Übung zur Vorlesung im Strafrecht für Anfänger

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Transkript:

Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung und Anwendung des Strafgesetzes - Gesetzlichkeitsprinzip I. Nullum crimen, nulla poena sine lege 1. Grundgedanke und geschichtliche Herkunft Art. 103 II GG normiert als die verfassungsrechtliche Grundnorm des Gesetzlichkeitsprinzips den aus der Staatslehre der Aufklärung stammenden Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege und 1 StGB wiederholt dies Gedanken wortgleich. Das Gesetzlichkeitsprinzip versteht sich keineswegs von selbst. Die CCC aus dem Jahre 1532 stellte es noch dem Richter anheim, eine Strafe zu verhängen, wenn im konkreten Fall zwar keine Strafe vorgesehen war, die Tat aber dem allgemeinen Ordnungsempfinden widersprach. Der Grundsatz findet sich dann in den Verfassungen der amerikanischen Staaten Virginia und Maryland (1776) sowie der in Art. 8 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Revolution. Anselm v. Feuerbach formulierte schließlich den nullum crimen-satz im Jahre 1801, der anschließend Eingang in die Strafrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts nahm. Ursprünglich entstammt dieser der Idee der Generalprävention: Wenn die Bestrafung des Täters andere vor der Tatbegehung abschrecken sollte, dann müssen diese wissen, was sie konkret zu unterlassen haben. Daher muss das strafbare Verhalten für jeden nachvollziehbar niedergeschrieben sein. Heute sieht man den Grundsatz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips an, um dem Bürger ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit zu gewährleisten: Jeder muss wissen, welches Verhalten strafbar ist und welches nicht (Garantiefunktion des Strafrechts). 2. Die wichtigsten Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips Dem Grundsatz nulla poena, sine lege könne vier verschiedene Ausprägungen entnommen werden. a) Die Unzulässigkeit von Gewohnheitsrecht (nulla poena sine lege certa). Nur ein bestimmtes Gesetz kann eine Strafbarkeit eines Verhaltens begründen und eine bestimmte Strafe als Rechtsfolge bestimmen. Die Begründung einer Strafbarkeit durch Ref.jur. Christian Wagner wagnerch@uni-trier.de 1

Gewohnheitsrecht ist hingegen unzulässig. Unter Gewohnheitsrecht versteht man eine von den Gerichten seit langem angewandte Praxis (lang andauernde Übung), die von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung getragen wird, aber nie gesetzlich fixiert wurde. Während die Bildung gewohnheitsrechtlicher Grundsätze zulässig und üblich ist, kann im Strafrecht eine lang andauernde Praxis die Strafbarkeit weder begründen noch eine gesetzlich vorgesehene Strafe schärfen. Dieses strikte Verbot gilt nur bei Maßnahmen zu Lasten des Täters, während gewohnheitsrechtliche Regelungen zu seinen Gunsten zulässig wären. Bsp.: alic; Einwilligung Problem: Art. 7 II EMRK - Strafbarkeit nach allg. von zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen b) Bestimmtheitsgrundsatz (nulla poena sine lege certa). Der Bestimmtheitsgrundsatz besagt, dass Strafgesetze sowohl hinsichtlich ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen als auch hinsichtlich der Rechtsfolgen ein Mindestmaß an Bestimmtheit aufweisen müssen. Eine Strafvorschrift, die eine Strafbarkeit wegen Verstoßes gegen die guten Sitten vorschreiben würde, wäre unzulässig. Weder wäre hinreichend klar, was tatsächlich verboten ist, noch ist ersichtlich, welche Höhe die Strafe haben könnte. Wertausfüllungsbedürftige Generalklauseln sind in beschränktem Maße dennoch möglich, da auch ein Strafgesetz nicht bis ins Detail Regelungen aufnehmen kann. Bsp.: 242 StGB Die Grenze von unzulässiger Unbestimmtheit und zulässiger Generalklausel ist aber nicht immer eindeutig. Es geht darum, dass sich der Einzelne anhand des gesetzlichen Wortlauts Klarheit darüber verschafft, was erlaubt und verboten ist. Kann er dies nicht mehr, ist die Vorschrift verfassungswidrig. Bsp.: Gewalt i. S. d. 240 StGB c) Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege praevia). Unter dem Rückwirkungsverbot versteht man, dass eine Strafvorschrift weder mit rückwirkender Kraft geschaffen noch die Strafe mit rückwirkender Kraft verschärft werden kann. Es umfasst sowohl das Ob als auch das Wie der Strafbarkeit. Hinsichtlich des Tatzeitpunktes gilt 8 StGB, wonach auf die Handlungszeitpunkt und nicht auf den des Erfolges abzustellen ist. Ref.jur. Christian Wagner wagnerch@uni-trier.de 2

