Was wissen wir heute über Gutes Wohnen für Menschen mit hohem Hilfebedarf? Bundesvereinigung Lebenshilfe 19./20. April 2012 in Marburg Schwerpunkte Bezugsrahmen: UN-Behindertenrechtskonvention Was bedeutet Gutes Wohnen? Annäherung aus unterschiedlicher Perspektive Gegenwärtige Strukturen des Hilfesystems im Bereich des Wohnens Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention für die Weiterentwicklung der Angebote Anforderungen an die Gestaltung des Wohnens von Menschen mit hohem Hilfebedarf unter der Zielperspektive Inklusion Forderungen an Politik und Gesellschaft 19./20. April 2012 (2) BEZUGSRAHMEN: Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen Eckpunkte einer inklusiven Gesellschaft Menschen mit Behinderungen sind gleichberechtigte Bürger(innen). Sie haben das Recht auf volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft (Art. 3 c : Full an effective participation and inclusion in society) Die Menschenrechte aller Menschen mit Behinderungen, einschließlich derjenigen, die intensivere Unterstützung benötigen, sind zu fördern und zu schützen. (Präambel j) Menschen mit intensiverem Unterstützungsbedarf Menschen die in vielen oder allen Bereichen des täglichen Lebens umfassende Unterstützung benötigen, die nicht (oder noch nicht) für sich selbst sprechen können, die ihre Befindlichkeiten, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Interessen auf jeweils eigene Weise äußern, die von der Umwelt nicht immer verstanden wird, die als schwerstmehrfach oder schwer geistig bezeichnet werden, häufig verbunden mit herausforderndem Verhalten. 19./20. April 2012 (3) 19./20. April 2012 (4) Menschen mit und ohne Behinderung haben die gleichen Grundbedürfnisse Was bedeutet für Sie Gutes Wohnen? Wohnbedürfnisse Geborgenheit, Schutz und Sicherheit freie Gestaltung des persönlichen Bereichs und des Alltags Raum für Erholung und Selbstverwirklichung Ort des Rückzugs in die Privatheit Zusammenleben mit Menschen, die einem nahe stehen Öffnung nach außen zur Nachbarschaft und zum weiteren sozialen Umfeld Zielperspektive LEBENSQUALITÄT 19./20. April 2012 (5) 19./20. April 2012 (6) 1
Selbstbestimmung Rechte Soziale Inklusion Gutes Wohnen Art. 19 Absatz a) Emotionales Zwischenmenschliche Beziehungen Lebensqualität Persönliche Materielles Entwicklung und und Körperliches Aktivität (vgl. Schalock & Verdugo 2002) Menschen mit Behinderungen sollen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, Ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben. Sie sind nicht verpflichtet, in besonderen Wohnformen zu leben. 19./20. April 2012 (7) 19./20. April 2012 (8) Gegenwärtiges Hilfesystem Aktueller Stand: stationäre Einrichtungen überwiegen fast zwei Drittel der Empfänger von Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten leben im Heim Konversionsprozesse: Umwandlung von Komplexeinrichtungen Dezentralisierung Regionalisierung Anteil der Leistungsberechtigten im stationär betreuten Wohnen nach Behinderungsart (Stand: 31.12.2010) (n = 171.970 Personen) seelisch 26% Entwicklung: verstärkter Ausbau des ambulant betreuten Wohnens Nebenwirkung: Restgruppen in Institutionen ( Mehrkostenvorbehalt 9 und 13 SGB XII) Tendenz: Zunahme der Betreuung er Menschen in Pflegeeinrichtungen Kontext: Desolate Lage der öffentlichen Haushalte Anstieg der Sozialhilfeausgaben Zunahme der Fallzahlen in der Eingliederungshilfe Maßnahmen zur Kostendämpfung (BAGüS/con_sens 2011) geistig 65% körperlich 9% 19./20. April 2012 (9) 19./20. April 2012 (10) Anteil der Leistungsberechtigten im ambulant betreuten Wohnen nach Behinderungsart (Stand: 31.12.2010) körperlich 4% (BAGüS/con_sens 2011) geistig 26% (n = 96.272 Personen) seelisch 70% Welche Wohn-Wünsche haben Menschen mit Behinderung? In der Berliner Kunden-Studie wurden über 200 Frauen und Männer mit sog. geistiger und mehrfacher Behinderung gefragt: Wie möchten Sie gerne wohnen? 19./20. April 2012 (11) 19./20. April 2012 (12) 2
