei Vorgeschichte Autofahren nach 7 Tagen stabiler Dosierung J Pain Symptom Management, 1/2003 15.03.2013 Seite 39
WHO-Stufen Stufe 3 (starke Opioide): Braucht Betäubungsmittelrezept Basistherapie und Reservetherapie nach Möglichkeit gleiches Produkt Reisen: je nach Zielland untersch. Bestimmung Bewilligung des Ziellandes 15.03.2013 Seite 40
WHO-Stufen Kommunikation: 15.03.2013 Seite 41
WHO-Stufen Maligne Schmerzen Kommunikation: 15.03.2013 Seite 42
Adjuvante Therapie Indikation: Chron. Sz, Neuropath. Sz. 15.03.2013 Seite 43
Adjuvant: Trizyklische Antidepressiva NW beachten: Glaukom, Kardiopathien, Hepatopathie, Gewichtszunahme EKG vor Therapiebeginn Leberwerte Amitryptilin (Saroten, Tryptizol ) Niedrig starten (10-25mg), alle 2-3 Tage steigern Trimipramin (Surmontil ) Ziele: Verbesserung der Schmerzmodulation, Verbesserung des Schlafes 15.03.2013 Seite 44
Adjuvant: Antiepileptika Pregabalin (Lyrica ): Beginn mit 25mg/d, alle 3-4 Tage steigern bis max. 600mg/d Gabapentin (Neurontin ): Beginn mit 300mg/d, langsam steigern bis max. 2400mg Carbamazepin (Tegretol ): Beginn mit 2x100mg bis 3-4x200mg 15.03.2013 Seite 45
Adjuvant: Biphosphonat Indikation: ossäre Schmerzen (osteoporotisch, tumorös) Pamidronat (Aredia ): 90mg i.v. über 2h; 1x/Monat Zoledronat (Zometa ): 4mg i.v. über 15min; 1x/Monat Kontraindiziert bei schwerer Niereninsuffizienz 15.03.2013 Seite 46
Targin 15.03.2013 Seite 47
Targin Simpson K et al. Curr Med Res Opin 2008;24(12):3503-12 15.03.2013 Seite 48
Targin Simpson K et al. Curr Med Res Opin 2008;24(12):3503-12 Rentz A et al. J Med Economics 2009;12(4):371-383 15.03.2013 Seite 49
Targin: Anwendung + Kosten Dosierung äquivalent zu Oxycodon Beginn: Targin 10/5 1 0 1 Max. Dosis: Targin 40/20 1 0 1 (in EU höher) Tageskosten je nach Dosis: 2.00sFr bis 8.60sFr 15.03.2013 Seite 50
Palexia 15.03.2013 Seite 51
Palexia Hartrick et al.: Clinical Therapeutic, Vol 31, 2. 260-271 (2009) 15.03.2013 Seite 52
Palexia 15.03.2013 Seite 53
Palexia: Dosierung Beginn: 50mg alle 4-6 Stunden, 2. Dosis kann nach 1h verabreicht werden Ausbau: 75mg alle 4-6 Stunden Max. Dosis: 600mg/d Retardierte Form in CH noch nicht zugelassen. 15.03.2013 Seite 54
Palexia: Aequivalenz + Kosten WHO-Stufe 3 Palexia 50mg p.o. = Morphin 20mg p.o. (2,5:1) Palexia 50mg p.o. = Oxycodon 10mg (5:1) Kosten: Tageskosten 4.80 bzw 6.00sFr 15.03.2013 Seite 55
Take Home Messages Schmerztherapie ist ein Menschenrecht Nicht jeder Schmerz ist durch Medikamente kontrollierbar (Bio-Psycho-Soziales Modell) Schmerztherapie nach Schmerzmechanismus WHO-Prinzipen beachten (oral, gemäss Wirkdauer) WHO-Stufenschema gilt (mit Einschränkungen) Retardierte Formen = bessere Verträglichkeit Kombination verschiedener Wirkmechanismen 15.03.2013 Seite 56