Sterben, Tod und Trauer im Leben von Kindern und Jugendlichen aus Sicht der Existenziellen Pädagogik Teil 3

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Transkript:

Sterben, Tod und Trauer im Leben von Kindern und Jugendlichen aus Sicht der Existenziellen Pädagogik Teil 3 Wenn es um den Tod geht, um dieses große Lassen-Können und um den größten aller Abschiede, dann geht es in einer ganz besonderen Weise um das Leben. Denn Sterben ist nichts, was dem Leben fremd wäre. [...] Und so findet Sterben in vielfältiger Form bereits das ganze Leben über statt: Abschiede von nicht Erreichtem, von Hoffnungen, Lieben, Träumen. Scheitern, nicht zum Ziele kommen. [...] So ist es verständlich, dass wir beim Sprechen über den Tod auf das Leben blicken - auf das Leben in seiner Ganzheit, nicht nur auf Teilaspekte des Lebens. Im Betrachten des Sterbens kommen wir auf das, was das Leben wesentlich macht. (Längle 2007, S. 1) Sterben ist ein Teil des Lebens und macht dieses wesentlich. Damit ist in Hinblick auf das große Lassen-Können, wie Alfried Längle den Tod umschreibt, das Loslassen-Lernen aus Sicht der existenziellen Pädagogik sicherlich eine der wichtigen erzieherischen Herausforderungen in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen. Abschiednehmen, das Erleben von Frustrationen und Erfahrungen des Scheiterns im Alltag konfrontieren jede/n zwangsläufig mit seinen ganz persönlichen Grenzen. Es sind die Grenzerfahrungen im Kleinen, die uns Menschen auf die finale Grenzerfahrung des Todes vorbereiten, wenn diese Situationen als Reifungschancen gesehen und genutzt werden. Dazu braucht es eine sehr einfühlsame und behutsame Begleitung durch erwachsene Bezugspersonen, die den Kindern und Jugendlichen in diesen kleinen Abschieden des Alltags Handlungsmöglichkeiten eröffnen. In der existenziellen Pädagogik nehmen Begrifflichkeiten einen zentralen Stellenwert ein. In den nun folgenden Unterkapiteln werden wesentliche Begriffe der existenziellen Pädagogik hinsichtlich des Themenkreises Sterben, Tod und Trauer beleuchtet.

1. Person In der existenziellen Pädagogik steht die Person im Mittelpunkt. Natürlich die Person des Kindes oder Jugendlichen, aber auch die Person des Erziehenden. Als Person wird der einzelne, unverwechselbare Mensch bezeichnet. Die Person ist nicht messbar, nicht statisch, sondern voller Entwicklungsmöglichkeiten, das wird mit dem Begriff der Potenzialität umschrieben. Die Person kann sich entscheiden, sich mit etwas, jemandem oder sich selbst auseinander setzen, sein eigenes Tun reflektieren, sich sozusagen gegenüber stehen und sich distanzieren. Eine Person kann anderen Lebewesen und der Welt begegnen. Sie ist nicht unmittelbar sichtbar, sondern zeigt sich in ihren Handlungen und Mitteilungen an die Umwelt. (vgl. Waibel 2011, S. 36ff und Waibel 2009, S. 171ff) Die Person erkennt man dann, wenn man darauf achtet, womit der Mensch in Beziehung steht, wo er am liebsten verweilt, wo er sich auseinandersetzt, womit und wie er mit etwas umgeht, wofür er Verantwortung übernimmt, wie und wo er sich öffnen kann und in welcher Einzigartigkeit und Einmaligkeit er sichtbar wird. (Kolbe 2006, S. 3) 2. Personale Begegnung und existenzieller Dialog Personale Begegnung ist ein aktives Eingehen auf das Kind. Wenn Kinder erleben, dass sie als Person von einem Erziehenden angesprochen werden, dass sie in ihrer Individualität und Einzigartigkeit angenommen sind, dann können personale Begegnungen stattfinden und wachsen. Personale Begegnungen sind gekennzeichnet durch die bewusste Wahrnehmung der Werte des anderen, durch das Bemühen und Bestreben, seine Person und seine Potenzialität zu erkennen, durch Hingabe an den anderen mit der Sensibilität dafür, was der andere braucht und durch Eingehen auf die Person (vgl. Waibel 2011, S. 119f) Besonders in Extremsituationen des Lebens, wie das der Tod eines Menschen darstellt, brauchen Kinder lebensnotwendig personale Begegnungen, die den

