Hutewälder in Nordhessen und Südniedersachsen historische Nutzung und aktuelle Situation Dr. Marcus Schmidt
Gliederung Einführung Charakteristika von Hutewäldern Historischer Rückblick Frühe Schutzbemühungen Bedeutung für den Erhalt der Biodiversität Veränderungen der Flora und Vegetation Schutzkonzepte/Leitbilder Ausblick
Einführung In Breitenwirkung und Andauer ist keine Maßnahme des Menschen mit der extensiven und den Wald einbeziehenden Weidewirtschaft zu vergleichen, und zwar weltweit. Obwohl sie bis vor etwa 200 Jahren nahezu allgemein auch in Mitteleuropa herrschte und einst die Hauptnutzung des Waldes war, kann man sie heute nur noch an wenigen Stellen studieren. (ELLENBERG & LEUSCHNER 2010) Nordhessen war besonders rückständig in Bezug auf die Ablösung der in seltener Ausdehnung und Mannichfaltigkeit bestehenden Huteberechtigungen (WENDELSTADT 1878) Noch am Ende des 19. Jahrhunderts nahmen Huteflächen in den Wäldern Nordhessens über 28.000 ha ein, davon ca. 18.000 ha Hutewald und ca. 10.000 ha Blößen. (WAGNER 1886)
Einführung Hutewälder sind für den Naturschutz u. a. bedeutsam aufgrund ihrer kleinräumigen Verzahnung zwischen Wald- und Offenlandlebensräumen, ihrer Alt- und Totholzstrukturen und ihrer nährstoffarmen Lebensräume. Sie weisen oft eine überdurchschnittlich hohe Artenvielfalt und Anzahl seltener und gefährdeter Arten (z. B. Flechten, Pilze, Käfer) auf engstem Raum auf. Sie haben eine kulturhistorische Bedeutung als letzte Belege einer in Deutschland weitgehend ausgestorbenen Landnutzungsform. Sie könnten Vorbild für die Etablierung neuer extensiver Landnutzungsformen unter heutigen ökonomischen Rahmenbedingungen sein. In Nordhessen und Südniedersachsen sind überdurchschnittlich viele Hutewaldreste erhalten geblieben. Die größten Flächen befinden sich im Reinhardswald. (GLASER & HAUKE 2004)
Charakteristika von Hutewäldern Ausstellungsplakat im Landesmuseum Hannover um 1930 ausgezeichnet durch Baumriesen und grasreichen Unterwuchs Die Reste dieser Wälder streben heute nach Aufhören der Beweidung dem Buchenwalde zu. (R. TÜXEN)
Charakteristika von Hutewäldern Bauholz- und Masterzeugung Laubgewinnung Weidenutzung Aufbau eines Hutewaldes (SPEIER & HOPPE 2004, verändert)
Charakteristika von Hutewäldern Buchen-Hochwald (bodensauer, Optimalphase) Eichen-Hutewald (bodensauer) Baumschicht: Rotbuche dominant, daneben Stiel- und Trauben-Eiche gleichmäßiger Bestandesaufbau (homogenes Lichtklima, rl: 3 %) Baumschicht: Stiel- und Trauben- Eiche, daneben Rotbuche, Hainbuche, Birke, Wildapfel ungleichmäßiger Bestandesaufbau (heterogenes Lichtklima, rl: >10 %) Strauchschicht: fehlt meist bzw. vorwiegend Buchen-Verjüngung Strauchschicht: meist ausgeprägt (oft dornige und stachelige Gehölze) Krautschicht: artenarm, Deckungsgrad <10 % Krautschicht: artenreich, Deckungsgrad >50 % nach SCHMIDT & HEILE (2001, verändert)
Charakteristika von Hutewäldern Urwald Sababurg um 1915
Charakteristika von Hutewäldern Paradies bei Gellershausen um 1920 um 1915
Charakteristika von Hutewäldern Eichen-Pflanzwälder im Reinhardswald (und Solling): einst 6-7.000 ha
Charakteristika von Hutewäldern Fichten-Klumpse 1875 An der Eichkanzel (Reinhardswald) von 1851 bis 1867 entstanden über 500 ha mit insgesamt 17.000 Klumpsen
Charakteristika von Hutewäldern 5 Buchen-Heister je Klumps (ohne Fichten oder Eichen) gepflanzt 1865 (Reinhardswald)
Charakteristika von Hutewäldern Hutewald (Reinhardswald, Oberes Lempetal)
Charakteristika von Hutewäldern Schneitel-Hainbuchen (Reinhardswald, Pfingstgehege)
Historischer Rückblick P. Weitsch (1723-1806): Eichenwald mit Hirt und Herde (1760)
Historischer Rückblick 1785 P. Weitsch (1723-1806): Eichenwald mit Hirt und Herde (1760)
Historischer Rückblick - Waldweide seit der Jungsteinzeit - z. T. Hauptnutzung des Waldes - Mast z. T. wertbestimmend Forst- und Jagd-Ordnung des Landgrafen Philipp (1532): Man soll an gehegten welden, da man jungholtz uffzihet, die geiß oder ziegen abschaffen, und inn dy gehege zu treiben nit gestatten. Forst- und Holz Ordnung (1617): Weill das Laubstraiffen in dem Jungen holz schedlich ist, soll daßelbig abgeschafft und nicht gelietten werden. H. Bock (1546)
