Geschlechterangemessene Gesundheitsversorgung: Anforderungen aus der Sicht von Public Health. Prof. Dr. Ulrike Maschewsky-Schneider

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Transkript:

Geschlechterangemessene Gesundheitsversorgung: Anforderungen aus der Sicht von Public Health Prof. Dr. Ulrike Maschewsky-Schneider

Geschlechterangemessene Gesundheitsversorgung Was ist das?

Geschlechterangemessene Gesundheitsversorgung Frauen und Männer unterscheiden sich hinsichtlich ihrer biologisch-körperlichen Natur der gesundheitlichen Lage ihrer Vulnerabilität und gesundheitlichen Risiken im Umgang mit Krankheit in ihren Konzepten von Gesundheit, Krankheit und in ihrem Gesundheitsverhalten 3

Geschlechterangemessene Gesundheitsversorgung Frauen und Männer brauchen spezifische Versorgungsangebote und Versorgungsstrukturen, die ihrem Bedarf angemessen sind und die Nachteile in der Versorgung vermeiden oder ausgleichen Frauen und Männer brauchen eine (bedarfs-) gerechte Versorgung Es geht nicht um Gleichheit in der Versorgung (equality), sondern um Gerechtigkeit im Zugang zu Versorgung (equity) 4

Geschlechterangemessene Gesundheitsversorgung Equity means fairness. Equity in health means that people`s needs guide the distribution of opportunities for well-being. people have an equal opportunity to develop and maintain their health, through fair and just access to resources for health (WHO 1996) 5

Geschlechterangemessene Gesundheitsversorgung: Anforderungen aus der Sicht von Public Health Public Health Was ist das? 6

Was ist Public Health? Public Health ist Wissenschaft und Praxis der Krankheitsverhütung der Lebensverlängerung der Gesundheitsförderung durch bevölkerungsbezogene Maßnahmen durch organisierte Anstrengungen der Gesellschaft d.h., durch gesellschaftliches Handeln auf staatlicher, regionaler und privater (individueller und wirtschaftlicher Ebene) 7

Focus nicht auf Individuen und Krankheit Was ist Public Health? 8

Was ist Public Health? Focus auf Bevölkerung (-sgruppen) Soziale Umwelt Gesundheitssysteme 9

Fragen zu einer geschlechterangemessenen Gesundheitsversorgung aus der Sicht von Public Health 10

Fragen zu einer geschlechterangemessenen Gesundheitsversorgung Epidemiologie: Welches sind die wichtigsten gesundheitlichen Probleme von Frauen und Männern, welches sind Risiken und Schutzfaktoren? Wie unterscheiden sich Frauen und Männer? Wie müssen Lebensbedingungen von Frauen und Männern in Beruf, Partnerschaft, Familie gestaltet sein, um Belastungen zu reduzieren und Ressourcen zu stärken? 11

Fragen zu einer geschlechterangemessenen Gesundheitsversorgung Was bewirken alte und neue medizinische Technologien? Wo nutzen, wo schaden sie den Frauen (und Männern)? Welche gesellschaftlichen Ideologien und geschlechterbezogenen Stereotypisierungen gehen in die Konzepte von typischen Frauen- und typischen Männerkrankheiten ein? (z.b.psychische Krankheiten, Behandlung mit psychotropen Medikamenten, Herz- Kreislauf-Krankheiten) Gibt es geschlechtsspezifische Krankheitsverläufe, Heilungschancen, Versorgungsbedarfe? Wie ist das Inanspruchnahmeverhalten von Frauen (und Männern)? 12

Fragen zu einer geschlechterangemessenen Gesundheitsversorgung Welches Verständnis von Versorgungsprozessen braucht eine geschlechterangemessene Gesundheitsversorgung? z.b. Versorgung unter Berücksichtigung - von sozialen und psychischen Bedingungen von Gesundheit - der Integration verschiedener Segmente des Versorgungssystems - der Anerkennung der Rolle der verschiedenen Professionen in der Versorgung 13

Fragen zu einer geschlechterangemessenen Gesundheitsversorgung Welche Versorgungsstrukturen sind für eine frauengerechte gesundheitliche Versorgung notwendig? Beispiele: - Frauen in der psychiatrischen oder gynäkologischen Versorgung - Versorgung von Frauen mit Gewalterfahrungen - Gesundheitsförderung und Beratung - Selbsthilfe und Empowerment 14