bergenden Raum schaffen, in dem sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen können, damit sie nicht erdrückt werden von dem, was sie belastet. In den vorangegangen Abschnitten dieses Artikels wurde auf die Notwendigkeit der Authentizität der Erwachsenen und die grundlegende Bedeutung eines offenen Gesprächsklimas hingewiesen. Dies sind zwei wesentliche Kennzeichen der praktischen, personalen Begegnung seitens der Erziehenden. Hinsichtlich der Begleitung bei Tod und Trauer ist darüber hinaus festzustellen, dass der Erziehende neben der Fähigkeit zur personalen Begegnung über eine entsprechende Wertklarheit, eine Offenheit für das Jetzt und die Bereitschaft, sich selbst auf dem Hintergrund seiner persönlichen Grenzerfahrungen mit dem Sterben auseinanderzusetzen, verfügen muss. Wertklarheit bedeutet, dass der Erwachsene mit Bestimmtheit weiß, welche Werte sein eigenes Leben bestimmen. Die Offenheit für das Jetzt ist gerade in der Begleitung in Ausnahmesituationen wichtig. Offen-sein bedeutet vor allem auch Loslassenkönnen, was soll im letzten Abschied von einem Menschen wichtiger sein? Die Bereitschaft und Fähigkeit des Erziehenden, sich seinen eigenen Todeserfahrungen zu stellen, beschreibt Eva Maria Waibel allgemein formuliert unter der folgenden Überschrift Aufarbeiten der eigenen Verwobenheit in bestimmten Situationen Die Fähigkeit, ganz beim anderen und doch gleichzeitig bei sich selbst zu sein, kann annähernd nur dann erreicht werden, wenn Erzieher bei ihrem Sein und Handeln mit Heranwachsenden ihren eigenen behindernden Anteil erkennen und ihn aufzuarbeiten bereit sind. (Waibel 2009, S. 181) Das bedeutet, in jeder Begegnung mit anderen und ganz besonders in Situationen des Scheiterns, in den Grenzerfahrungen des Alltags, schwingen im Erzieher gleichsam seine persönlichen Grenzerlebnisse und seine erworbenen oder nicht erworbenen Handlungsmöglichkeiten mit. Der Erwachsene muss sich dieser Tatsache bewusst sein. Existenzieller Dialog vollzieht sich immer dann, wenn sich Menschen im Gespräch als Person wahrgenommen erleben. Sie sind als Person an-gefragt und werden nicht bloß ab-gefragt. Sie erfahren, dass sie ganz persönlich angesprochen werden und ihre ebenso persönlichen Antworten gefragt sind (vgl. Waibel 2011, S. 122f).

Alfried Längle beschreibt eine grundsätzliche dialogische Veranlagung des Menschen (Längle 2008, S. 95), er hält fest: Menschsein sein heißt infrage stehen, Leben ist Antwort geben. (Längle 2008, S. 99) Das bedeutet, alles im Leben und das Leben selbst ist eine Anfrage an den Menschen. Mit seinem Tun gibt der Mensch die Antworten. Das bedeutet wiederum, dass es für jeden Menschen wesentlich ist, wie die Umwelt auf das persönliche Handeln reagiert. Dazu ein praktisches Beispiel: Ein Kind unternimmt die ersten Krabbelversuche, es will die Welt erobern. Erlebt es nun überfürsorgliche und ängstliche Eltern, die ihm alles aus dem Weg räumen, vielleicht sogar auch das, was das Interesse des Kindes geweckt hat, dann wird es den Antrieb verlieren, weiter zu krabbeln. Wird es von den Eltern nicht beachtet und im Entdeckerdrang allein gelassen im Normalfall sucht das Kind immer wieder den Blickkontakt zu seinen Bezugspersonen, um Bestätigung und die Sicherheit zu bekommen: Die Mama ist da und hilft mir gegebenenfalls. wird es das Wagnis des Lebens eher meiden oder aber es begibt sich alleine auf sich gestellt in eine mögliche Überforderung. Merkt es aber, dass es von den Eltern ermutigt wird, die Welt selbst zu entdecken, dass es Hilfestellungen anfordern kann und bekommt, wenn es mit neuen Herausforderungen konfrontiert ist, wird es schrittweise seinen Lebenshorizont erweitern und sein Leben selbstverantwortlich in die Hand nehmen können. Es ist vom Leben angefragt und kann seine eigenen Antworten entdecken. Allein in dieser ganz normalen Entwicklungssituation eines Kleinkindes wird deutlich, wie stark sich das Verwobensein mit persönlichen Ängsten der Erwachsenen auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Wie sollen sich Kinder Antworten auf die großen Anfragen des Lebens erarbeiten, wenn ihnen im Alltag ein notwendiger existenzieller Dialog verwehrt wird? Diese Situation macht aber auch ein wesentliches Merkmal der personalen Begegnung deutlich, das bewusste Wahrnehmen der Werte des Kindes. Was motiviert das Kind, in eine bestimmte Richtung zu krabbeln? Liegt dort ein

