Alles Kultur?! (Rassismus-)Kritische Perspektiven auf Migration und Flucht Inga Oberzaucher-Tölke & Carla Küffner Bonn, 23.04.2016
Alles Kultur?! 1. Pädagogik und Migration 1. Fallbeispiel 2. Kultur als Beobachtungsweise 3. Blinde Flecken der Kulturbrille 4. Alternativen zur Kulturbrille 2. Die Arbeit mit Geflüchteten 1. Definition Rassismuskritik 2. Begrifflichkeiten 3. Rechtlicher Status und seine Auswirkungen 4. Willkommenskultur?! vs. Rechte 5. Selbstreflexivität
Alles Kultur? Alltag in der Kita: Rita und Julia haben Streit. Rita ist offensichtlich richtig wütend: Du bist nie mehr meine Freundin ruft sie für alle hörbar und tritt und schlägt in Julias Richtung. Dann rennt sie aus dem Zimmer hinaus und weint laut und schluchzend. Die Erzieherin, die den Streit beobachtet hat, ist zunächst hilflos, dann geht sie Rita hinterher und versucht sie zu beruhigen. Das ist halt deren Kultur, sagt sie später zu ihrer Kollegin, dieses Impulsive, Temperamentvolle. Das kennen wir ja nicht so. Rita ist vor einiger Zeit mit ihrer Familie aus Brasilien nach Deutschland eingewandert. Die angesprochene Kollegin und zwei weitere, die sich im Raum befinden, nicken zustimmend.
Alles Kultur?! 1.2 Kultur als Beobachtungsweise
1.2 Kultur als Beobachtungsweise Beobachter- und Begriffsrelativität im pädagogischen Alltag (Diehm & Radtke, 1999) je nach Brille sehen Sie ein aufmüpfiges, ein impulsives oder einfach ein selbstbewusstes Kind durch die Kulturbrille sehen die Erzieherinnen das kulturell bedingte Temperament von Rita
1.2 Kultur als Beobachtungsweise Kulturbrille ist sowohl im gesellschaftlichen, als auch im pädagogischen Alltag verbreitet Kindliches Verhalten, z.b. in der Kita, wird oft in den Zusammenhang einer meist fremden Kultur gestellt Kulturbrille hilft dabei, den komplexen pädagogischen Alltag und die Kinder und Familien in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit handhabbar zu machen
1.2 Kultur als Beobachtungsweise Was ist das Problem?
Alles Kultur?! 1.3 Blinde Flecken der Kulturbrille
1.3 Blinde Flecken der Kulturbrille Othering Wir und unsere Kultur existieren erst durch das Gegenüber der Anderen und der fremden Kultur Erzeugung und Stabilisierung eines kollektiven Selbstbildes durch Konstruktion der (kulturell) Anderen (Mecheril & Olalde, 2011) auch in pädagogischen Zusammenhängen wird Kultur meist als die andere Kultur thematisiert
1.3 Blinde Flecken der Kulturbrille Kultur als Nationalkultur Kultur wird im pädagogischen Alltag meist national oder religiös konnotiert verwendet (z.b. türkisch, italienisch, muslimisch) Annahme eines homogenen Ganzen Kulturbegriff enthält Vagheit, Widersprüche, Mängel und Defizite (vgl. Diehm & Radtke, 1999), z.b. bzgl. intrakultureller Differenzen Familienkulturen (Şıkcan, 2010) oder Intersektionalität (z.b. Winker & Degele, 2009) als alternative Perspektiven
1.3 Blinde Flecken der Kulturbrille Kulturen und ihre Bewertungen Unterscheidung nach Kulturen wird oft hierarchisch und mit Bewertungen vorgenommen, z.b. der muslimischen Kultur Negative und abwertende Vorurteile gegenüber der sozialen Bezugsgruppe von Kindern können dazu führen, dass diese sich selbst nichts zutrauen und das negative Bild der pädagogischen Fachkräfte in ihr Selbstbild übernehmen (vgl. Wagner, 2010)
1.3 Blinde Flecken der Kulturbrille Kinder als Kulturträger Kind als Kulturträger ist seiner Kultur gewissermaßen für immer ausgeliefert, da diese sein Verhalten determiniert Kind als individuelle Persönlichkeit mit einer einzigartigen sozialen, familiären und persönlichen (Entwicklungs-)Geschichte rückt in den Hintergrund andere Aspekte von z.b. Konfliktsituationen werden ausgeblendet oder verdeckt und pädagogische Interventionen bleiben ggf. aus
1.3 Blinde Flecken der Kulturbrille Kultur und Machtverhältnisse pädagogische Deutungen werden immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Machtverhältnisse und kollektiv geteiltem Wissen vorgenommen gesellschaftliche Minderheiten, kulturell Andere sind innerhalb dieser Machtverhältnisse in der weniger dominanten Position Machtverhältnisse spiegeln sich in nahezu allen gesellschaftlichen und pädagogischen Bereichen wieder und werden selten hinterfragt
Und jetzt? 1.4 Alternativen zur Kulturbrille
1.4 Alternativen zur Kulturbrille Interkulturalität: Abschied von der Interkulturellen Pädagogik (Hamburger, 2009)? Transkulturalität (Welsch, 1995): grenzt sich vom Kulturverständnis der Inter- und Multikulturalität ab; entwirft ein anderes Bild vom Verhältnis der Kulturen. Nicht eines der Isolierung und des Konflikts, sondern eines der Verflechtung, Durchmischung und Gemeinsamkeit. Es befördert nicht Separierung, sondern Verstehen und Interaktion Rekurs auf Kultur im Kontext von Migration ist generell schwierig