Fragen zu einer geschlechterangemessenen Gesundheitsversorgung Wie muss Forschung und Erkenntnisgewinnung erfolgen, um Fehlversorgung, Unter- oder Überversorgung bei Frauen und Männern aufzudecken und Ungerechtigkeiten zu vermeiden? Welche Standards einer geschlechtersensiblen Forschung gibt es? Lassen sich Qualitätskriterien für eine geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung formulieren? 15

Gliederung I. Warum Gender in der Gesundheits- und Versorgungsforschung: Unterschiede zwischen Frauen und Männern? II. III. IV. Theorien und Erklärungsansätze: zur Rolle von sex und gender Wie muss Geschlecht in die Forschung integriert werden Gender Based Analysis? Ergebnisse eigener Studien zur GBA V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung 16

Gliederung I. Warum Gender in der Gesundheits- und Versorgungsforschung: Unterschiede zwischen Frauen und Männern? II. III. IV. Theorien und Erklärungsansätze: zur Rolle von sex und gender Wie muss Geschlecht in die Forschung integriert werden Gender Based Analysis? Ergebnisse eigener Studien zur GBA V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung 17

II. Warum Gender in der Gesundheits- und Versorgungsforschung? Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der gesundheitlichen Lage bei den Ursachen und Bedingungsfaktoren von Gesundheit und Krankheit und in der gesundheitlichen Versorgung Gender Mainstreaming als politische Strategie in Politik, Wissenschaft und Versorgung 18

Unterschiede zwischen Männern und Frauen Todesursachen Männer < 65 Jahre Frauen Herz-Kreislauf 28,1 20,8 Atmungsorgane 3,6 3,1 Leber 7,0 5,6 Verletzungen 13,9 8,9 Krebskrankheiten 29,5 44,1 19

Unterschiede zwischen Männern und Frauen Todesursachen Alle Altersgruppen < 65 Jahre Männer Frauen Männer Frauen Herz-Kreislauf 43,5 52,9 28,1 20,8 Atmungsorgane 7,1 5,2 3,6 3,1 Leber 3,2 1,5 7,0 5,6 Verletzungen 6,0 3,1 13,9 8,9 Krebskrankheiten 27,0 22,8 29,5 44,1 20

Unterschiede zwischen Männern und Frauen Todesursachen Alle Altersgruppen < 65 Jahre Männer Frauen Männer Frauen Herz-Kreislauf 43,5 52,9 28,1 20,8 Herzinfarkt 11.9 8,2 11,4 5,6 Herzinsuffizienz 4,5 8,1 1,6 1,4 Schlaganfall 8,8 13,7 3,9 4,9 Krebskrankheiten 27,0 22,8 29,5 44,1 Lunge 7,0 1,7 8,6 4,2 Brust - 3,9-12,1-2,4-6,0 Gebärmutter Ovarien 21

Unterschiede zwischen Männern und Frauen Erklärungsansätze Biologische Faktoren Arbeits- und Lebensbedingungen Belastungen und Ressourcen Gesundheitsbezogene Lebensweisen Versorgungssituation 22

Unterschiede zwischen Männern und Frauen in den Arbeits-/ Lebensbedingungen Belastungen und Ressourcen Gesellschaftliche Stellung und Wertung Geschlechterrollen und Geschlechterbilder Verbindung von Beruf und Familie Berufliche Qualifikation und berufliche Stellung berufliche Belastung Aufgaben in der Familie und Partnerschaft psychosoziale Verarbeitungs- und Bewältigungsmechanismen soziale Sicherung 23

Unterschiede zwischen Männern und Frauen in den gesundheitsbezogenen Lebensweisen Frauen übernehmen Verantwortung für die Gesundheit in der Familie Frauen sind eher auf Vorsorge und Prävention orientiert Frauen haben weniger riskante Lebensstile:... im Straßenverkehr... bei der Lösung sozialer Konflikte... ernähren sich gesünder als Männer... trinken seltener und weniger Alkohol junge Frauen rauchen fast so viel wie junge Männer 24

Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Versorgung Frauen nehmen ärztliche Versorgung eher in Anspruch Frauen bekommen häufiger als Männer psychotrope Medikamente verschrieben Frauen nehmen häufiger als Männer (psychosoziale) Beratung in Anspruch Frauen werden häufiger als Männer psychische Erkrankungen zugeschrieben bestimmte Erkrankungen werden bei Frauen eher unterschätzt (Herzinfarkt) Folgen von Gewalterfahrungen werden bei Frauen unzureichend gesundheitlich versorgt 25

Unterschiede zwischen Männern und Frauen Frauengesundheitsbericht (2001) Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen in Familie und Beruf Gesundheitszustand von Frauen und Männern gesundheitsbezogene Lebensweisen von Frauen Gewalt im Geschlechterverhältnis reproduktive Gesundheit von Frauen im Lebensverlauf Frauenarbeit in Beruf und Familie und Gesundheit Gesundheit von Frauen im mittleren Lebensalter Frauen in besonderen gesundheitlichen Lebenslagen frauenzentrierte Ansätze in Gesundheitsförderung und Versorgung 26

Unterschiede zwischen Männern und Frauen Wissen und Vernetzung Portal zur Frauengesundheit der BZgA http://artemis.bzga.de/frauen/ Frauengerechte Gesundheitsversorgung NRW Bericht der Enquetekommission 2004 Arbeitskreis Frauen in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft (AKF) http://www.akf-info.de/ Regionale Frauengesundheitsnetzwerke (z.b. Berlin, Niedersachsen) Public Health Studiengang Health&Society an der Charité http://www.charite.de/health-society/ Berliner Institut für Geschlechterforschung in der Medizin http://www.charite.de/gender/ 27

Gliederung I. Warum Gender in der Gesundheits- und Versorgungsforschung: Unterschiede zwischen Frauen und Männern? II. III. IV. Theorien und Erklärungsansätze: zur Rolle von sex und gender Wie muss Geschlecht in die Forschung integriert werden Gender Based Analysis? Ergebnisse eigener Studien zur GBA V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung 28

II. Theorien und Erklärungskonzepte Sex und Gender Definition (Krieger 2003) sex ist ein biologisches Konstrukt (Begriff), das auf den biologischen Charakteristika basiert, die die sexuelle Reproduktion ermöglichen (Organe, Funktionen, genetische Disposition)... und die im Organismus vielfältige Auswirkungen (z.b. über Hormone) auf Bereiche haben können, die nicht unmittelbar mit der sexuellen Reproduktion verbunden sind (z.b. Krebs, Herz-Kreislauf-, psychische Erkrankungen) 29

II. Theorien und Erklärungskonzepte Sex und Gender Definition (Health Canada 2003) sex bezieht sich auf die biologischen Charakteristika wie Anatomie und Physiologie, nach denen sich Frauen und Männer unterscheiden... biologische, genetische Unterschiede zwischen den Geschlechtern beeinflussen (über biochemische, hormonelle, metabolische, etc. Prozesse) Suszeptibilität für Erkrankungen und Therapiewirkungen 30

II. Theorien und Erklärungskonzepte Sex und Gender Definition (Krieger 2003) gender ist ein soziales Konstrukt kulturgebundener Konventionen, Rollen und Verhaltensweisen von Frauen + Männern, Mädchen + Jungen und des Verhältnisses zwischen ihnen; Geschlechterrollen, Geschlechterverhältnisse variieren innerhalb und zwischen Gesellschaften in Abhängigkeit der sozialen Verteilung von Macht und Autorität innerhalb der Gesellschaft; 31

II. Theorien und Erklärungskonzepte Pathways of Health Soziale Determinanten Arbeits- + Lebensbedingungen Soziale Netzwerke Gesellschaft Lebensweisen+ Psych. Faktoren Interaktion: biologische + soziale Faktoren Gesundheit + Krankheit Geschlecht, Alter, Gene, Gene, Hormone Zellfunktionen, Muskulatur, Skelett, Skelett, Biologische Determinanten 32

II. Theorien und Erklärungskonzepte Gendermedizin + Public Health Soziale + biologisch-medizinische Sichtweisen müssen zusammen kommen um Gesundheit und Krankheit zu erklären... Versorgungsprozesse zu analysieren und deren Qualität zu sichern sie erfordern unterschiedliche Theorien und Methoden... zu unterschiedlichen Gegenstandsbereichen... in großteils unterschiedlichen Anwendungsfeldern: Klinik vs Gesundheits-/ Sozialwesen 33

