Kind und Schule 27. April 2012 Weiterbildung Universität Freiburg Schulrecht Kinderrechte: (K)ein Spannungsfeld? www.gerberjenni.ch Ausgewählte Urteile zu folgenden Themen 1. Recht auf Bildung: Unterrichtsausschluss 2. Recht auf Schutz und Entwicklung: Schulweg 3. Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung: Integration, Begabtenförderung 4. Das Recht gehört zu werden: Einstufung, Schullaufbahn 5. Kulturelle / religiöse Minderheiten: Dispensation 6. Kindeswohl in der KRK 1
1. Recht auf Bildung BGer 2C_446/2010 Gewalt gegen Klassenkameraden und einen Lehrer disziplinarischer Unterrichtsausschluss des 9jährigen Schülers während vier Wochen, anschliessend Sonderschulung in Form von Einzelunterricht Verletzung des Grundrechts auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht (Art. 19 BV)? KRK 28 Recht des Kindes auf Bildung Verwirklichung dieses Rechts auf der Grundlage der Chancengleichheit obligatorische und unentgeltliche Grundschule für alle Massnahmen zur Förderung des regelmässigen Schulbesuchs und zur Verringerung des Schulabbruchs. Massnahmen zur Wahrung der Disziplin in der Schule in einer Weise, die der Menschenwürde des Kindes entspricht und im Einklang mit dem Übereinkommen steht. 2
Die vier Grundprinzipien der KRK Art. 2 Art. 3 Art. 6 Art.12 Diskriminierungsverbot Übergeordnetes Wohl des Kindes Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung Recht, gehört zu werden Rechte und Interessen der Beteiligten Betroffenes Kind: Ausschluss als schwerer Eingriff in das Grundrecht auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit MitschülerInnen: Wie das betroffene Kind haben sie ein Recht auf Grundschulunterricht Möglichkeit des Ausschlusses als Gewährleistung dieses Rechts Schule: Ausbildungsauftrag = Sicherstellen des geordneten Schulbetriebs und der regelmässigen Erfüllung der obligatorischen Grundschulpflicht 3
Ausschluss und dann? Die Erziehungs- und Unterstützungsaufgabe ist bei einem Ausschluss zu berücksichtigen, in der Regel durch Weiterbetreuung durch geeignete Personen oder Institutionen (BGer 2 P.27/2006). Das Gemeinwesen hat in der Regel eine Weiterbetreuung ausgeschlossener Schüler bis zum Ende der obligatorischen Schulpflicht durch geeignete Personen oder öffentliche Institutionen zu gewährleisten (BGE 129 I 12). 2. Recht auf Schutz und Entwicklung BGE 129 III 250: Kindeswohl hat Verfassungsrang Der Vorrang des Kindeswohls gilt in einem umfassenden Sinne. Angestrebt wird namentlich eine altersgerechte Entfaltungsmöglichkeit des Kindes in geistigpsychischer, körperlicher und sozialer Hinsicht, wobei in Beachtung aller konkreten Umstände nach der für das Kind bestmöglichen Lösung zu suchen ist. 4
Kindeswohl Völker- und verfassungsrechtliche Garantie KRK 3 I: Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. BV 11 I: Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. II: Sie üben ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit aus. Verwaltungsgericht Zürich (VB.2011.00395) Entscheid vom 21.12.2011 Massgebend ist nicht die Ungefährlichkeit des Schulwegs, sondern ob einem Schüler die bestehenden Gefahren zumutbar sind, d.h. ob eine übermässige Gefährlichkeit besteht. Die Benutzung eines Busses kann Kindern ab 6 Jahren zugemutet werden, wenn sie immer an der gleichen Stellen ein- und aussteigen können. 5
Verwaltungsgericht Zürich (VB.2011.00395) Entscheid vom 21.12.2011 Ein Schulweg von 1 000 bis 1 360 m, für den ein Schüler der 1. Primarklasse (inkl. Busfahrt und Wartezeit beim Bus) ca. 30 bis 37 Minuten benötigt, ist zumutbar. Eine Mittagspause von 12 bis 16 Minuten ist eindeutig zu kurz. Bern. Verwaltungsrechtsprechung BVR 2009, S. 481 ff. Ein Schulweg von 10 km ohne nennenswerte Höhendifferenz, der mit dem Velo auf einer ungefährlichen Strasse in etwa 40 Min. zu bewältigen ist, ist für OberstufenschülerInnen im Sommerhalbjahr zumutbar, nicht aber im Winterhalbjahr. 6
3. Chancengleichheit / Nichtdiskriminierung Diskriminierung Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte i.s. einer Unterscheidung, Ausschliessung, Beschränkung, Bevorzugung; beruht auf verpöntem Unterscheidungsmerkmal; hat Benachteiligung zum Ziel oder zur Folge; weist keinen objektiven und sachlichen Rechtfertigungsgrund auf. Kinder sind bezüglich schulischer Leistungen benachteiligt, wenn sie aus einer sozioökonomisch benachteiligten Familie stammen, die zu wenig finanzielle und zeitliche Ressourcen für ihr Kind aufbringen kann; aus einer bildungsfernen Familie stammen; sich noch nicht lange in der Schweiz aufhalten und/oder die Unterrichtssprache nicht oder nur ungenügend beherrschen. Bericht des Bundesrats, Gesamtschweizerische Strategie Armutsbekämpfung (31.3.2010), S. 29 7