interessanter Gegenstand? Welche Hilfestellungen braucht es, um möglichst eigenständig sein Ziel zu erreichen? Woran erkenne ich die Motivation des Kindes, sein Ziel zu erreichen? Ist es gewillt, sich dafür anzustrengen? Wie wichtig ist es dem Kind? Diese Fragestellungen führen zu den nächsten Begriffen der existenziellen Pädagogik. 3. Antworthaltung und personale Stellungnahme Das Leben stellt jeden Menschen in Frage und erwartet seine ganz persönlichen Antworten. Mit Antworthaltung werden die bewusste Auseinandersetzung mit dem Leben und das Suchen nach den persönlichen Antworten auf das Leben verstanden. Nicht der passive Denkansatz Was erwarte ich mir vom Leben? steht im Vordergrund, sondern die aktive Zielformulierung Was erwartet das Leben von mir? (vgl. Waibel 2011, S. 58f). Leben wird auf diesem Hintergrund als Aufgabe gesehen, erlebt und gestaltet und nicht als All-inklusive-Angebot mit Wohlfühlgarantie. Wenn ich erlebe, dass ich als Mensch und Individuum angefragt bin, dass mein Denken und Fühlen, meine persönliche Auseinandersetzung mit dem Leben nicht nur gewünscht, sondern notwendig und gefordert ist, dann kann dies nur bedeuten, dass auch meine ganz persönlichen Antworten, gewünscht, notwendig und gefordert sind. Das wird als personale Stellungnahme bezeichnet und ist die logische Konsequenz aus der Antworthaltung. Individuelle Prägungen bedingen, dass die Antworthaltung und personale Stellungnahme von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Sich der personalen Stellungnahme zu entziehen und keine Antwort zu geben, ist auch eine Form der personalen Stellungnahme. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten: Sich aktiv in die Hand nehmen und das eigene Leben zu gestalten oder die Dinge passiv mit sich geschehen zu lassen und sich mit dem abfinden, was in der Folge geschieht. Aber erst dann, wenn der Mensch aktiv wird und sich zu einer existenziellen Antwort durchringt, steht er in einer fruchtbaren Beziehung zum Leben. (Waibel 2011, S. 59)

Antworthaltung und personale Stellungnahme sind in der existenziellen Pädagogik in zweifacher Hinsicht relevant. Zum einen sollen Kinder und Jugendliche schrittweise dazu befähigt und begleitet werden. Sie lernen es, indem sie erleben, dass sie und ihre Antworten gefragt sind. Sie können so ihr Handeln und Tun in dieser Welt als sinnvoll erleben. Zum anderen stehen die Erziehenden in der Herausforderung, dass sie in den sich ergebenden Situationen im Erziehungsalltag die Offenheit haben, sich selbst anfragen zu lassen, denn von ihnen ist ihre ganz persönliche Stellungnahme gefordert und nicht die Umsetzung eines optimierten Erziehungsregel. Die Aufgabe des Erziehenden ist es, seine persönliche Antwort auf die jeweilige Situation zu finden und dem Kind in dessen Selbstgestaltung und auf der Suche nach dessen Antwort beizustehen (vgl. Waibel 2011, S. 258ff). Erleben Kinder und Jugendliche, dass ihre Einstellungen und Haltungen ernstgenommen werden und ihre Antworten wichtig sind, dann werden sie dadurch schrittweise auch befähigt, sich der letzten großen Anfrage des Lebens zu stellen, die durch die Grenzerfahrung des Todes an jeden von uns gestellt wird: Was ist der Sinn des Lebens? Welchen Wert hat es? 4. Werte Werte bestimmen ganz wesentlich unser Leben. Ein Wert wird in der Existenzanalyse als Grund definiert, der zu einer Bevorzugung beziehungsweise Zurückstellung einer Wahl führt. (Längle cit. nach Waibel 2011, S. 70) Mit dem, was einem Menschen wichtig und wertvoll ist, tritt er in Beziehung und wird er sich beschäftigen. Werte sind Motor und Antrieb zur aktiven Gestaltung unseres Lebens. In der existenziellen Pädagogik werden grundsätzlich drei Wertekategorien unterschieden (vgl. Waibel 2009, S.111ff): Allgemeine Werte haben eine öffentliche Verbindlichkeit und werden von einem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens getragen. Sie sind stabil geben einer Gesellschaft den notwendigen Halt. Solidarität, Gerechtigkeit und Toleranz können als Beispiele genannt werden.