Gliederung I. Warum Gender in der Gesundheits- und Versorgungsforschung: Unterschiede zwischen Frauen und Männern? II. III. IV. Theorien und Erklärungsansätze: zur Rolle von sex und gender Wie muss Geschlecht in die Forschung integriert werden Gender Based Analysis? Ergebnisse eigener Studien zur GBA V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung 34

III. Wie muss Geschlecht in die Forschung integriert werden? 1. Berücksichtigung von Geschlecht als Methodenund Qualitätsstandard in der Forschung 2. Berücksichtigung der sozialen (Gender) Dimension von Krankheit und Gesundheit 3. Bewertung von Studien/ Handlungsempfehlungen vor dem Hintergrund wissenschaftlichtheoretischer und empirischer Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden 4. Vermeidung von geschlechterbezogenen Verzerrungen in der Forschung (gender bias) 35

Arten von Gender Bias (Eichler) Androzentrismus / Gynozentrismus Generalisierung von Ergebnissen auf Frauen und Männer, die nur für ein Geschlecht zutreffen oder nachgewiesen wurden (z.b. Therapiestudien) Geschlechterinsensibilität/ -blindheit bei für Frauen und Männer relevanten Themen wird nicht nach Geschlecht differenziert; Unterschiede bzw. Besonderheiten bleiben unberücksichtigt (z.b. Datenanalyse) Doppelstandard/ Stereotypisierungen Frauen und Männer werden auf jeweilige Geschlechterstereotype festgeschrieben und Gemeinsamkeiten der Geschlechter bleiben unberücksichtigt (z.b. Messung von Eigenschaften/ Befinden) 36

III. Wie muss Geschlecht in die Forschung integriert werden? Phasen des Forschungsprozesses, in denen Gender Bias auftreten kann Methodik Stichprobenziehung Beschreibung SP Datenanalyse Inhaltsebene Hypothesen Forschungsstand Interpretation Schlussfolgerungen Formale Ebene Titel, Abstract, Text Abbildungen 37

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Forschungsfrage Schließt die Forschungsfrage mögliche Unterschiede zwischen F + M ein? Beispiel Das Medikament X (neu) ist gegenüber Medikament Y (alt) wirksamer! Fehlerart Geschlechterinsensibilität 38

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Forschungsdesign Ist das Studiendesign geeignet, Unterschiede zwischen F + M herauszufinden? Beispiel Therapiegruppe N=100 (80 Männer) Placebogruppe N=100 (80 Männer) Fehlerart Androzentrismus/ Überrepräsentation von M 39

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Untersuchungsinstrumente Sind die Erhebungsinstrumente geeignet, die jeweiligen Besonderheiten/ Gemeinsamkeiten von F + M zu erfassen? Beispiel Menopausen-/ Hormonstatus wird nicht erhoben; Wechselwirkungen von Hormonen mit dem Medikament X (neu) können nicht untersucht werden; Fehlerart Genderinsensibilität; Androzentrismus 40

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Untersuchungsinstrumente/ Outcomes Sind die Erhebungsinstrumente geeignet, die jeweiligen Besonderheiten/ Gemeinsamkeiten von F + M zu erfassen? Beispiel Körperliche Funktionsfähigkeit als sekundärer Outcomeindikator wird erhoben: im Beruf, Freizeit, Sport; für Frauen auch Hausarbeit Fehlerart Doppelstandard; (ohne Hausarbeit: Androzentrismus) 41

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Untersuchungstechniken/ Rekrutierung Sind die Rekrutierungstechniken geeignet, vergleichbare Gruppen von F und M in die Studie einzuschließen? Beispiel Therapie- und Placebogruppe Fehlerart Doppelstandard M + F einer orthopädischen Rehaklinik Geprüfte Therapie: Bewegungstherapie Outcome: Körperliche Leistungsfähigkeit 42

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Untersuchereffekte Werden mögliche Untersuchereffekte kontrolliert? Beispiel Der Fragebogen der Vorher-Nachher-Messung beinhaltet Fragen zur Sexualität/ Libido. Interviewer: Medizinstudentinnen Studienteilnehmer: F + M zwischen 45-70 Jahren Auswirkungen: bias im Antwortverhalten nach Alter und Geschlecht Fehlerart Geschlechterinsensibilität 43

