Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln



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Transkript:

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Erfahrungen Herausforderungen Lösungsansätze www.bmelv.de

2 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 3 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Erfahrungen Herausforderungen Lösungsansätze

4 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Inhalt Grußwort der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner 7 Wirtschaftlicher Rahmen und das Verhalten der Marktteilnehmer 12 Prof. Dr. Achim Spiller Wettbewerbsstrategien, Verbraucherverunsicherung und Funktionsfähigkeit des Qualitätswettbewerbs auf dem deutschen Lebensmittelmarkt: Empirische Ergebnisse 14 Prof. Dr. Andrea Gröppel-Klein Aktuelle Forschungsergebnisse zum Konsumentenverhalten bei Lebensmitteln 26 Gerd Billen Verbraucher und Unternehmen im Dialog: Ergebnisse des Projekts lebensmittelklarheit.de des Verbraucherzentrale Bundesverbands 40 Verbraucherinformation und Täuschungsschutz 44 Dr. Bettina Hartwig Maßnahmen von Bund und Ländern zur Verbraucherinformation 46 Dr. Marcus Girnau Aktivitäten und Erfahrungen der Wirtschaft 50 Dr. Günter Hörmann Aktivitäten und Erfahrungen der Verbraucherverbände 58 Hubertus Primus Der Einfluss von Testorganisationen auf Markttransparenz und Produktqualität am Beispiel der Stiftung Warentest 62 Wettbewerbsrechtlicher Rahmen 68 Prof. Dr. Karl-Nikolaus Peifer Täuschungsschutz im Wettbewerbsrecht Aktuelle Entwicklungen 70 Prof. Dr. Olaf Sosnitza Möglichkeiten und Grenzen der Wettbewerbskontrolle von Unternehmen durch freiwillige Maßnahmen 80

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 5 Lebensmittelrechtlicher Rahmen 86 Dr. Kurt-Dietrich Rathke Das Irreführungsverbot im Lebensmittelrecht 88 Dr. Christoph Meyer Kennzeichnungsvorschriften und ihre Bedeutung für den Täuschungsschutz 94 Dr. Birgit Rehlender Die Leitsätze des Deutschen Lebensmittelbuches als wichtige Orientierungshilfe 100 Lebensmittelüberwachung und Rechtsprechung 104 Prof. Dr. Manfred Edelhäuser Erfahrungen der Lebensmittelüberwachung im Bereich Irreführung und Täuschung 106 Dr. Christina Rempe Rechtsprechung im Bereich Irreführung und Täuschung 120 Prof. Dr. Joachim Bornkamm Das Verbraucherleitbild im europäischen und deutschen Recht 128 Lösungsansätze für die Verbesserung des Täuschungsschutzes 134 Podiumsdiskussion Gerd Billen 136 Prof. Dr. Matthias Horst 138 Dr. Volker Kregel 140 Bernhard Kühnle 142 Lebensläufe der Autorinnen und Autoren sowie des Moderators 144

