Medizinische Ursachen, Folgen und Komplikationen bei Intelligenzminderung

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Transkript:

Medizinische Ursachen, Folgen und Komplikationen bei Intelligenzminderung Sigrid Lyding

1. Behinderungsbegriff 2. Geschichte der medizinischen Versorgung 3. Klinische Beispiele aus der Neuropädiatrie 4. Ausblicke

Behinderungsbegriff 20. Jhdt.: - Anfang 20. Jhdt.: Eugenik

Eugenik ist die der menschlichen Evolution innewohnende Richtung Logo der zweiten Internationalen Eugenik-Konferenz, 1921

Behinderungsbegriff 20. Jhdt.: - Anfang 20. Jhdt.: Eugenik - Nationalsozialistisches Deutschland: Euthanasie

Nationalsozialistisches Propagandaplakat zur Akzeptanzbereitung für Euthanasie um 1938

Behinderungsbegriff 20. Jhdt.: - Anfang 20. Jhdt.: Eugenik - Nationalsozialistisches Deutschland: Euthanasie - Mitte 20. Jhdt.: Defizitorientierung Als behindert gilt ein Mensch, der entweder aufgrund angeborener Missbildung bzw. Beschädigung oder durch Verletzung oder Krankheit * + eine angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. Er ist mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig). Bundesministerium des Innern (BMI) Abt. Va1, Schreiben an Abt. Va2, 12. 8. 1958

Politische Konzepte der Gegenwart Bundesrepublik Deutschland 2001 Gesetzbuch für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) 2002 Behindertengleichstellungsgesetzes 26. März 2009 Ratifizierung UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

1. Behinderungsbegriff 2. Geschichte der medizinischen Versorgung 3. Klinische Beispiele aus der Neuropädiatrie 4. Ausblicke

Einrichtungen für geistig behinderte Menschen im deutschen (deutschsprachigen) Raum seit Ende 18. Jhdt. Gründung von Idiotenanstalten ἰδιότης: gr., Privatperson idiota: lt., Laie, unwissender Mensch

Einrichtungen für geistig behinderte Menschen im deutschen (deutschsprachigen) Raum seit Ende 18. Jhdt. Gründung von Idiotenanstalten Preußen: Ende des 19. Jhdt. 3600 Betten in 28 Idiotenanstalten Begriff Psychiatrie seit Beginn 19. Jhdt. (J.Ch. Reil, Halle) Drei Strömungen der Fürsorge im 19. Jhdt. lt. Henze (1934): 1) philantropisch-karitativ (= sozialpädagogisch) 2) schulpädagogisch 3) medizinisch

aktuelles Rollenkonzept der medizinischen Versorgung bei (geistiger) Behinderung Feststellung der Behinderung Einleitung von Diagnostik Behandlung von ursächlichen Erkrankungen, Begleit- oder Folgeerkrankungen Supportive Begleitung des Patienten und seiner Familie Beratung von Patienten und Angehörigen

1. Behinderungsbegriff 2. Geschichte der medizinischen Versorgung 3. Klinische Beispiele aus der Neuropädiatrie 4. Ausblicke

klinisches Beispiel 1

Ben, 4 Jahre alt Trisomie 21 vorgeburtlich bekannt besucht den Kindergarten, sehr beliebt, sehr zärtlich wenige Einzelworte, reiche Gebärdensprache versteht deutsch und spanisch (Aupair) problematisch: Röcheln in der Nacht, gestörter Nachtschlaf sehr wählerischer Esser, hungrig in der Nacht

Trisomie 21 (Down-Syndrom) Erstbeschreibung durch John Langdon Haydon Langdon-Down (1828-1896) häufigste Ursache: freie Trisomie 21, d.h. 3 Exemplare des Chromosom 21 pro Körperzelle (Ursache erst bekannt seit 1959)