Individuelle Werte sind eigene Wertvorstellungen, die sich innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppierung (z.b. Familie) entwickeln und gelebt werden. Sie können sich verändern und charakterisieren den individuellen Lebensstil von Menschen. Personale Werte beziehen sich streng genommen auf eine einzelne Person in einer ganz konkreten Lebenssituation. Personale Werte werden in der jeweiligen Situation vom Gewissen erspürt, sie werden also erfühlt. (Waibel 2009, S. 112f) So gilt es daher festzuhalten, dass personale Werte nichts Absolutes sind, sondern sich stark verändern. Was mir gestern wichtig war, kann heute in einer anderen Sicht der Dinge nicht mehr bedeutungsvoll erscheinen oder in einem Wertekonflikt in den Hintergrund gedrängt werden. Durch die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft tritt die Verbindlichkeit der allgemeinen Werte zunehmend in den Hintergrund, individuelle und personale Werte erlangen mehr Bedeutung. Die Frage der Werte ist eng verknüpft mit der Sinnfrage. Was ich als wichtig und wertvoll erlebe, lässt mich Sinn erleben, gibt mir Lebenssinn. Nach Viktor Frankl werden in der Existenzanalyse bzw. der existenziellen Pädagogik drei Wertstraßen oder Hauptstraßen zum Sinn beschrieben (vgl. Längle 2011, S. 48ff und Waibel 2009, S. 113ff). Erlebniswerte erschließen sich uns zum Beispiel über das Erleben der Natur bei einer Wanderung, beim Besuch eines Konzerts, in der sportlichen Betätigung und in der Begegnung mit anderen Menschen in einem Gespräch, in der Arbeit, im Feiern oder der Liebe zu einem anderen Menschen. Erlebniswerte motivieren Menschen, selbst tätig zu werden und kreativgestaltend in einen Austausch mit der Welt zu treten. Schöpferische Werte erschließen sich über das Tun und können in unterschiedlichen Lebenssituation erlebt und umgesetzt werden. Ein/e Fließbandarbeiter/in wird als funktionierender Teil in einem Fabrikationsablauf die Arbeit wenig schöpferisch erleben, ein/e Designer/in wird diesbezüglich deutlich einen Mehrwert spüren. Einstellungswerte kommen im wahrsten Sinne des Wortes zum Tragen, wenn das Leben unerträglich wird, wenn der Mensch durch ein unabänderliches

Schicksal mit der Sinnfrage konfrontiert ist, Erlebniswerte und schöpferische Werte nicht mehr realisierbar sind und das Leben scheinbar sinnlos geworden ist. In der Art, wie ein Mensch sein unabwendbares Schicksal auf sich nimmt, mit diesem Schicksal all das Leiden, das es ihm auferlegt, darin eröffnet sich auch noch in den schwierigsten Situationen und noch bis zur letzten Minute des Lebens ein [eine] Fülle von Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten. [...] Aber wenn es auch nur ein einziger gewesen wäre, er genügte als Zeuge dafür, daß der Mensch innerlich stärker sein kann als sein äußeres Schicksal, schreibt Viktor Frankl in seinem Buch... trotzdem Ja zum Leben sagen (Frankl 2008, S.110f) Alfried Längle schreibt in diesem Zusammenhang: Der Mensch ist seinem Schicksal nie gänzlich ausgeliefert: Auch in unausweichlichen Schicksals- Situationen hat er immer noch die Freiheit, seine Einstellung dazu auszuwählen. Darin liegt die eigentliche Freiheit das verleiht dem Menschen Würde. (Längle 2011, S. 57) 5. Phänomenologische Grenzerfahrungen, Vergänglichkeit und Sinn Unter Phänomenologie versteht man eine voraussetzungslose, methodische Herangehensweise an eine bestimmte Fragestellung, in diesem Fall an die Grenzerfahrungen Sterben und Tod. Wesentlich ist die Betrachtung dessen, was ist bzw. wie sich etwas zeigt. Die Gegebenheiten und ihre Erscheinungsformen sind Mittelpunkt der Betrachtungen. Es geht um das Wesen der Grenzerfahrungen und wie diese erlebt werden, und nicht um Wunsch- oder Idealvorstellungen (vgl. Längle 2008, S. 87ff, Längle 2012a, S. 73 und Waibel 2009, S. 60). In Bezug auf die Begleitung von Kindern und Jugendlichen in Grenzerfahrungen bzw. ihrer Verarbeitung geht es phänomenologisch gesehen zunächst darum, darauf zu schauen, wie es den beteiligten Personen in dieser Grenzerfahrung geht, welche Begegnungs- oder Fluchtstrategien das Kind oder der Jugendliche möglicherweise aus sich heraus entwickelt, auf welche Erfahrungen zurückgegriffen werden kann und inwieweit eine offene Auseinandersetzung möglich ist und welche Hilfestellungen notwendig sind.

Wie schon in Teil 1 und 2 dieses Artikels ausgeführt, ermöglichen grundsätzlich alle Erlebnisse von Grenzen und Abschieden im Alltag Reifungsprozesse. Scheitern, Fallen und Aufstehen gehören nicht nur für ein Kleinkind zum Lebensalltag dazu, diese Erfahrungen beinhalten im übertragenen Sinn die Chance, Bewältigungsstrategien zu erlernen und zu festigen, um den großen Grenzerfahrungen unseres Lebens begegnen zu können. Die Vergänglichkeit des Körpers und des Lebens verliert angesichts vielfältiger Wert- und Sinnerfahrungen seinen Schrecken. Das Leben und Erleben von Werten gibt dem Leben Sinn. Um die Sinnfrage zu beantworten, brauchen Menschen eine Ausrichtung, ein Wozu und in der Krise, im Leiden manchmal ein Trotzdem. Das Macht die Sinnfrage so persönlich und die Antwort darauf so einzigartig. Es ist der freie Wille, der uns zwischen den Möglichkeiten wählen lässt. (Längle 2011, S. 15) Existenzielle Erziehung ist grundsätzlich auf sinnerfülltes Leben hin ausgerichtet. 6. Die phänomenologische Erziehungshaltung Um Kindern und Jugendliche in täglichen und nicht alltäglichen Grenzerfahrungen begleiten zu können, braucht es eine phänomenologische Erziehungshaltung,...... die Anteil nimmt an dem, was das Kind oder den Jugendlichen bewegt. Es braucht das Interesse an der Person, seinen Gefühlen, seiner Potenzialität und seiner Verletzlichkeit.... die offen, vorurteilsfrei und vorbehaltlos das Kind annimmt, ohne das gezeigte Verhalten zu werten. Die Fragestellung ist: Was will mir das Kind in der konkreten Situation in seiner Art sagen?... die sich nicht an vorgefasste, alte Bilder und Meinungen klammert, sondern offen ist für das Neue und Gegenwärtige. Die Präsenz des Erziehenden, ganz da zu sein, hier und jetzt, ganz nah beim Kind und erfahrbar für das Kind, eröffnet den Zugang zur Person des Kindes.