42 % der Personen in betreuten Wohnformen möchten anders wohnen als jetzt Art. 19 Absatz b) Veränderungswünsche (n = 142) Priorität: Leben in einer eigenen Wohnung mit der individuell notwendigen Assistenz, in sozialen Bezügen in einem Wohnumfeld, das eine gute Infrastruktur bietet und nicht durch eigene Probleme belastet ist Wohngemeinschaften und Wohnheim werden selten genannt. Persönliches Budget 82 % der Befragten haben von den Möglichkeiten dieser Finanzierungsart noch nichts gehört. Mehr als die Hälfte würde gern Näheres darüber erfahren. Menschen mit Behinderungen sollen Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben zu Hause oder in Einrichtungen, auch Persönliche Assistenz zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft zur Vermeidung von Isolation und Ausgrenzung. 19./20. April 2012 (13) 19./20. April 2012 (14) Konsequenz für die künftige Gestaltung des Wohnens Orientierung am privaten Wohnen Wohnen wie andere auch inmitten der Gemeinschaft Trennen von Wohnen und Unterstützung Konzept Supported Living Person-centered Planning Entwicklung neuer Wohnkonzepte ohne Ausschluss von Menschen mit schweren Behinderungen Einbindung in das Gemeinwesen Gegenwärtiges Wohnen von Menschen mit hohem Hilfebedarf Zuweisungspraxis: Platzierung nach dem Grad der Selbstständigkeit = Kompetenzperspektive Missachtung des Paradigmas der Teilhabe (Bürgerperspektive ) überwiegend in Großeineinrichtungen Parallelwelt : Ort zum Leben strukturelle Unterstützung fachliches Know-How Intensivgruppen weitgehend unsichtbar in unseren Straßen und Gemeinden Produkt des Sondersystems Behindertenhilfe (Separierung der Ausgeschlossenen ) subjektive Wahrnehmung und Wahrnehmung aus der Außenperspektive: Heimbewohner nicht: Nachbar/Bürger der Gemeinde 19./20. April 2012 (15) 19./20. April 2012 (16) Alltagswirklichkeiten im Heim Günter Bersch (2003) zwischen Teilhabe und Ausschluss zwischen Subjektorientierung und Verobjektivierung zwischen dialogischer Beziehung und Isolation zwischen Achtung individueller Wünsche und Machtmissbrauch (Kölner Lebensqualität-Studie 2001) Bedingungsfaktoren strukturelle und situative Bedingungen: z. B. Zeitmangel, qualitativ und quantitativ unzureichende Personalsituation, überfordernde Gruppenstrukturen Konstellationen von Persönlichkeitsmerkmalen, lebensgeschichtlichen Erfahrungen, aktuellen Befindlichkeiten, Einstellungen und spezifischen Kompetenzen der Beteiligten Gemeindeorientiertes Wohnen für Menschen mit hohem Hilfebedarf Vorreiter (1980er/1990er Jahre) Enthospitalisierungsprojekte Beispiel: Außenwohngruppen im Rheinland für Menschen mit schweren Behinderungen, einschl. herausforderndem Verhalten Projekte von Elternverbänden / Elterninitiativen Beispiele: Hamburger Spastikerverein; Berliner WISTA-Projekt Bundesweite Entwicklungen (2000er Jahre) Zunahme von gemeindenahen bzw. gemeindeintegrierten Wohnangeboten, die Menschen mit schweren Behinderungen einbeziehen häufig spezielle Einrichtungen für den Personenkreis Innovative Wohnprojekte Verbundsysteme mit kleinen Wohneinheiten im Quartier Apartmenthäuser Mehrgenerationen-Wohnen Integrative Hausgemeinschaften Integrative Wohngemeinschaften Individuelle Unterstützungsarrangements, z. B. mit Persönlichem Budget 19./20. April 2012 (17) 19./20. April 2012 (18) 3
Art. 19 Absatz c) Teilhabe am Leben in der Gemeinde Menschen mit Behinderung sollen gemeindenahe Dienstleistungen und öffentliche Einrichtungen zur Verfügung stehen. Sie sollen ihren Bedürfnissen Rechnung tragen. 19./20. April 2012 (19) 19./20. April 2012 (20) Berücksichtigung des besonderen Hilfebedarfs von Menschen mit schweren Behinderungen beim Leben in der Gemeinde Inanspruchnahme bestehender medizinischer, psychiatrischer und neurologischer Dienste Qualifizierung der Fachkräfte in allgemein zugänglichen medizinischen, therapeutischen und psychosozialen Diensten für den Umgang mit Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung Einrichtung spezieller beratender und therapeutischer Dienste sowie Dienste für Krisenintervention im Gemeinwesen möglichst in Anbindung an bestehende Dienste für die Allgemeinheit Wohnen von Menschen mit Behinderung in Zukunft Alle sollen so wohnen können, wie sie es sich wünschen! Mit anderen Menschen und Nachbarn freundlich nebeneinander! Sicherheit haben, wohlfühlen, nicht