Trisomie 21 (Down Syndrom) typisches Äußeres mögliche Fehlanlagen am Herzen und Darm verminderte Muskelspannung (Muskelhypotonie) meistens geistige Behinderung Sinnesbeeinträchtigung: Sehen, Hören Prädisposition für vorzeitige Demenz

klinisches Beispiel 2

Tom, 4 Jahre alt SCN1A-Mutation mit Dravet-Syndrom normale Entwicklung bis zum Alter von 6 Monaten Diagnose Epilepsie im Alter von 9 Monaten Diagnose SCN1A-Mutation im Alter von 1 Jahr Motorik auffällig im Alter von 18 Monaten sprachlich zögerliche Entwicklung

Tom, 4 Jahre alt SCN1A-Mutation mit Dravet-Syndrom bis heute nicht ohne Krampfanfälle verschiedene Kombinationen an Medikamenten unter Medikation z.t. deutlich benebelt krisenhafter Verlauf: Häufung von Anfällen z.b. im Sommer Entwicklung mit Fort- und Rückschritten

Tom, 4 Jahre alt SCN1A-Mutation mit Dravet-Syndrom besucht den heilpädagogischen Kindergarten gesundes Geschwisterkind (14 Monate alt) deutlich beeinträchtigt von Krampfanfällen phasenhaft unsicher im Gang (trägt Helm) große Ungewissheit über weitere Entwicklung

Genetisches Epilepsie-Syndrom: SCN1a bzw. Dravet-Syndrom Dravet Syndrom = katastrophale Epilepsie Erstbeschreibung 1978 durch Charlotte Dravet bei 30-60 % der Kinder Nachweis genetischer Veränderung im SCN1A-Gen

Genetisches Epilepsie-Syndrom: SCN1a bzw. Dravet-Syndrom: typischer Verlauf anfangs normale Entwicklung des Kindes erstes Auftreten von Krampfanfällen (bei Fieber), anfangs vor allem temperaturabhängige Anfälle Epilepsie medikamentös nicht beherrschbar, Anfälle sehr beeinträchtigend Verlust von Fähigkeiten im 2. Lebensjahr

Genetisches Epilepsie-Syndrom: SCN1a bzw. Dravet-Syndrom Patienten mit nachgewiesener SCN1A-Mutation: MRT unauffällig in fast 90 % Pasquale Strian et al.: Brain MRI Findings in Severe Myoclonic Epilepsy in Infancy and Genotype Phenotype Correlations, Epilepsia 2007 Francesca Ragona et al.: Cognitive development in Dravet syndrome: A retrospective, multicenter study of 26 patients,epilepsia 2011

Genetisches Epilepsie-Syndrom: SCN1a bzw. Dravet-Syndrom: Kognition

Vergleich der klinischen Beispiele geistige Behinderung kontinuierlicher Verlauf seltene Erkrankung medikamentöse Beeinflussbarkeit Trisomie 21 ja ja SCN1A-Epilepsie ja ja ja und nein

1. Behinderungsbegriff 2. Geschichte der medizinischen Versorgung 3. Klinische Beispiele aus der Neuropädiatrie 4. Ausblicke

Besonderheiten der Behandlung von Patienten mit geistiger Behinderung Prognosen über den Verlauf schwierig bis unmöglich Schutzbedürftigkeit möglicherweise ein Leben lang Vulnerabilität gegenüber psychischen Ko-Morbiditäten Kooperationen /Vernetzungen inter- und intradisziplinär notwendig Ermöglichung der Teilhabe ist Aufgabe u.a. für Behandler, Angehörige Aufklärung über Behandlung unter Einbeziehung von Angehörigen Transition unklar: wer betreut den Patienten weiter?

Behinderungsbegriff unserer Zeit behindert : Zustand vs. Vorgang (jemand wird behindert) = Bedürfnisse Behinderter werden nicht berücksichtigt

Behinderungsbegriff unserer Zeit H. Eberwein, S. Knauer (Handbuch der Integrationspädagogik, 2002): Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System integriert ist.

Behinderungsbegriff unserer Zeit Aktion Mensch Juni 2011: Behinderung ist nicht nur eine medizinische, sondern vor allem eine komplexe sozialpolitische Erscheinung vielfach sowohl Ursache als auch die Konsequenz von Armut

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!