Viele andere Aspekte der existenziellen Erziehung wären eigentlich noch eingehender zu beleuchten. In Hinblick auf den Umfang dieses Artikels möchte ich abschließend aber nur noch die 4 Grundmotivationen anreißen. Viktor Frankl sieht im Willen zum Sinn die grundlegende Lebensmotivation des Menschen. Alfried Längle hat diesem Streben nach Sinn noch drei Grundmotivationen vorangestellt, die vor allem auch für die existenzielle Erziehung von großer Bedeutung sind (vgl. Waibel 2011, S. 62): 7. Die 1. Grundmotivation Dasein-Können, Grundvertrauen Kann ich sein? ist die Grundfrage unserer Existenz. Um in der Welt sein zu können, braucht der Mensch Raum, Halt und Schutz. Diese Erfahrungen geben jedem Menschen die Sicherheit: Ich darf da sein, ich kann da sein und mein Leben gestalten. Er erfährt, dass er angenommen ist, und lernt, sich selbst anzunehmen. Der reale, zur Verfügung stehende Raum, den sich ein Kind schrittweise erobert bzw. erobern kann, ist für die Persönlichkeitsentwicklung in gleicher Weise wesentlich wie der ideelle Raum der eigenen Gedanken. Kinder brauchen Raum für ihre Ideen und Gedanken und die Möglichkeit, diese mit der erlebten Wirklichkeit abzugleichen. Halt ist alles, was Kinder stützt. Rhythmisierte Tagesabläufe, Regeln und Werte, an die sie sich halten können bzw. müssen, geben ihnen Halt. Auch der Widerstand, den sie von Erziehenden erleben, gibt ihnen Festigkeit und Stabilität im Leben. Auch das Erleben ihrer eigenen Fähigkeiten, ihr Können und Wissen geben ihnen Halt. Und es geht auch darum, den eigenen Körper und seine Gefühle anzunehmen. Schutz erlebt ein Mensch immer dann, wenn er sich angenommen weiß. Im Dasein-Können entwickelt sich das Grundvertrauen in das Leben. Sterben und Tod bedrohen und beenden dieses Dasein-Können. Die Angst davor kann den Menschen am Leben hindern und gleichsam lähmen. Umso wichtiger ist es, dass Kinder den für sie lebensnotwendigen Raum, Halt und Schutz erleben, um sich durch ein gestärktes Urvertrauen dem Leben und damit dem Tod stellen zu können. (vgl. Längle 2012a, S. 4ff, Waibel 2011, S. 63ff und S. 185ff)

8. Die 2. Grundmotivation Leben-Mögen, Grundbeziehung Mag ich leben, hat mein Leben einen Wert? ist die Fragestellung in der 2. Grundmotivation. Um diese Fragestellungen zu bejahen, brauchen wir das Erleben von Nähe, Zeit und Beziehung. Nur da sein genügt nicht. Wir brauchen das Erlebnis der Nähe von anderen Menschen, die mit uns in Beziehung treten, die uns Wärme und Liebe geben, die uns mögen. Erst dadurch kann der Mensch eine Beziehung zu seinem Leben und zu sich selbst aufbauen. Zuwendung und Nähe brauchen den Faktor Zeit. Wenn sich jemand Zeit für einen Menschen nimmt, so erlebt dieser, dass ihn jemand mag und er angenommen ist. Auch die Zeit, die jemand für eine Sache oder eine Idee verwendet hat, macht sein Leben wert- und sinnvoll. (vgl. Längle 2002, S. 4ff, Waibel 2011, S. 65f und S. 188f) Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig. (Saint-Exupéry 1950, S. 49) Dies sagt der kleine Prinz in der gleichnamigen Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry zum Fuchs, den er gezähmt, das heißt, sich vertraut gemacht hat. Die Zeit, die man sich nimmt, um sie mit anderen zu teilen, ist existenziell. Dadurch wird Beziehung aufgebaut und vertieft. Wer tragende Beziehungen erlebt, kann auch eine positive Grundbeziehung zum Leben aufbauen. Aus einer gesicherten Grundbeziehung zum Leben, einem Netzwerk von Beziehungen zu anderen Menschen und einer guten Beziehung zu sich selbst bekommen Menschen einen anderen, angstfreieren Zugang zu Sterben und Tod. Im Banne der Angst übersehen wir, worauf es ankommt, jetzt, noch vor dem Tod: zu leben, ganz da zu sein, ganz bei sich zu sein, ganz beim anderen zu sein, ganz bei dem, was wir tun. (Längle 2010, S. 35) Durch die Nähe anderer, die Zeit, die gemeinsam gestaltet und verbracht wird und vielfältige Beziehungen wird Leben sinnvoll gestaltet. Das Gefühl, zu leben und gelebt zu haben, schwächt die Angst vor dem Tod. Das Bewusstsein Mein Leben hat einen Wert, ich mag Leben stellt den Grundwert des Lebens dar. 9. Die 3. Grundmotivation Selbstsein-Dürfen, Selbstwert