Das Rückwirkungsverbot gilt jedoch, wie der gesamte Grundsatz nulla poena sine lege, nur für das materielle Recht, d. h. für die Frage, welches Verhalten strafbar ist und welche Strafe sich daran knüpft. Dagegen gilt er nicht für das Strafprozessrecht und die Strafverfolgungsvoraussetzungen (sehr umstritten). Bsp.: Verlängerung der Verjährungsvorschriften - allerdings darf die Tat nicht bereits verjährt sein Das Rückwirkungsverbot gilt auf der Rechtsfolgenseite nur für Strafen, aber nicht für Maßregeln der Sicherung und Besserung ( 2 VI StGB). Schließlich gilt es auch nicht in Bezug auf eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtssprechung oder allgemein den Wandel bestimmter Rechtsauffassungen auf der Grundlage bestehender Gesetze. Rückwirkung zu Gunsten des Täters: 2 III StGB d) Analogieverbot (nulla poena sine lege stricta) Darunter versteht man das Verbot, aus einem Ähnlichkeitsvergleich, also dem Vergleich mit existierenden Strafbestimmungen unter Heranziehung der ratio des Gesetzes, neue Straftatbestände zu schaffen, die das geschriebene Gesetz in dieser Form nicht kennt. Bsp.: Elektrizitätsdiebstahl ( 248c StGB) Abzugrenzen ist die verbotene Analogie von der zulässigen Auslegung. Jede Rechtsnorm bedarf der Auslegung, die sich am Wortlaut der Norm orientiert. Der Wortlaut des Gesetzes bildet allerdings die Schranke zulässiger Auslegung. Wird diese Schranke überschritten, so liegt eine Analogie vor. Eine Analogie zu Gunsten des Täters ist stets zulässig. 3. Die Reichweite des Gesetzlichkeitsprinzips Das Gesetzlichkeitsprinzip gilt nicht nur für Strafandrohungen des BT, sondern für alle die Strafbarkeit begründenden oder erhöhenden Regelungen. Zwar wird vereinzelt die Auffassung vertreten, dass das Gesetzlichkeitsprinzip auf den AT keine Anwendung findet. Diese Meinung geht davon aus, dass nur im BT die einzelnen Tatbestände vertypt sind, so auch nur hier das Gesetzlichkeitsprinzip - insbesondere das Rückwirkungsverbot - sinnvollerweise zur Anwendung kommt. Diese Ansicht ist aber weder mit dem Wortlaut noch den Grundgedanken des Art. 103 II GG vereinbar. Die Differenzierung zwischen AT und BT ist weit gehend nur gesetzessystematischer Natur, d. h. sie sind nur aus formellen Gründen vor die Klammer gezogen, nicht aber Ausdruck eines materiellen Ungleichgewichts.. Die Ref.jur. Christian Wagner wagnerch@uni-trier.de 3