Historischer Rückblick Waldhutereglements vom Reinhardswald (1747/48): 27 Ortschaften werden feste Hutebezirke zugewiesen. Ein Drittel des Waldes wird in Hege gelegt. Beweidungszeitraum: Mitte Mai bis Ende August (Blumenhute), anschließend Winterhute und Mast Die Zahl der Tiere wird begrenzt: 19.374 Schafe 5.869 Ochsen, Kühe und Rinder 4.458 Schweine 3.059 Pferde 718 Ziegen 54 Esel Ablösung der Huterechte ab 13.5.1867 (Preußen) bis Ende 19. Jahrhundert
Historischer Rückblick 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1800 1866 1966 2000 Jahr 1800 1866 1966 2000 Buche Eiche Fichte 60 30 0 61 28 6 42 13 40 39 15 32 Holzartenverteilung 1800-2000 im Reinhardswald Lärche, Kiefer, Douglasie Erle, Birke u. a. 0 10 1 4 5 0 9 5 nach Mackeldey (1800-1966), Chwalczyk (2000)
Frühe Schutzbemühungen
Frühe Schutzbemühungen Theodor Rocholl (1854-1933)
Frühe Schutzbemühungen Werden auch hier, wie es teilweise schon begonnen ist, Tannen (in Reih und Glied wie ein gedrilltes Kornfeld) gepflanzt, so verdecken sie in ganz kurzer Zeit alles, was von alter Herrlichkeit noch da ist... Brief an Oberforstmeister Georg Swart in Kassel 1905
Frühe Schutzbemühungen Es verschwinden nicht nur allmählich die herrlichen Hute-Eichen und -Buchen, die auf den freien Flächen ihre Sonderart in der Entwicklung einer stattlichen Krone bei verhältnismässig kurzem Stamm entfalten konnten, die hohl geworden, noch manchem Höhlenbrüter... Unterschlupf boten... Bernhard Schaefer (1864-1931) (Der Schutz des Waldes, besonders in Hessen, 1912)
Frühe Schutzbemühungen 1911 Postkartenserie Urwaldriesen aus dem Reinhardswald - Susanne Homann, Darmstadt
Frühe Schutzbemühungen 50 Jahre Urwald Sababurg Diese ganze Eichen- und Buchenherrlichkeit ist ein großartiges Museumsstück, dessen Neuerstehung ausgeschlossen bleibt. Aber gerade darum ist es unsere Pflicht, dieses kostbare Zeugnis vormaliger Waldnutzung so lange wie möglich sorgsam zu erhalten. (Heinrich Grupe 1957)
Bedeutung für den Erhalt der Biodiversität Urwald Sababurg: 58 Flechtenarten davon 16 auf der Roten Liste Hessen 9 Arten auf Buche 40 Arten auf Eiche (GÜNZL & FISCHER) Usnea filipendula
Bedeutung für den Erhalt der Biodiversität Buchen-Schleimrübling (Oudemansiella mucida ) Urwald Sababurg: ca. 570 Pilzarten, davon 109 Arten auf der Roten Liste Hessen = 28 % aller in Hessen bekannten Arten auf 0,004 % der Landesfläche (SCHLECHTE, KEITEL, LANGER u. a.)
Bedeutung für den Erhalt der Biodiversität BLASCHKE et al. (2009): bundesweit 68 Naturnähezeigern unter den holzbewohnenden Pilzen, davon 24 in Hessen Grundlage: 92.322 Fundmeldungen aus der Datenbank der Deutschen Gesellschaft für Mykologie (DGfM), Literaturrecherche (SCHMIDT et al. 2012)
Bedeutung für den Erhalt der Biodiversität Urwald Sababurg: ca. 680 Käferarten (noch unterschätzt), davon bundesweit mindestens 33 Arten stark gefährdet 8 Arten vom Aussterben bedroht (SCHAFFRATH 2010) 10 Urwaldreliktarten, darunter der Eremit (Osmoderma eremita) Anhang-II-Art der FFH-Richtlinie, 2 weitere Urwaldreliktarten im Umfeld (Beberbecker Hute) nachgewiesen Eremit (Foto: Rahn)
Veränderungen der Flora und Vegetation Erste Erfassung durch Wilhelm BOCK 1911/12 auf größerer Teilfläche (61 ha), veröffentlicht 1914. Folgeuntersuchungen durch FLÖRCKE (1967) ANDERS (1982) NEUMANN (1982) MEINEKE (1988) SCHMIDT (2005)
Veränderungen der Flora und Vegetation Nachweis von 187 Farn- und Blütenpflanzen seit 1911 1914: 93 Arten 1967: 92 Arten 1982/88: 118 Arten 2005: 136 Arten Von den 1914 nachgewiesenen 93 Arten wurden 86 (93 %) bis 1967 beobachtet, 78 (84 %) bis 1982/88 und 77 (83 %) bis 2005. Von den 2005 nachgewiesenen 136 Arten wurden 77 schon vor 1920 erfasst, 8 Arten kamen bis 1967 hinzu, weitere 17 Arten bis 1982/88 und 34 Arten wurden erstmals 2005 festgestellt.
