Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I Kapitel II: Die Arbeitspflicht RA lic. iur. Lukasz Grebski Assistent von Prof. Wolfgang Portmann Lukasz.grebski@rwi.uzh.ch
Vorgehen 1. Schritt: Verständnis des Sachverhalts 2. Schritt: Erfassung der Rechtsfragen 3. Schritt: Prüfung der erfassten Rechtsfragen 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 2
Kapitel II: Die Arbeitspflicht Fall 2 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 3
Sachverhalt Fall 2 B. wurde mit Arbeitsvertrag vom 4. Oktober 1993 beim Montageunternehmen S. als Schweisser angestellt. Er sollte in Regie bei verschiedenen Drittfirmen eingesetzt werden. Die Arbeitszeit dauerte gemäss Ziff. 1.c. des Arbeitsvertrages von 7.00 bis 16.00, während 5 Arbeitstagen pro Woche, Überstunden bei Bedarf. Als Einsatzbetrieb war zunächst die Firma L. AG in Zofingen vorgesehen. Am Freitag, 12. März 1999, teilte die Arbeitgeberin dem B. telefonisch mit, es sei für ihn ab nächstem Montag eine neue Arbeit als Rohrschlosser/Schweisser für ca. 4 bis 6 Wochen gefunden worden. Der Arbeitsort befinde sich in Würenlingen nahe Brugg und es sollten dort mindestens 10 Normalstunden gearbeitet werden. B. weigerte sich, diese Arbeit anzunehmen, und zwar auch noch, nachdem ihm S. die fristlose Kündigung angedroht hatte. Hierauf kündigte S. das Arbeitsverhältnis fristlos wegen Arbeitsverweigerung. 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 4
Kapitel II: Die Arbeitspflicht Fall 2 Schritt 1: Verständnis des Sachverhalts 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 5
in Regie VL Arbeitsverhältnis (OR 319 ff. und AVG) AN faktisches Vertragsverhältnis insbesondere: Weisungsrecht Treuepflicht Fürsorgepflicht Verleihverhältnis (AVG 22) EB 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 6
in Regie Art. 27 AVV 1 Der Personalverleih umfasst die Temporärarbeit, die Leiharbeit und das gelegentliche Überlassen von Arbeitnehmern an Einsatzbetriebe. 2 [ ] 3 Leiharbeit liegt vor, wenn: a. der Zweck des Arbeitsvertrages zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer hauptsächlich im Überlassen des Arbeitnehmers an Einsatzbetriebe liegt und b. die Dauer des Arbeitsvertrages von einzelnen Einsätzen bei Einsatzbetrieben unabhängig ist. 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 7
in Regie Temporärarbeit Zweck: Einmalige Überlassung AN an EB Leiharbeit (Regiearbeit) Zweck (hauptsächlich): Wiederholte Überlassung AN an EB gelegentliches Überlassen (echte Leiharbeit) Zweck: Ausnahmsweise Überlassung AN an EB; ansonsten Arbeitsleistung des AN beim VL Dauer: Beschränkung auf Einsatz beim EB Dauer: Keine Beschränkung auf Einsatz beim EB Dauer: Keine Beschränkung auf Einsatz beim EB 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 8
Normalstunden 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 9 9
Normalstunden Normalstunden i.c. Normalarbeitszeit höher als vertragl. festgelegte Arbeitszeit kein Konsens über Vertragsänderung 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 10 10
Normalstunden Überzeit Überstunden Anordnung ArG 12 I OR 321c I Abgeltung ArG 13: 25 % Lohnzuschlag oder (bei Einwilligung) Freizeit Rechtsnatur: zwingend OR 321c II und III: 25 % Lohnzuschlag oder (bei Einwilligung) Freizeit Rechtsnatur: dispositiv (Abänderung und Wegbedingung möglich bei Einhaltung qualifizierter Formvorschrift) 11 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 11