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Datenanalyse Werden die Daten nach Geschlecht getrennt ausgewertet? Beispiel Berechnung des Therapieeffekts für F + M zusammen T0 T1 T1-T0 Therapie 100 70-30 Placebo 100 100 0 T-P Fehlerart Geschlechterinsensibilität 0-30 -30 44

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Datenanalyse Werden die Daten nach Geschlecht getrennt ausgewertet? Beispiel Berechnung des Therapieeffekts für F + M getrennt Fehlerart Geschlechterinsensibilität Männer T0 T1 T1-T0 Therapie 50 28-22 Placebo 50 50 0 T-P 0-22 -22 45

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Datenanalyse Werden die Daten nach Geschlecht getrennt ausgewertet? Beispiel Berechnung des Therapieeffekts für F + M getrennt Fehlerart Geschlechterinsensibilität Männer T0 T1 T1-T0 Frauen T0 T1 T1-T0 Therapie 50 28-22 Therapie 50 42-8 Placebo 50 50 0 Placebo 50 50 0 T-P 0-22 -22 T-P 0-8 -8 46

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Dateninterpretation Werden Unterschiede zwischen F + M berücksichtigt? Beispiel Die neue Therapei verringert den Anteil der erkrankten Patienten um 30 pro 100! Falsch, denn belegt wurde nur ein Effekt bei den Männern! Fehlerart Androzentrismus, falsche Verallgemeinerung 47

Auffinden und Vermeiden von Gender Bias im Forschungsprozess Theoretisches Forschungskonzept Geschlechterunterschiede gehen nicht in das Untersuchungsmodell, Aufarbeitung des Forschungsstands, Hypothesenbildung und Studiendesign ein! Beispiele Keine Berücksichtigung: Wechselwirkung Hormone Medikament Krankheit Unterschiedliche Wirkung des Medikaments auf primäre und sekundäre Outcomes Geschlechtsspezifische Wechselwirkung Patient/in und Untersucher/in Unterschiede in der compliance und ihrer psychosozialen Einflussfaktoren 48

Gliederung I. Warum Gender in der Gesundheits- und Versorgungsforschung: Unterschiede zwischen Frauen und Männern? II. III. IV. Theorien und Erklärungsansätze: zur Rolle von sex und gender Wie muss Geschlecht in die Forschung integriert werden Gender Based Analysis? Ergebnisse eigener Studien zur GBA V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung 49

IV. Ergebnisse eigener Studien zur Gender Based Analysis Gender Based Analysis in der deutschen Public Health-Forschung der 90er Jahre Gender Based Analysis in der Gesundheitsförderung und Prävention bei Kindern und Jugendlichen 50

Gender Based Analysis in Public Health Forschung 1. Analyse der theoretischen und methodologischen Literatur 2. Befragung der deutschen Public Health Forschungsprojekte 3. Review deutschsprachiger Public Health-Journale 4. Bildung von Netzwerken 5. Vorträge, Fortbildung, Öffentlichkeitsarbeit 6. Forschungsrichtlinien 51

Gender Based Analysis in Public Health Forschung Befragung der Forschungsprojekte Ist der Untersuchungsgegenstand geschlechtsbezogen? Werden Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Forschungsprozess berücksichtigt, in den: Hypothesen Design und Methoden Analyse der Daten Schlussfolgerungen aus den Daten? Beurteilung des Bedarfs an geschlechtsbezogener Forschung? 52

Befragung der Forschungsprojekte Gegenstand der Projekte Frauen und Männer 76.9% Anderes 13.9% nur Frauen nur Männer 8.1% 1.0% Source: Survey of the Public Health Projects, May to August 2000, N = 186 53

Befragung der Forschungsprojekte Keine Berücksichtigung des Geschlechts in... Hypothese 33.3% 37.2% 33,3 37,2 Wahl der Instrumente 18.8% 24.0% 18,8 24,0 Datenanalyse Darstellung der Ergebnisse 17.6% 17.0% 18.5% 25.0% 17,6 17,0 18,5 25,0 Frauen Männer Schlussfolgerungen 6.9% 6,9 23.0% 23,0 Titel der Publikationen 40.0% 63.6% 40,0 63,6 54

Befragung der Forschungsprojekte Werden Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den Schlussfolgerungen berücksichtigt? 60% 50% 40% 55.2% 52.7% 30% 37.9% 20% 24.3% 23.0% 10% 0% 6.9% Frauen Männer Ja, immer Ja, manchmal Nein 55