Weiterführung der integrativen Sonderschulung in der Regelklasse Art. 20 Abs. 2 BehiG: Die Kantone fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule. Massgebend für die konkrete Zuweisung in eine Regelklasse oder eine Kleinklasse ist einzig das Wohl des behinderten Kindes, unter Abwägung der allenfalls entgegenstehenden Interessen der anderen Mitschüler. GR Verwaltungsgericht, Urteil vom 16.8.2010, U 10 82 KRK 23 III Bei der Unterstützung für Kinder mit Behinderungen ist sicherzustellen, dass Erziehung, Ausbildung, Gesundheitsdienste, Rehabilitationsdienste, Vorbereitung auf das Berufsleben und Erholungsmöglichkeiten dem behinderten Kind in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes einschliesslich seiner kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist. 8
BGer 2P.38/2007 Hochbegabte Kinder haben Anspruch auf besondere Förderungsmassnahmen, nicht aber auf bestmögliche Schulung. Ein Obergutachten ist nur dann geboten, wenn das Gericht angesichts der unterschiedlichen Expertenmeinung zu keiner eigenen Überzeugung kommt. Ausreichender Grundschulunterricht = optimale Schulung? (BGer 2C_446/2010) Die Anforderungen aus BV 19 ("ausreichend"), belässt den Kantonen erheblichen Gestaltungsspielraum kein Anspruch auf optimale bzw. geeignetste Schulung. Es besteht jedoch ein solcher auf eine den individuellen Fähigkeiten des Kindes und seiner Persönlichkeitsentwicklung entsprechende, unentgeltliche Grundschulausbildung. Dieser wird verletzt, wenn die Ausbildung des Kindes in einem Masse eingeschränkt wird, dass die Chancengleichheit nicht mehr gewahrt ist, bzw. wenn es Lehrinhalte nicht vermittelt erhält, die in der hiesigen Wertordnung als unverzichtbar gelten. 9
Privatunterricht an einer Fernschule? BGer 2C_592 und 593/2010; 2 C_686/2011 Bundesrechtliche Anforderungen des ausreichenden Grundschulunterrichts (Art. 19 i.v.m. Art. 62 BV). Die Ausbildung muss für den Einzelnen angemessen und geeignet sein sowie genügen, um die Schüler gebührend auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorzubereiten. Ein ausreichender Grundschulunterricht muss nicht nur schulisches Wissen vermitteln, sondern auch die soziale Kompetenz der Schülerinnen und Schüler entwicklungsspezifisch fördern. Privatunterricht an einer Fernschule? BGer 2C_592 und 593/2010 Entwicklungsspezifische Förderung zur Gemeinschaftsfähigkeit steht beim Privatunterricht im Hintergrund eine der BV entsprechende Enkulturation der schulpflichtigen Kinder muss sichergestellt werden. Diese gewährleistet u.a. eine Auseinandersetzung der Kinder mit anderen Erwachsenen, Vorgesetzten, Respektpersonen, andern Kindern mit teilweise anderen Kulturen und Religionen, was die Kinder schliesslich befähigt, sich im späteren Leben bestmöglich zu integrieren, und ihnen die gleichen Chancen eröffnet. 10
KRK 29 Bildungsziele die Persönlichkeit, Begabung und geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung bringen; dem Kind Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten vermitteln; das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorbereiten. 4. Das Recht gehört zu werden KRK 12 Recht des Kindes, seine Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten (namentlich in Gerichts- und Verwaltungsverfahren) frei zu äussern. Recht auf angemessene, alters- und entwicklungsgemässe Berücksichtigung seiner Meinung. Rechtliches Gehör, entweder unmittelbar oder durch Vertreter oder geeignete Stelle. 11
BGer 2D_21/2007 Umstufung in die Werkschule: Art. 12 KRK ist nicht verletzt, wenn 1. die Eltern den Standpunkt des Kindes bei den Behörden und im Verfahren einbringen können; 2. sich das Kind im Rahmen seines Kontakts mit den Lehrkräften zu seiner schulischen Laufbahn äussern kann. 5. Kulturelle / religiöse Minderheiten KRK 30 Einem Kind, das einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehört oder Ureinwohner ist, darf nicht das Recht vorenthalten werden, in Gemeinschaft mit anderen Angehörigen seiner Gruppe seine eigene Kultur zu pflegen, sich zu seiner eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben oder seine eigene Sprache zu verwenden. 12