1.4 Alternativen zur Kulturbrille Integration als Anpassungsleistung, die als "Migranten" geltende Personen zu erbringen haben bestätigt die Zuschreibung von Fremdheit, da so genannte Menschen mit Migrationshintergrund als "fremde Elemente konstruiert werden (Mecheril, 2011) Inklusive Pädagogik sieht Heterogenität als Normalfall, bezieht alle LehrerInnen und SchülerInnen ein in Deutschland hauptsächlich mit Fokus auf Behinderung/Nicht-Behinderung diskutiert
1.4 Alternativen zur Kulturbrille Migrationssensibilität (am Bsp. von FamilienWelten Bielefeld) Migrationserfahrungen beeinflussen Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe Kulturreflexivität: Familien entwickeln im Zusammenleben je eigene kulturelle Muster, die für begleitende PädagogInnen grundsätzlich fremd sind (unabhängig des ethnischen Hintergrundes der Familie) fragt nach den rechtlichen, sozialen, ökonomischen und politischen Folgen von Migrationserfahrungen und wie diese in Zusammenhang mit familiären Problemen stehen
1.4 Alternativen zur Kulturbrille Migrationsgesellschaft und Rassismus nimmt statt den Anderen und ihrer Kultur die Aufnahmegesellschaft mit ihren (Macht)Verhältnissen, Gesetzen, Institutionen und Diskursen im Zusammenhang mit Migration in den Blick Rassismus als machtvolles, mit Rasse- oder Kulturkonstruktionen operierendes System von gesellschaftlichen Diskursen und Praxen, mit denen Ungleichbehandlung und hegemoniale Machtverhältnisse wirksam und plausibilisiert werden (vgl. Mecheril & Melter, 2009)
2. Die Arbeit mit Geflüchteten Kritische Perspektiven und Selbstreflexion innerhalb gesellschaftlicher Strukturen
Definition Rassismuskritik Rassismuskritik heißt: zum Thema machen, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse, Handlungsweisen und das Handlungsvermögen von Individuen, Gruppen und Institutionen durch Rassismen vermittelt sind (Linnemann, Mecheril & Nikolenko, 2013: 11)
Begrifflichkeiten
Der rechtliche Status und seine Auswirkungen: Zugang zu Arbeit Selbstständige Arbeit ist während des gesamten Asylverfahrens verboten Unselbstständige Arbeit ist nach 4 Jahren möglich Vorher nur mit Genehmigung der Ausländerbehörde Vorrang für Deutsche/EU-Bürger_innen (Vorrangprüfung)
Deutschlernen unerwünscht! Strukturelle Barrieren erschweren den Spracherwerb Asylbewerber_innen werden von regulärer Kursteilnahme ausgeschlossen
Willkommenskultur?! vs. Rechte Willkommenskultur als Beispiel für das neue deutsche Selbstbild, auf das man stolz sein kann vs. Asyl ist Menschenrecht und damit verlässlich und nicht verhandelbar
Selbstreflexivität Blick auf gesellschaftliche Strukturen Auseinandersetzung mit meinen Vorstellungen der/des Anderen Welche Auswirkungen haben meine Überzeugungen/ mein Handeln/ meine Privilegien? Wann und wie bin ich Teil von Strukturen, die eine Wertung vornehmen? z.b. bewerten, wer etwas verdient hat
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Inga Oberzaucher-Tölke, inga.oberzaucher@posteo.de Carla Küffner, carla.kueffner@gmail.com
Zum Weiterlesen Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung: www.situationsansatz.de/fachstelle-kinderwelten.html Kilomba, G. (2011). Black and White. Interview: www.kalamu.posthaven.com/interview-video-black-and-white-gradakilomba Linnemann, T., Mecheril, P. & Nikolenko, A. (2013). Rassismuskritik. Begriffliche Grundlagen und Handlungsperspektiven in der politischen Bildung. Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 36 (2), 10-14. Mecheril, P. et al. (2010). Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz. Oberzaucher-Tölke, I. (2013). Meine Kultur, deine Kultur. Warum es sich lohnt, die Kulturbrille hin und wieder abzusetzen. www.kindergartenpaedagogik.de/2271.html
Verwendete Literatur FamilienWelten - Migrationssensible Hilfen zur Erziehung & Angebote zur Förderung interkultureller Kommunikation: www.familienweltenbielefeld.de Diehm, I. & Radtke, F.-O. (1999). Erziehung und Migration. Stuttgart: Kohlhammer. Hamburger, F. (2009). Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Weinheim: Juventa. Mecheril, P. (2011). Wirklichkeit schaffen: Integration als Dispositiv. www.bpb.de/apuz/59747/wirklichkeit-schaffen-integration-als-dispositivessay?p=all Mecheril, P. & Melter, C. (2009). Rassismustheorie und -forschung in Deutschland. In: Dies. (Hg.), Rassismuskritik. Band 1 (S. 13-22). Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Verwendete Literatur Mecheril, P. & Thomas-Olalde, O. (2011). Die Religion der Anderen. In: B. Allenbach et al. (Hg.), Jugend, Migration und Religion (S. 35-66). Baden- Baden: Nomos. Şıkcan, S. (2010). Zusammenarbeit mit Eltern: Respekt für jedes Kind Respekt für jede Familie. In: P. Wagner (Hg.), Handbuch Kinderwelten (S. 184-202). Freiburg: Herder. Wagner, P. (2010). Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen aber wie? In: Dies. (Hg.), Handbuch Kinderwelten (S. 203-219). Freiburg: Herder. Welsch, W. (1995). Transkulturalität. www.forum-interkultur.net/uploads/tx_textdb/28.pdf Winker, G. & Degele, N. (2009). Intersektionalität. Bielefeld: Transcript.