Kann ich ich (selbst) sein? ist die Frage die 3. Grundmotivation. Jeder Mensch ist einzigartig und unverwechselbar anders als alle anderen. Be-achtung, Gerechtigkeit und Wertschätzung prägen als Begrifflichkeiten diesen Aspekt der Existenzanalyse und der existenziellen Pädagogik. (vgl. Längle 2012b, S. 5ff, Waibel 2011, S. 189ff) Be-achtung bedeutet, dass ein Kind so angenommen und wahr-genommen werden will, wie es ist und sich fühlt, mit seiner Freude, in seiner Trauer, mit seinen Ängsten, in seiner Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Dies ist ein sehr sensibler Bereich, weil es sehr schnell passieren kann, dass Kinder im Selbstsein-Dürfen beschnitten werden. Dies sei an einem einfachen Beispiel veranschaulicht: Ein Kind stößt beim Spielen mit dem Unterarm gegen die Tischecke und beginnt zu weinen, da es weh tut. Sein Empfinden ist Schmerz. Eine mögliche Reaktion der Eltern kann sein, dass das Kind ermahnt wird, nächstes Mal besser aufzupassen und es ja gar nicht schlimm sei. Das Empfinden des Kindes wird heruntergespielt bzw. negiert. Es erlebt, dass es keinen Schmerz empfinden bzw. diesen nicht zeigen darf. Wenn Kinder regelmäßig diesem Reaktionsmuster ausgesetzt sind, fühlen sie sich zunehmend nicht in Ihrer Person und mit ihren Gefühlen angenommen. Ein Indianer kennt keinen Schmerz! Dieser Satz ist in ähnlichen Situationen oft vor allem gegenüber von Buben zu hören. Jedes Mal wird einem Kind mit diesem Satz die so notwendige Be-achtung seiner Person entzogen und es lernt, seine Gefühle zu verbergen und zu verheimlichen. Gefühle werden tabuisiert und vom Kind als schlecht erlebt. In der beschriebenen Situation wäre es wichtig, dem Kind Verständnis entgegen zu bringen. Ja das verstehe ich, dass das weh tut. Warte, ich helfe dir. Soll ich blasen? Oder wird es besser, wenn wir eine Salbe drauf geben? Aussagen in dieser Art zeigen dem Kind dass es ernst genommen wird und es wird ihm auch die Möglichkeit gegeben, zum Ausdruck zu bringen auch wenn es noch nicht reden kann, was in der Situation als hilfreich erlebt wird. Es lernt, sich mitzuteilen, auf den eigenen Körper zu achten und Verantwortung für sich zu übernehmen. Das sind Grundvoraussetzungen zur Steigerungen des Selbstwerts und der Autonomie.