Reichweite eines Tatbestandes kann letztlich nur durch die Regeln des AT näher bestimmt werden (z. B. 303, 15 StGB). Eingeschränkt ist das Erfordernis einer gesetzlichen Bestimmung der Strafbarkeit nur für die Strafbarkeit ausschließende und mildernde Gründe; unabhängig davon, ob diese dem AT oder BT zuzuordnen sind. Art. 103 II GG fordert keine vollständige gesetzliche Regelung dieser Gründe, weil Grundgedanke und Entstehungsgeschichte der Vorschrift zeigen, dass die einseitige Schutzrichtung des Gesetzlichkeitsprinzips auf seinen Charakter als grundrechtsgleiches Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat (Art. 94 I Nr. 4a GG) und zurückführen ist. Die Norm dient der Begrenzung staatlicher Strafgewalt. Eine Delegation der Strafwürdigkeitsentscheidung vom demokratischen Gesetzgeber an den Richter findet nicht statt. Umstritten ist aber, inwieweit das Gesetzlichkeitsprinzip auch für die Voraussetzungen der gerichtlichen Verfolgung von Straftaten gilt. Kann z. B. das Rückwirkungsverbot auch für die prozessuale Verfolgbarkeit Geltung beanspruchen? Diskutiert wird die Frage im Zusammenhang mit der Ahndung nationalsozialistischen Unrechts und dem nachträglichen Verjährungsausschluss ( 78 StGB), um wenigstens in Mordfällen eine spätere Bestrafung zu ermöglichen. Das BVerfG hält eine solche nachträgliche Verjährungsverlängerung oder einen gänzlichen Ausschluss für grundgesetzkonform. Es begründet seine Auffassung damit, dass die Verjährung nicht die Strafbarkeit selbst ausschließe, sondern nur die gerichtliche Verfolgung der Tat und das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG auf eine Änderung der Verjährungsregeln unanwendbar sei. Das Gesetzlichkeitsprinzip schütze den Bürger allein vor einer rückwirkenden Begründung oder Erhöhung der Strafbarkeit, aber garantiere darüber hinaus nicht, dass von ihm begangene Straftaten nur solange verfolgt werden könne, wie es das Gesetz im Zeitpunkt der Tatbegehung vorsah. Bei der Verjährung fehlt es an dem Vertrauensschutzelement, da die Verjährung ohnehin jederzeit unterbrochen werden könnte. Jedoch wäre die Verlängerung bereits abgelaufener Verjährungsfristen aufgrund des allg. Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 III GG) unzulässig. Zudem lässt der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den nachträglichen Verjährungsausschluss nur in Fällen schwersten Unrechts zu. Die Begründung ist insofern fraglich, als dass Art. 103 II GG nicht in erster Linie Vertrauensschutz gewährleisten soll, sondern die Ausübung der Strafgewalt an abstrakte und von dem zu entscheidenden Fall losgelöst formulierte Regeln binden will. Die Gefahr, dass diese Regeln unterhöhlt werden, wenn man die Ahndung bereits begangener Taten anstrebt, Ref.jur. Christian Wagner wagnerch@uni-trier.de 4

besteht sowohl im Bereich der materiellen Strafbarkeit als auch im Bereich der Voraussetzungen für eine gerichtliche Verfolgbarkeit der Tat. Ohne das Bestreben, die Bestrafung von nationalsozialistischen Gräueltaten zu ermöglichen, wäre diese wegen des mit der Zeit eintretenden Beweisverlustes problematische Regelung kaum Gesetz geworden. Man könnte also auch den Standpunkt vertreten, das Gesetzlichkeitsprinzip auch auf prozessuale Voraussetzungen anzuwenden. Fraglich ist weiter, ob sich das Gesetzlichkeitsprinzip in Form des Rückwirkungsverbots auch auf Änderungen im Bereich der Rspr. erstreckt. Die h. M. geht davon aus, dass Art. 103 II GG auf den Bereich der Rechtsschöpfung beschränkt ist und daher einer rückwirkenden Rechtsprechungsänderung nicht entgegensteht. Ein davon überraschter Täter kann allenfalls unter Schuldgesichtspunkten wegen eines Verbotsirrtums Straffreiheit oder eine Milderung erlangen. Der strafbefreiende und unvermeidbare Verbotsirrtum ( 17 StGB) kommt aber nur in Betracht, wenn das Verhalten des Täters nach der zur Tatzeit praktizierten höchstrichterlichen Rspr. als straflos gelten konnte und der Täter dieser Rspr. auch vertraute. Z. B. geht es um die Frage der Herabsetzung des BAK von 1,5 auf 1,3 für die Annahme absoluter Fahruntauglichkeit. Diese Änderung der Rspr. verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot, weil nur die Rechtsschöpfung, nicht aber die bestimmte Auslegung eins TB von diesem Verbot erfasst wird. Denn der Einzelne kann kein Vertrauen in eine stets gleich bleibende Rspr. haben. Schließlich bleibt noch zu klären, ob das Gesetzlichkeitsprinzip für Maßregeln der Besserung und Sicherung gilt. 2 VI StGB sieht für deren Verhängung die Anwendung des zur Zeit der Entscheidung geltenden Rechts vor: Das Gesetz geht also selbst davon aus, dass das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG insoweit nicht gilt. Das BVerfG geht davon aus, dass Art. 103 II GG nach seiner Entstehungsgeschichte nicht auf Maßregeln der Besserung und Sicherung anwendbar ist. Der Grundgesetzgeber habe bewusst an Art. 116 WRV angeknüpft, für den anerkannt war, dass Maßregeln nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegen. Dafür spräche weiter, dass Art. 103 II GG in engem Zusammenhang mit dem Schuldprinzip stehe und die Vorschrift gewährleisten will, dass der Einzelne sein Verhalten so einrichten kann, dass eine Strafe als missbilligende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes Unrecht vermieden werden kann. Die Regelung sei nach ihrem Grundgedanken deshalb nicht auf Maßregeln zugeschnitten. Dagegen spricht aber, dass die Maßregeln der Besserung und Sicherung erst 1933 in das StGB eingefügt wurden und die Argumentation zu Art. 116 WRV sich nicht intensiv mit Ref.jur. Christian Wagner wagnerch@uni-trier.de 5