6 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 7 Grußwort von Bundesministerin Ilse Aigner Die verbraucherpolitische Leitlinie der Bundesregierung zielt neben dem Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher auf ihre Selbstbestimmung. Bürgerinnen und Bürger sollen in die Lage versetzt werden, eigenverantwortlich auf den Märkten agieren zu können. Dafür benötigen sie allerdings klare und verständliche Informationen. Es sind insbesondere die Anbieter in der Pflicht, diese Informationen bereit zu stellen und für eine ausreichende Transparenz zu sorgen. So sollte stets das Motto gelten: Was drin ist, muss auch draufstehen. Mehr Transparenz schafft Vertrauen und kommt auf diese Weise auch den Unternehmen zugute. Wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher glaubwürdige und zutreffende Informationen erhalten, entwickeln sie nachhaltig Vertrauen in Produkte und Märkte. Transparenz ist daher eine zentrale Forderung unserer Verbraucherpolitik. Ich setze mich für klare Regeln, eine angemessene Kennzeichnung und Information sowie eine effektive Rechtsdurchsetzung ein. Im Lebensmittelbereich stellen wir in Bezug auf die Verbraucherinformation noch Defizite fest. Eine erhebliche Zahl von Verbraucherinnen und Verbrauchern empfindet die Aufmachung und Kennzeichnung von Lebensmitteln als unklar und intransparent. Für großen Unmut sorgen zum Beispiel folgende Marketingpraktiken: I. Transparenz schafft Vertrauen Y Hähnchenbrustfilet ist abgebildet, aber Formfleisch verbirgt sich dahinter. Y Ohne Zusatzstoff Geschmacksverstärker steht drauf, aber Hefeextrakt ist wegen seiner geschmacksverstärkenden Wirkung drin. Diese und ähnliche Angebote enttäuschen die Erwartungen vieler Verbraucherinnen und Verbraucher. Das schließe ich aus Umfragen, Medienberichten und aus zahlreichen Bürgerbeschwerden, die mich erreichen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Eine einfache Lösung wird es daher nicht geben. Eines steht jedoch aus meiner Sicht fest: Wir brauchen Y mehr Verbraucheraufklärung und Y mehr Transparenz auf dem Lebensmittelmarkt. Es ist wichtig für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die mit angemessenem Aufwand kompetente Kaufentscheidungen treffen wollen. Es ist wichtig für die Unternehmen, die auf Vertrauen in ihre Lebensmittel angewiesen sind. Und es ist wichtig für die Politik, die um die Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger weiß. Mit meiner Initiative Klarheit und Wahrheit bei der Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln möchte ich meinen Beitrag zu Information und Transparenz leisten. Y Große Früchte erscheinen auf der Verpackung aber nicht im Produkt. Y Der Name einer Region schmückt die Verpackung aber die verarbeiteten Rohstoffe sind nicht von dort. Ein Baustein dieser Initiative ist die heutige Fachtagung. Es freut mich, dass es gelungen ist, Sie als Vertreterinnen und Vertreter der Verbraucherschaft, der Unternehmen sowie der Rechtsprechung, der Politik und der Verwaltung heute hier zusammenzubringen. Auf den Austausch der verschiedenen Perspektiven bin ich sehr gespannt. Ich begrüße Sie herzlich!

8 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln II. Wir brauchen eine konstruktive Debatte Rund 170 000 Lebensmittel und Getränke stehen in den Regalen der deutschen Supermärkte. Vielfalt und Verfügbarkeit sind beeindruckend. Das ist das Verdienst unserer Land- und Ernährungswirtschaft. Hier bin ich mit Worten des Lobes überhaupt nicht zurückhaltend. Denn auch im Hinblick auf Klarheit und Wahrheit wird die große Zahl der Unternehmen den Ansprüchen gerecht. Deshalb ist eine Skandalisierung auch nicht angebracht. Manche Medien haben Freude an Aufregung ebenso wie manche Kolleginnen und Kollegen aus der Politik und weiterer Kreise auch. Doch der Sache ist das nicht förderlich. Ich höre viele Forderungen, die bei näherer Betrachtung vollkommen unrealistisch sind und die nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand umzusetzen wären. Aber man kann sie nicht einfach so abtun, denn sie verunsichern die Verbraucherinnen und Verbraucher. Zugleich müssen wir es ernst nehmen, wenn Verbraucherorganisationen beklagen, dass Lebensmittelhersteller mit trickreichen Aufmachungen Verbraucher bewusst in die Irre leiten und damit Etikettenschwindel betreiben. Ich denke, man kann festhalten: Die Vorstellungen von Unternehmen und Verbrauchern darüber, welche Aufmachung und Kennzeichnung von Lebensmitteln verständlich ist, liegen in einigen Bereichen weit auseinander. Die Verbraucher wissen offenbar in vielen Fällen nicht, was sich hinter bestimmten Produktgestaltungen verbirgt. Umgekehrt ist den Unternehmen oftmals nicht bekannt oder bewusst, wo sich Verbraucher durch die Aufmachung und Kennzeichnung von Produkten getäuscht fühlen. Es mag sein, dass ein Teil der Täuschungsvorwürfe nicht gerechtfertigt ist. Und es mag sein, dass es sich bei den Unternehmen, die diesen Vorwürfen ausgesetzt sind, tatsächlich um schwarze Schafe handelt. Aber wir dürfen nicht die Augen vor etwas verschließen, das die Menschen umtreibt. Hinweise wie Wer die Verpackung gründlich studiert, der wird auch nicht getäuscht helfen uns nicht weiter. Und es reicht auch nicht aus, das Problem klein zu reden oder gar mit dem Finger auf andere zu zeigen. Im Gegenteil: Wir müssen den Ärger und die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Die logische Folge daraus ist, dass wir Antworten auf die drängenden Fragen geben: Wie können wir zu einer konstruktiven Debatte kommen? Wie können wir gemeinsam daran arbeiten, das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher wiederherzustellen? Hier sind alle gefordert: Y die Lebensmittelunternehmer, Y die Verbraucherverbände, Y die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission, Y die Lebensmittelüberwachung und nicht zuletzt Y der Gesetzgeber. Bloße Polemik werden Sie bei mir nicht finden. Ich bin eine Anhängerin der konstruktiven Debatte. Und deshalb habe ich das Ziel benannt, Y auf allen Ebenen die bisherigen Regelungen und Vorgehensweisen auf den Prüfstand zu stellen, Y Daten über die aktuelle Verbraucherwahrnehmung zu sammeln und Y auf dieser Grundlage den Täuschungsschutz zu verbessern.