Gerechtigkeit bedeutet, dass das Kind erlebt, dass es gerecht behandelt wird, d.h. dass ihm die gleichen Rechte wie anderen und das Anrecht auf seinen Willen und sein So-sein zugestanden werden. An dieser Stelle sei auf die von Oliver Junker in Kapitel 4 formulierten Rechte für Kinder und Jugendliche, die um einen Menschen trauern, hingewiesen. In der Wertschätzung, die einem Kind entgegengebracht wird, erlebt es, dass es so sein darf, wie es ist. Es entsteht das Gefühl, sich selbst sein zu dürfen. Dadurch wird personale Begegnung ermöglicht, nämlich auch andere so sein zu lassen, wie sie sind und sich gleichzeitig aktiv selbst einzubringen. (Waibel 2011, S. 190) Die 3. Grundmotivation scheint bei Menschen mit Behinderungen oft nicht oder nur bedingt erfüllt zu werden. Die Umwelt tut sich oft schwer, dem Menschen mit Behinderung die notwendige Be-achtung und Wertschätzung zu geben und in ihm nicht nur die Behinderung zu sehen. Wenn Menschen erleben, dass sie wertgeschätzt sie selbst sein dürfen, können sie sich auch selbst wert-schätzen. Sie erleben Selbstwert, eine wesentliche Voraussetzung für Lebenssinn. Kinder und Jugendliche, die selbst sein dürfen und Selbstwert haben, die gelernt haben, mit ihren Gefühlen, Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten zu leben, können ihr Leben selbstständiger und eigenverantwortlich gestalten. Sie werden sich nicht so leicht über- aber auch nicht unterschätzen und sich Ziele setzen, die sie herausfordern und anspornen. Sie lernen, ihr Leben bewusster in seiner Endlichkeit selbst zu gestalten. 10. Die 4. Grundmotivation Sinnvolles Wollen, Sinn des Lebens Hat mein Leben einen Sinn? bzw. Welchen Sinn gebe ich meinem Leben? sind die großen Fragen des Lebens und ganz eng mit den Antworten auf die ersten drei Grundmotivationen verknüpft. Wer im Dasein-Können ein Grundvertrauen aufbauen konnte, im Leben-Mögen den Grundwert seines Lebens und im Selbstsein-Dürfen seinen Selbstwert erfahren hat, der kommt unweigerlich zur Auseinandersetzung mit seinem Tätigkeitsfeld, den Strukturzusammenhängen des Lebens und einer Ausrichtung auf die Zukunft (vgl. Waibel 2011, S. 67ff und S. 191ff).

Das Tätigkeitsfeld umschreibt all jene Lebensbereiche, in denen ein Mensch Aufgaben zu bewältigen hat und Verantwortungen übernehmen kann. Durch sein selbstbestimmtes Tun gibt ein Mensch seine persönlichen Antworten auf die Anfragen des Lebens, denn Menschsein heißt, in Frage stehen (vgl. Längle 2008, S. 99). Durch Handlungsmöglichkeiten, sein Leben selbst-tätig zu gestalten, bekommt das Leben Eigenständigkeit, es wird individuell und unverwechselbar. Wer sich ohnmächtig dem Leben ausgeliefert fühlt, dem wird sich sein Lebenssinn nicht bzw. nur kaum erschließen. Es ist daher existenziell gesehen ein wichtiges erzieherisches Ziel, Kindern und Jugendlichen den Blick auf ihre Handlungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Situationen und Herausforderungen des Lebens zu öffnen. Dazu ein kurzes, aber sehr einprägsames Beispiel aus dem Leben eines Grundschülers: Ein sehr sensibler Bub litt zunehmend unter dem Führungsstil seiner Volksschullehrerin. Sie schrie sehr viel in der Klasse, verhängte Kollektivstrafen und war zu einzelnen Kindern ungerecht, zumindest war dies sein Erleben. Seine Leistungen und seine Motivation in die Schule zu gehen, litten darunter. Der letzte Zeugnistag am Ende der 4. Klasse nahte und wurde vom Buben zum einen sehnsüchtig erwartet. Zum anderen spürte er aber auch die Belastung und seine Weigerung wachsen, sich bei der Lehrerin am Schluss zu bedanken. Jede/r aus der Klasse sollte sich mit einem Bild bei ihr bedanken. Aber das, was er für sie malen würde, könnte man ihr nicht geben, das war ihm und seiner Mutter klar. Aber ein schönes Abschiedsbild war die einzige Option. Er steckte in einem Dilemma, denn er konnte und wollte der Lehrerin nicht danken, er war nur froh, dass es bald vorbei sein würde. In dieser Situation steckt die gesamte Dynamik des Lebens und alle bisher beschriebenen Aspekte einer existenziellen Erziehung sind gleichsam auf dem Prüfstand. Wie ernst genommen erlebt sich der Junge in dieser Situation von seiner Umwelt. Darf er zu seinen Gefühlen stehen? Muss er den Schein wahren? Kann er selbst sein oder muss er sich verstellen? Dies erzeugte spürbar Druck, bei ihm und seinen Eltern. Eine Lösung des Problems erlebte er erst, als seine Mutter ihm die Option eröffnete, er könne der Lehrerin ja auch einen Brief schreiben und zum Ausdruck bringen, wie es ihm in den letzten Monaten ergangen ist und was ihn sehr belastet hat. Diesen