diesen Vorschriften auseinandergesetzt hat. Zudem hatten die Maßregeln zu dieser Zeit noch nicht ihre heutige Bedeutung. Maßgeblich kann allein das Grundkonzept des Art. 103 II GG sein: Der Norm geht es weniger um Vertrauensschutz als vielmehr darum, die Ausübung der Strafgewalt an abstrakte und von dem zu entscheidenden Fall unabhängig formulierte Regeln zu binden. Daher wäre das Rückwirkungsverbot im Grunde auch auf Maßregeln anzuwenden. Auch in diesem Bereich besteht die Gefahr, Rechtsnormen nachträglich zu schaffen, um auf eine begangene Straftat reagieren zu können. Stellt man bei der Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips auf die Maßregeln aber nur die Vorteile des Prinzips in den Vordergrund, so verkennt man dessen Nachteile, die gerade im Rahmen besonders stark wirken. Strafe und Maßregel unterscheiden sich in ihrer Zweckrichtung: Die Strafe will die Anerkennung der Norm erhalten, wobei die normerhaltende Wirkung des Strafrechts nicht davon abhängt, dass jede Tat bestraft wird. Dazu ist es nötig, dass normwidriges Verhalten zu bestrafen. Die aus dem Gesetzlichkeitsprinzip resultierenden Strafbarkeitslücken stellen das Erreichen des Strafzwecks aber nicht grundsätzlich in Frage. Bei Maßregeln ist dies anders, weil es bei ihnen um die Abwehr einer im Einzelfall von dem Täter ausgehenden Gefahr geht. Regelungslücken schlagen unmittelbar auf den Eingriffszweck durch, weil sie zur Folge haben, dass die im Einzelfall drohende Gefahr nicht abgewendet wird. Fraglich ist demnach, ob wegen der Vorteile der Bindung an abstrakte Regeln die daraus entstehenden Strafbarkeitslücken sowohl bei Strafen als auch Maßregelen in Kauf zu nehmen sind. Bei Maßregeln ist das Interesse an der Vermeidung und Schließung von Regelungslücken höher, weshalb aus der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung bei der Strafe solche Lücken in Kauf zu nehmen, nicht darauf geschlossen werden kann, die auch bei den Maßregeln zu tun. Das strikte Gesetzlichkeitsprinzip ist prinzipiell auch in seinen Ausprägungen mit dem BVerfG nicht auf Maßregeln anzuwenden. Jedoch ist zu beachten, dass Maßregeln als Grundrechtseingriffe auch ohne Anwendung des Art. 103 II GG schon wegen des allg. rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalts nur aufgrund eines Gesetzes verhängt werden dürfen. Nach dem BVerfG ist das Analogieverbot deshalb schon aus rechtsstaatlichen Gründen insoweit anzuwenden. In der Lit. wird aus dem allg. Gesetzesvorbehalt auch ein Verbot zur Überschreitung des Wortsinns abgeleitet. Bsp.: analoge Anwendung des Art. 104 I GG im Bereich der Freiheitsentziehung. Danach ergibt sich also zumindest bei freiheitsentziehenden Maßregeln eine ebenso strikte Bindung des Richters an das Gesetz wie bei der Strafe. Ref.jur. Christian Wagner wagnerch@uni-trier.de 6