Veränderungen der Flora und Vegetation Verlust von Nässezeigern : Sumpf-Labkraut (Galium palustre) Sumpf-Helmkraut (Scutellaria galericulata) Sumpf-Veilchen (Viola palustris) Verlust von Magerkeitszeigern : Gewöhnliches Kreuzblümchen (Polygala vulgaris) Gewöhnlicher Teufelsabbiss (Succisa pratensis) Wald-Läusekraut (Pedicularis sylvatica) Rundblättriger Sonnentau (Drosera rotundifolia)
Veränderungen der Flora und Vegetation Einwandern von Stickstoffzeigern : Gewöhnliche Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata) Kletten-Labkraut (Galium aparine) Gewöhnliche Nelkenwurz (Geum urbanum) Große Brennnessel (Urtica dioica) Gewöhnliche Vogelmiere (Stellaria media) Auftreten gebietsfremder Arten: Gewöhnliche Rosskastanie (Aesculus hippocastanum) ab 1919 Zarte Binse (Juncus tenuis) ab 1927 Späte Traubenkirsche (Prunus serotina) nur 1982 Kleinblütiges Springkraut (Impatiens parviflora) ab 2005
Veränderungen der Flora und Vegetation Wald-Läusekraut
Veränderungen der Flora und Vegetation Rundblättriger Sonnentau
Veränderungen der Flora und Vegetation Preiselbeere
Vegetation und ihre Veränderungen (1 % - 0 %) (61 % - +18 %) (16 % - + 8 %) (3 % - -13 %) } (<1 % - -2 %) (19 % - -10 %) Anteil geschlossener Wald: 80 % (+28 %) Anteil offen und halboffen: 20 % (-28 %) Vergleich 1966 (FLÖRCKE) 2006 (SCHMIDT)
Vegetation und ihre Veränderungen 1911
Vegetation und ihre Veränderungen
Vegetation und ihre Veränderungen 1925
Vegetation und ihre Veränderungen
Vegetation und ihre Veränderungen um 1920
Vegetation und ihre Veränderungen
Vegetation und ihre Veränderungen
Vegetation und ihre Veränderungen 1925
Vegetation und ihre Veränderungen
Vegetation und ihre Veränderungen um 1930
Vegetation und ihre Veränderungen
Schutzkonzepte/Leitbilder a) Leitbild Hutewald Ziel: Rückentwicklung/Regeneration Hutewald-typischer Strukturen und Förderung licht- und wärmebedürftiger sowie xylobionter Arten, Eichen- Kontinuität Maßnahmen: Starke Auflichtung (Freistellen alter Hutebäume), gleichzeitig Etablierung einer an die historische Waldweide angelehnten Beweidung Probleme: in vielen Gebieten mit langer ungestörter Sukzession (z. B. Urwald Sababurg) starkes Arbeiten gegen die Natur ; langfristige Finanzierung (vgl. SCHMIDT 2010)
Schutzkonzepte/Leitbilder b) Leitbild Urwald Ziel: Annäherung an urwaldähnliche Strukturen (insbesondere der Altersund Zerfallsphase) und Förderung der an sie gebundenen Arten (v. a. Xylobionte) Maßnahmen: konsequentes Unterlassen von Pflegeeingriffen. Das bedeutet, in die seit mehr als 100 Jahren, seit dem Ausbleiben der forstlichen Nutzung, gewachsenen Waldstrukturen nicht mehr einzugreifen. Probleme: Ein Teil der alten Eichen wird um einige Jahre bis Jahrzehnte eher absterben und der Eichenanteil insgesamt wird weiter abnehmen. (vgl. SCHMIDT 2010)
Ausblick Lange Bahn/Bramwald, 4 ha, seit ca. 2005 Beweidung: Schottische Hochlandrinder (3-7) für 10-14 Wochen
Ausblick Reiherbachtal, 170 ha, seit 2000 Beweidung: Heckrinder, Exmoorponys, ganzjährig
Ausblick Hühnerfeld, 30 ha, seit 1993 Beweidung: Islandpferde, Rinder ca. 12 Wochen (Juni-August)