Normalstunden Merke: Rechtsgrundlage für den Anordnung Abgeltung Anspruch Überzeit des ArG 12 AN I gegen ArG 13: AG auf Überzeitentschädigung ist ArG 13 I i.v.m. OR 342 II Überstunden OR 321c I 25 % Lohnzuschlag oder (bei Einwilligung) Freizeit Rechtsnatur: zwingend OR 321c II und III: (sog. Rezeptionsklausel) 25 % Lohnzuschlag oder (bei Einwilligung) Freizeit Rechtsnatur: dispositiv (Abänderung und Wegbedingung mögl. bei Einhaltung qualifizierter Form) 12 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 12
Kapitel II: Die Arbeitspflicht Fall 2 Schritt 2: Erfassung der Rechtsfragen 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 13
Erfassung der Rechtsfrage (Lösungsplan) Vorgegebene Fragestellung Gemäss Fragestellung Allgemeine Fragestellung Ermittlung mittels Anspruchsmethode: wer, von wem, was, woraus Teilweise vorgegebene Fragestellung Ergänzung der Rechtsfragen mittels Anspruchsmethode 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 14
Erfassung der Rechtsfrage (Lösungsplan) Wer: B (Arbeitnehmer) Von wem: S (Arbeitgeberin) Was: Schadenersatz / Entschädigung Woraus: OR 337c 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 15
Erfassung der Rechtsfrage (Lösungsplan) Für heute: Beschränkung der Rechtsfrage Zulässigkeit der ausserordentlichen Kündigung i.s.v. OR 337? 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 16
Kapitel II: Die Arbeitspflicht Fall 2 Schritt 3: Prüfung der erfassten Rechtsfragen 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 17
Prüfung der erfassten Rechtsfragen Vorgehen Anspruch an sich Zerlegung Rechtsnorm in Tatbestand und Rechtsfolge Zerlegung Tatbestand in Tatbestandselemente (TBE) Vergleich TBE mit Sachverhaltselementen (SVE) Übereinstimmung? Ja : Tatbestand erfüllt Rechtsfolge Nein: Tatbestand nicht erfüllt keine Rechtsfolge Modifikationen des Anspruchs Einwendungen Einreden Fazit 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 18
Prüfung der erfassten Rechtsfragen Sachverhalt: Rechtsnorm x: Rechtsnorm y: SVE x1 SVE x2 SVE x3 SVE y1 SVE y2 SVE y3 Tatbestand: TBE x1 TBE x2 TBE x3 Rechtsfolge: RF x Tatbestand: TBE y1 TBE y2 TBE y3 Rechtsfolge: RF y 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 19
Ausserordentliche Kündigung Bedeutung: OR 337: Kündigung ohne Einhaltung geltender Fristen und Termine Zulässigkeit: nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes Folgen bei Unzulässigkeit (ungerechtfertigte ausserord. Kündigung): Schadenersatz- / Entschädigungspflichten gem. OR 337c und 337d Wirkung: Beendigung des Arbeitsverhältnisses (auch bei Unzulässigkeit) 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 20
Ausserordentliche Kündigung OR 337 Tatbestand: bestehender Arbeitsvertrag Kündigung ohne Einhaltung geltender Fristen / Termine Vorliegen eines wichtigen Grundes Rechtsfolge: z.b. Verletzung der Pflicht zur Arbeitsleistung beharrliche Arbeitsverweigerung kürzere Absenzen: vorangehende Verwarnung Zulässigkeit der ausserordentlichen Kündigung (d.h. keine Sanktionen gem. OR 337c bzw. OR 337d) 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 21
TBE: Vorliegen eines wichtigen Grundes Verletzung der Pflicht zur Arbeitsleistung Pflicht zur Arbeitsleistung persönlich Arbeitsleistender Arbeitsempfänger zeitlich örtlich sachlich ungerechtfertigte Nichtvornahme der Arbeitsleistung Verwarnung 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 22