II. Weitere verfassungsrechtliche Anforderungen 1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör Nach Art. 103 I GG muss jedem Einzelnen vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt werden. Dieser Grundsatz gilt über den Wortlaut hinaus ( vor Gericht ) für das gesamte Verfahrensrecht und ist daher in jedem Stadium des Strafverfahrens zu gewährleisten. Der Beschuldigte oder Angeklagte muss zu jeder Zeit das Recht haben, zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen und z. B. Entlastungsbeweise vorbringen zu können (vgl. Art. 6 I EMRK). 2. Verbot der Doppelbestrafung wegen derselben Tat Dieses Verbot gelangt eigentlich im Strafprozess Bedeutung. So bestimmt Art. 103 III GG, dass niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf (ne bis in idem). Dieser Grundsatz hat in erster Linie auf die Rechtskraft strafrechtlicher Urteile Auswirkungen. Problematisch wird dieser Grundsatz, wenn der Täter beispielsweise wegen eines Dauerdelikts, wie einer Trunkenheitsfahrt nach 316 StGB verurteilt wird und sich erst im Nachhinein herausstellt, dass er während dieser Fahrt einen Mord begangen hat. Da die gesamte Trunkenheitsfahrt als eine Tat abgeurteilt wurde, schließt sie scheinbar sämtliche Handlungen mit ein, die während der Fahrt begangen wurden eine Verurteilung wegen Mordes ist nicht mehr möglich. Das soll einerseits Rechtssicherheit für den rechtskräftig Verurteilten schaffen und andererseits die Strafverfolgungsorgane zu sorgfältigen Ermittlungen anhalten. Denn was im Strafverfahren nicht ermittelt und verwertet wurde, kann nach Abschluss des Verfahrens nicht mehr berücksichtigt werden. Zu beachten bleibt, dass Art. 103 III GG nicht für das Nebeneinander von Straf- und Disziplinarrecht gilt. Daneben gilt der ne bis in idem - Grundsatz nur für die Aburteilung in einem Staat und schließt die Ahndung von Straftaten durch verschiedene Staaten nicht aus. 3. Das Schuldprinzip Ref.jur. Christian Wagner wagnerch@uni-trier.de 7

Das Schuldprinzip nulla poena sine culpa ist einer der Grundpfeiler, auf denen das Strafrecht ruht. Es gilt als ein unantastbarer Grundsatz allen staatlichen Strafens und besagt, dass die Schuld des Täters eine zwingende Voraussetzung für die Legitimität staatlichen Strafens ist. Das Schuldprinzip ist zwar nicht ausdrücklich in der Verfassung niedergeschrieben, aber es ergibt sich inzident aus dem Menschenbild des GG (Art. 1 I GG) sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip. Das Schuldprinzip wird uns noch ausführlicher beschäftigen, weil es für das Verständnis des heutigen Strafrechtssystems unerlässlich ist, sich mit diesem Grundsatz auseinanderzusetzen. 4. Der Grundsatz in dubio pro reo Ergibt sich nach Erhebung und Würdigung aller zur Verfügung stehenden und erlaubten Beweismittel kein eindeutiger Sachverhalt (unklare oder mehrdeutige Sachverhaltslage), so hat der Richter im Zweifel auf der Grundlage desjenigen Sachverhalts zu entscheiden, der für den Täter die günstigere Rechtsfolge vorsieht. Selbst ein noch so starker Verdacht reicht nicht aus, um eine Strafe zu legitimieren. Dieser in der Rechtsgeschichte nicht immer selbstverständliche Grundsatz, der die Verdachtsstrafe verbietet, ist die prozessuale Folge des Schuldprinzips. So sah das Beweisrecht des in Deutschland bis in das 19. Jahrhundert angewandten Inquisitionsprozesses die Möglichkeit vor, bei fehlendem Schuldbeweis eine mildere Verdachtsstrafe statt der für die Tat angedrohten Strafe zu verhängen. Allerdings ist zu beachten, dass an den Schuldbeweis hohe formale Anforderungen gestellt wurden: Entweder ein Geständnis oder zumindest zwei Tatzeugen. Zwar hat das BVerfG es noch nicht ausdrücklich entschieden, aber so ist doch davon auszugehen, dass auch das Prinzip in dubio pro reo verfassungsrechtlich gewährleistet ist. Dem Angeklagten darf keine Beweislast für seine Unschuld auferlegt werden. Bei nicht behebbaren Zweifeln ist stets in dubio pro reo zu entscheiden, d. h. dem Urteil ist im Zweifel für den Angeklagten die günstigere Alternative zu Grunde zu legen. Das gilt nicht nur für belastenden, sondern auch für entlastende Tatsachen. Ref.jur. Christian Wagner wagnerch@uni-trier.de 8