Brief könne er der Lehrerin ja gleichsam als sein Abschlusszeugnis an sie am Zeugnistag beim Abschied übergeben. Dieser Vorschlag bewirkte enorm viel, auch wenn der Junge den Brief nicht geschrieben hat. Aber allein die Möglichkeit, sich auch für eine andere Handlung entscheiden zu können, brachte dem Kind die Freiheit, aus unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten zu wählen und den Verlauf des letzten Zeugnistags selbst in die Hand zu nehmen. In diesem Beispiel können auch wichtige Strukturzusammenhänge veranschaulicht werden. Der Schüler hat durchaus erlebt, dass seine Eltern hinter ihm stehen und ihn in seinem Empfinden ernst nehmen. Es haben schon in früheren Jahren Gespräche mit der Lehrerin stattgefunden, die aber aus unterschiedlichen Gründen nicht die erhofften Veränderungen gebracht haben. Der Bub hat erfahren, dass seine Eltern hinter ihm stehen und ihn verstehen, dass gemeinsame Bestrebungen aber auch scheitern können. Die Art und Weise, wie man innerhalb der Familie mit diesem Verlusterlebnis und der damit verbundenen Frustration umgegangen ist, brachte dem Kind sicherlich sehr viele Einsichten und Lebenserfahrungen. Es lernte vor allem auch, dass es Ereignisse im Leben gibt, die nicht im direkten Einflussbereich der Eltern liegen, und dass es für Geschehnisse außerhalb der Familie selbstinitiativ und selbstständig Verantwortung übernehmen und tragen muss. Sein eigenes Handeln wird in einem größeren Kontext erlebt. In dieser Grundmotivation geht das Denken erstmals und notwendiger Weise über die Gegenwart hinaus, der Blick wird in die Zukunft gerichtet. Was will ich aus meinem Leben machen? Was gibt meinem Leben Sinn? Ganz tief im Inneren will der Mensch bei all seinen Tätigkeiten wissen: Wozu soll ich dies oder jenes tun? Wozu soll ich dieses Leid aushalten? Jeder Mensch will, wenn er überhaupt etwas will, sinnvoll leben. Er strebt nach Ansicht von Frankl, nicht die Macht, die Lust oder das Glück an, sondern den Sinn. (Waibel 2009, S. 93) 11. Schlussbemerkung Das In-Frage-gestellt-Sein des Menschen führt zwangsläufig zur Auseinandersetzung mit dem Tod, dem letzten großen Fragezeichen unseres Lebens. Existenzielle Pädagogik klammert diese Frage nicht aus, sondern nimmt

sie ganz bewusst in das Zentrum ihrer Überlegungen. Bewusstes, erfülltes Leben bedeutet, dass Menschen in den 4 Grundmotivationen Erfüllung erlebt haben. Erlebnisse des Scheiterns und Abschiednehmens konnten angemessen verarbeitet werden. Menschen haben gelernt, auf Herausforderungen des Lebens zu reagieren, dem Leben Antwort geben, es zu verantworten. Existenzielle Pädagogik begleitet Kinder Jugendliche im Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens zu einem sinnerfüllten Leben, in dem Scheitern, Abschiede und Leid als Herausforderungen gesehen werden, die dem Leben Sinn geben. Denn erst in diesen Dimensionen des Lebens und im Tod selbst wird Sinn spürbar (vgl. Längle 2007, S. 7). Leben in Fülle ist kein Schlaraffenland und bedeutet nicht ungeteiltes Glück, sondern es beinhaltet gleichermaßen Freude und Sorge, Geschenkt-sein und Genommen-werden. Leben in Fülle bedeutet, trotzdem Ja zum Leben sagen. (vgl. Frankl 2008) Was gibt es Schöneres, als Menschen auf diesem Weg zu begleiten? Literaturverzeichnis: Frankl, Viktor E. (2008): trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: Deutscher Taschenbuch Verlag Kolbe, Christoph (2006): Die personale Motivation und Dialogfähigkeit in der Pädagogik. in: Aregger, Kurt, Waibel, Eva Maria (Hrsg.), Schulleben und Lebensschule. Beiträge einer existentiellen Pädagogik, Donauwörth/Luzern: Auer/Comenius, S. 36-46, URL:_http://www.christophkolbe.de/images/content/personale%20motiv ation.pdf [07.11.2013]. Längle, Alfried (2002): Lehrbuch der Existenzanalyse (Logotherapie). 3. Teil: Zweite Grundmotivation. Wien: GLE International. Längle, Alfried (2007): Vergänglichkeit, Sinn und die Angst vor dem Sterben URL:_http://laengle.info/downloads/Sinn%20Verg%E4nglichkeit%20- %20Hospiz%20FL.pdf [07.11.2013].

Längle, Alfried (2010): Sinnspuren. Dem Leben antworten. St. Pölten, Salzburg: Residenz Verlag. Längle, Alfried (2011): Sinnvoll leben. Eine praktische Anleitung der Logotherapie. St. Pölten, Salzburg: Residenz Verlag. Längle, Alfried (2012a): Lernskriptum zur Existenzanalyse (Logotherapie). Die Grundbedingungen der Existenz: Sein-Können in der Welt oder die 1. Grundmotivation. Wien: GLE International. Längle, Alfried (2012b): Lernskriptum zur Existenzanalyse (Logotherapie). Dritte Grundmotivation. Wien: GLE International. Saint-Exupéry, Antoine de (1950): Der kleine Prinz. Zürich: Arche Verlag Waibel, Eva Maria (2009): Erziehung zum Selbstwert. Persönlichkeitsförderung als zentrales pädagogisches Anliegen. Augsburg: Brigg Pädagogik Verlag Waibel, Eva Maria (2011): Erziehung zum Sinn Sinn der Erziehung. Grundlagen einer existenziellen Pädagogik. Augsburg: Brigg Pädagogik Verlag