KRK 14 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Kindes und seiner Eltern. Diese haben das Recht und die Pflicht, das Kind bei der Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten. Die Religionsfreiheit darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind. Dispensation vom Schwimmunterricht? BGE 119 Ia 178 (1993) Begrenzung der eigenen Religionsfreiheit durch Interesse an geordnetem Schulbetrieb und durch Religionsfreiheit der andern. Erst wenn Kindeswohl unter der Befolgung von Glaubensvorschriften konkret und massgeblich belastet würde, rechtfertigte es sich, Kindesinteresse über Elternrecht zu stellen. Angehörige anderer Länder und Kulturen haben sich zwar zweifellos an hiesige Rechtsordnung zu halten. Aber keine Rechtspflicht, darüber hinaus allenfalls ihre Gebräuche und Lebensweisen anzupassen. 13
BGE 135 I 79 (2008) Seit BGE 1993 haben die bereits dort berücksichtigten Integrationsanliegen vermehrtes Gewicht erhalten. «Multikulturelle Schulrealität» verlangt Anstrengungen zur Angewöhnung und Einbindung in die hier geltenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Nur so kann Teilnahme am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben und damit sozialer Friede und Chancengleichheit gewährleistet werden. BGE 135 I 79 (2008) Das Obligatorium des Schulbesuches mit der Teilnahme am Schwimmen ist von gewichtigem öffentlichen Interesse. 1. Beitrag zur Wahrung der Chancengleichheit aller Kinder und derjenigen zwischen den Geschlechtern; 2. Förderung der Integration von Angehörigen anderer Länder, Kulturen und Religionen. 14
BGE 135 I 79 (2008) Im sozialen Einbindungsprozess kommt der Schule eine wichtige Aufgabe zu. Sie soll zunächst eine Grundbildung vermitteln. Dieses Ziel kann sie nur erreichen, wenn die Verpflichtung besteht, die obligatorischen Fächer und Veranstaltungen zu besuchen. Im Gegenzug muss die Schule ein offenes, gesellschaftsübliches Umfeld bieten und der weltanschaulichen Neutralität und Laizität strikt nachleben. Bestätigt in BGer, Urteil 2C_666/2011 vom 7.3.2012 Dispensation vom Sexualunterricht? BGer, Urteil 2C_105/2012 (Jusletter 12.3.2012) Eltern ersuchten um Dispensation ihrer Kinder (Kindergarten, erste und zweite Primarschulkasse) Schulleitung weist Gesuch ab Eltern verlangen Dispensation ihrer Kinder während der Verfahrensdauer BGer: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Besuch des Sexualunterrichts Grundrechte der Betroffenen verletzen könnte. Die Eltern haben aber nicht konkret geltend gemacht, dass ihre Kinder Unterrichtsinhalten ausgesetzt oder zu etwas aufgefordert worden wären, was ihren Überzeugungen widerspreche kein zwingender Grund für die Anordnung vorsorglicher Massnahmen. 15
6. Kindeswohl in der KRK Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjenige Handeln, welches die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern orientierte für das Kind jeweils günstigste Handlungsalternative wählt. Jörg Maywald, Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland Bedürfnisse des Kindes und ihre Verankerung in der KRK: Bedürfnis nach Liebe, Akzeptanz, Zuwendung: Präambel und Art. 2, 3, 6, 12 stabilen Bindungen: Art. 6, 8, 9, 11, 18, 20, 21, 22 Ernährung und materieller Sicherheit: Art. 6, 26, 27 Gesundheit: Art. 24, 25, 32, 33, 39 Schutz vor Gefahren materieller und sexueller Ausbeutung: Art. 16, 17, 19, 34 38, 40 Wissen, Bildung, Erfahrung: Art. 13, 14, 28, 29 31 Beteiligung: Art. 12, 13, 15, 29 31 16
Kindeswohl ist die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen Dettenborn/Walter, Familienrechtspsychologie, München 2002, 62. Schulrecht Kinderrechte: (K)ein Spannungsfeld? Perspektivenwechsel und KRK als Leitlinie Die KRK bringt etwas Neues, Einzigartiges, Ungewohntes ein Perspektivenwechsel. Wir sind uns nicht gewohnt, aus der Perspektive von Kindern Rechte zu formulieren. Amtl. Bulletin NR 1996, S. 1694: Margrith von Felten Kinder und Jugendliche haben ihre eigenen Rechte und Bedürfnisse. Diese sind in der KRK niedergeschrieben, welche unantastbare Leitlinie sein muss. Amtl. Bulletin NR 19.12.2007: Jacqueline Fehr 17