Zeitschriftenreview Gender Based Analysis in Public Health Forschung Entwicklung eines standardisierten Ratingbogens entsprechend Eichler s Forschungsrichtlinien Review Basis: 516 Artikel in deutschsprachigen Journalen, Jahre 1990, 1995, 1999 Sozial- und Präventivmedizin n=108 Das (öffentliche) Gesundheitswesen n=354 Zeitschrift für Gesundheitswissenschaft n=55 Abstracts, Briefe, Editorials, Interviews, Nachrichten Proceedings von Tagungen wurden ausgeschlossen 56

Review der Public Health Journale Waren beide Geschlechter Gegenstand der Forschung? Ja 91.2% Nein 8.8% 5.3% nur Frauen 3.5% nur Männer Source: Review of Literature, empirical articles, N = 235 57

Review der Public Health Journale Berücksichtigung des Geschlechts in... Titel 9.8% Schlussfolgerungen 35.3% 80% 60% Abstract 26.8% 40% Datenanalyse 43.1% 20% 0% Text 69.8% Stichprobe 41.0% Forschungsfrage 43.4% Hauptvariablen 49.6% 58

GBA in der Gesundheitsförderung und Prävention Thema GF + Präv bei Kindern und Jugendlichen Untersuchungsbereiche Fachpublikationen und Pressemitteilungen von öffentlichen Institutionen (Politik, Prävention, Gesundheitsberichterstattung) (N=251 Publikationen) Themen der Gesundheitsvorsorge Bewegung, Ernährung, Tabak, Alkohol, illegale Drogen, HIV / Aids, soziale Lage als Querschnittsdimension Zeitraum 1998 bis einschließlich 2003 / 2004 59

Geschlechterdifferenzierung im Sprachgebrauch Anzahl der Publikationen Titel 8 251 3,2% Abstract 12 51 23,5% Anzahl der Publikationen insgesamt Tabellen und Abbildungen 67 106 63,2% partiell oder durchgehend differenziert Text 172 251 68,5% 0 50 100 150 200 250 n = 251 60

Geschlechterdifferenzierung im Sprachgebrauch (Text) nach Themen Anzahl der Publikationen Ernährung 25 34 73,5% Bewegung 33 44 75,0% Anzahl der Publikationen insgesamt partiell oder durchgehend differenziert HIV / Aids 32 39 82,1% Tabak 63 89 70,8% Alkohol 50 77 64,9% illegale Drogen 51 89 57,3% 0 25 50 75 100 n = 251 61

Geschlechterdifferenzierung der Zielgruppe nach Themen Anzahl der Publikationen Ernährung 20 33 60,6% Anzahl der Publikationen insgesamt Bewegung 18 42 42,9% nach Geschlecht differenziert HIV / Aids 17 37 45,9% Tabak 39 82 47,6% Alkohol 31 71 43,7% illegale Drogen 29 79 36,7% 0 25 50 75 100 n = 251 62

Gliederung I. Warum Gender in der Gesundheits- und Versorgungsforschung: Unterschiede zwischen Frauen und Männern? II. III. IV. Theorien und Erklärungsansätze: zur Rolle von sex und gender Wie muss Geschlecht in die Forschung integriert werden Gender Based Analysis? Ergebnisse eigener Studien zur GBA V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung 63

V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung Berücksichtigung von Geschlecht in allen Versorgungsbereichen Prävention und Gesundheitsförderung Medizinische Diagnostik und Behandlung Versorgungsprozesse Rehabilitation Pflege 64

V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung Wissensbasierte Entscheidungen in der Versorgung basierend auf Standards zur Berücksichtigung von Geschlecht in der Forschung Erkenntnissen zur Geschlechterunterschieden in der gesundheitlichen Lage, Krankheitsverläufen und biologischen und sozialen Einflussfaktoren Erkenntnissen zu möglichen Versorgungsdisparitäten und Nachteilen zwischen den Geschlechtern Wissenschaftlicher Evidenz zur geschlechtsspezifischen Wirksamkeit von therapeutischen Maßnahmen 65

V. Qualitätsanforderungen an die Versorgung Von der geschlechterangemessenen Versorgung zur geschlechtergerechten Versorgung Public Health als soziale Wissenschaft ist einer geschlechtergerechten Forschung und Versorgung verpflichtet! 66