TBE: Vorliegen eines wichtigen Grundes Verletzung der Pflicht zur Arbeitsleistung Pflicht zur Arbeitsleistung persönlich Arbeitsleistender Arbeitsempfänger zeitlich örtlich sachlich ungerechtfertigte Nichtvornahme der Arbeitsleistung (Verwarnung) 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 23
TBE: Vorliegen eines wichtigen Grundes Pflicht zur Arbeitsleistung in zeitlicher Hinsicht i.c.: Arbeitsleistung > Normalarbeitszeit Überstunden Pflicht zur Leistung von Überstunden (OR 321c I): Notwendigkeit obj. gerechtfertigt, nicht leicht vermeidbar Leistungsfähigkeit geistig und körperlich Zumutbarkeit pers. Verhältnisse (Familie, Alltag etc.) Interessenabwägung Schranken dieser Pflicht, z.b. Überzeitenregelung ArG ArG 9 I lit. b: max. 50 h / Woche ArGV1 13 I und II: Weg zum Arbeitsort Arbeitszeit 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 24
TBE: Vorliegen eines wichtigen Grundes Pflicht zur Arbeitsleistung in örtlicher Hinsicht Annahme: Wohnsitz in Basel vereinbarter Arbeitsort Wesen der Regiearbeit: Arbeitsort nicht im Voraus bestimmt anfänglich vorgesehener Arbeitsort: Zofingen (AG), 48 km von Würenlingen (AG) entfernt 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 25
TBE: Vorliegen eines wichtigen Grundes Verletzung der Pflicht zur Arbeitsleistung (+) Pflicht zur Arbeitsleistung (+) persönlich Arbeitserbringender Arbeitsempfänger zeitlich örtlich sachlich ungerechtfertigte Nichtvornahme der Arbeitsleistung (+) Verwarnung (+) 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 26
TBE: Vorliegen eines wichtigen Grundes Zwischenfazit Das Vorliegen eines wichtigen Grundes ist zu bejahen. 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 27
Fazit zur Prüfung der erfassten Rechtsfrage OR 337 Tatbestand: bestehender Arbeitsvertrag (+) Kündigung ohne Einhaltung geltender Fristen / Termine (+) Vorliegen eines wichtigen Grundes (+) Rechtsfolge: Zulässigkeit der ausserordentlichen Kündigung (+) Keine Modifikationen des Anspruchs 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 28
Fazit Die durch S. vorgenommene ausserordentliche Kündigung des B. ist demnach zulässig. 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 29
Kapitel II: Die Arbeitspflicht Fall 3 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 30
Sachverhalt Fall 3 A. (Kläger) war vom 1. November 1993 bis 31. Mai 1997 bei der Firma B. AG (Beklagte) als Tiefbautechniker angestellt. Am 27. März 1997 kündigte die Beklagte den Arbeitsvertrag auf Ende Mai 1997. Am 15. Mai 1997 verlangte der Kläger von der Beklagten Fr. 62'491.25 für während der gesamten Beschäftigungsdauer geleistete Überstunden. Der Kläger hielt seine Arbeitszeit - und damit die geleisteten Überstunden - auf Zeiterfassungskarten fest, die er der Beklagten regelmässig ablieferte. Der Kläger hat gegenüber den im massgebenden Zeitpunkt geltenden Bestimmungen des Arbeitsgesetzes 229 Stunden à Fr. 39.30 über die zulässige Höchstarbeitszeit hinaus geleistet. Die Parteien haben keinen schriftlichen Arbeitsvertrag abgeschlossen und die Abgeltung allfälliger Überstunden nicht geregelt. Der Kläger hatte im ungekündigten Arbeitsverhältnis immer eine Kompensation angestrebt. 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 31
Abgeltung von Überstunden Vss. für Abgeltung von Überstunden Überstunden angeordnet oder Überstunden notwendig bzw. nach Treu und Glauben vom AN als notwendig betrachtet Art der Abgeltung Lohn + 25 % sofern Einverständnis des AN: Freizeit Modifikation: möglich, auch zuungunsten AN Form: Schriftlichkeit, NAV, GAV 4. März 2011 Fallbesprechungen im Arbeitsrecht I, RA lic. iur. Lukasz Grebski Folie 32