misshandelt werden! Behinderte Leute auf der Straße sollen nicht geärgert werden! Mit einer schönen Frau! 19./20. April 2012 (21) 19./20. April 2012 (22) Leben in der Gemeinde für alle?! Schlüsselproblem: schwerwiegend herausforderndes Verhalten Verhaltensweisen, die aufgrund ihrer Stärke, Häufigkeit oder Dauer dazu führen, dass - Personen sich selbst oder andere fortgesetzt gefährden oder beeinträchtigen oder - die Teilnahme dieser Personen an Aktivitätsangeboten, Diensten und Einrichtungen im Gemeinwesen eingeschränkt wird bzw. ihnen der Zugang gänzlich verwehrt wird. In der Inklusionsdebatte bleiben die spezifischen Bedarfe dieses (sehr heterogenen) Personenkreises weitgehend unbeachtet. Forderung: Chancen zum Leben in der Gemeinde geben Individuell gestaltete Wohn- und Unterstützungsarrangements (Aufhebung der Trennung von ambulant und stationär ) Unterstützende Strukturen in einem inklusiven Gemeinwesen als Teil der kommunalen Teilhabeplanung (Ausgestaltung und Vernetzung von Angeboten und Diensten) Potenzial der bestehenden Lebenswelt nutzen (vgl. Dieckmann 2010) Prävalenz von Menschen mit geistiger Behinderung und schwerwiegend herausforderndem Verhalten: 7,5 Personen pro 10.000 Einwohner 19./20. April 2012 (23) Worauf kommt es an? Konzepte für Gutes Wohnen (1) 1. Bezugspunkt: Kerndimensionen von Lebensqualität 2. Ziel: selbstbestimmtes Leben im Verbund mit tragfähigen sozialen Beziehungen innerhalb und außerhalb des Wohnbereichs Entwicklung, Stärkung, Erhalt und Erweiterung sozialer Beziehungen inszeniertes soziales Netzwerk 3. Orientierung: individuelle Teilhabebedürfnisse und Interessen Artikulation der Bedürfnisse Empowerment-Prozess Ergänzung der individuellen Hilfeplanung durch - partizipative Netzwerk- und Teilhabeanalysen - Persönliche Zukunftsplanung 19./20. April 2012 (24) 4
Konzepte für Gutes Wohnen (2) Konzepte für Gutes Wohnen (3) 4. Menschenbild: Unterstützung der Menschen mit Behinderung bei der Wahrnehmung ihrer Bürgerrolle Präsenz in kulturüblichen alltäglichen Zusammenhängen = Dokumentation der Gemeinsamkeiten von Menschen mit und ohne Behinderung 5. Integraler Bestandteil: nachbarschaftliches Zusammenleben Vielfaltsgemeinschaften brauchen unterstützende Strukturen und Akteure, die sich für das Gelingen engagieren, und: eine gemeinsame Idee! (vgl. v. Lüpke 2008) 6. Gemeinwesen: Erschließen der Ressourcen des Sozialraums Sozialraumanalyse Individuelle Teilhabeplanung 7. Unterstützungsstruktur: Hilfe-Mix (freiwilliges Engagement, professionell Tätige, anders Tätige) Freiwillig Tätige als Türöffner in die Gemeinde systematische Begleitung der Engagierten und Unterstützung bei der Umsetzung inklusionsfördernder Aktivitäten 19./20. April 2012 (25) 19./20. April 2012 (26) Konzepte für Gutes Wohnen (4) 8. Hilfesystem: Anpassung der Organisation an die Erfordernisse der UN-Behindertenrechtskonvention Personzentrierung - Sozialraumorientierung Organisationsentwicklung Personalentwicklung Qualitätsentwicklung Finanzierungsmodelle Unterstützungsstrukturen 9. Partizipation: Berücksichtigung der Belange schwer er Menschen in allen Bereichen Beispiele: Bereich des Wohnens, Selbstvertretung, Gremien der Behindertenhilfe, Selbsthilfe, kommunale Gremien Fundament eine Haltung, die Alle einbezieht und Niemanden ausschließt Wertschätzung von Vielfalt und umfassende Teilhabe (vgl. Eckpunkte des Deutschen Vereins für einen inklusiven Sozialraum, Berlin 2011) 19./20. April 2012 (27) 19./20. April 2012 (28) Hindernisse Gesellschaftliche Entsolidarisierungsprozesse verstärken Ausgrenzung. Die Ökonomisierung des Sozialen steht den ethisch idealen Forderungen der UN- Behindertenrechtskonvention entgegen. Forderungen an die Politik Bewusstseinsbildung: Menschen mit schweren Behinderungen sind gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen. Bei allen Planungen und Aktivitäten auf dem Weg zur Inklusion müssen die komplexen Bedürfnisse, die spezifischen Unterstützungsbedarfe und mögliche Gefährdungen von Menschen mit sehr hohem Hilfebedarf berücksichtigt werden. ZIEL Neue Kultur des Zusammenlebens! 19./20. April 2012 (29) 19./20. April 2012 (30) 5