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 9 III. Das Portal www.lebensmittelklarheit.de schafft Transparenz Ein wichtiges Element meiner Initiative ist die Förderung des Internetportals www.lebensmittelklarheit. de. Dieses Portal wird vom Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) zusammen mit der Verbraucherzentrale Hessen betrieben. Der vzbv hat mit dem Portal einen neuartigen Dialog zwischen Verbrauchern und Wirtschaft erprobt. Das Konzept dahinter ist klar: Der Informationsbereich und der öffentliche Meinungsaustausch über die Gestaltung der Produkte sorgen für Verbraucheraufklärung und mehr Transparenz auf dem Lebensmittelmarkt. Erstmals werden Verbraucherbeschwerden zu Täuschungsfragen durch eine bundesweite Anlaufstelle zentral gesammelt und ausgewertet. Darüber hinaus werden repräsentative Verbraucherbefragungen durchgeführt, so dass wir insgesamt ein aussagekräftiges Bild über die Erwartungen der Verbraucher erhalten werden. Das Portal ist sachlich gehalten, informativ für die Verbraucher und in seinem Verfahren auch fair gegenüber den Unternehmen. Ich weise darauf hin, dass bei weitem nicht alle Produkte in das Portal eingestellt werden, die von den Nutzern gemeldet werden. Die Redaktion prüft gründlich, ob sie den Schritt der Veröffentlichung geht. Dass dabei nicht jede Produktnennung unumstritten ist, liegt in der Natur der Sache. Erste Ergebnisse des Projektes werden im Rahmen dieser Tagung vorgestellt. Daher nehme ich hoffentlich nicht allzu viel vorweg, wenn ich sage: Die bis November 2012 mehr als 5 600 Produktmeldungen sind ein deutlicher Fingerzeig. Sie spiegeln den großen Diskussions- und Informationsbedarf zu diesem Thema wider. 270 dieser Produktmeldungen wurden in das Portal eingestellt und lassen auf weiteren Handlungsbedarf auf verschiedenen Ebenen schließen. Etwa 90 Prozent der Anbieter reagieren auf die Bitte um Stellungnahme durch die Internetredaktion, und rund 30 Prozent der Produkte im Portal wurden geändert. Für das Portal sprechen: Y die breite und positive Resonanz der Verbraucherinnen und Verbraucher, Y die zunächst zaghaften, aber dann doch konstruktiven Rückmeldungen aus der Wirtschaft und Y die ersten Ergebnisse der Begleitforschung. Das Projekt war und ist notwendig und sinnvoll. Ob und unter welchen Bedingungen die Förderung eines Nachfolgeprojekts durch das BMELV stattfindet, ist Gegenstand von Gesprächen zwischen meinem Haus und dem vzbv. Aktueller Hinweis: Das Internetportal www.lebensmittelklarheit.de wird weiter gefördert. Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat im Dezember 2012 den Projektantrag für ein Nachfolgeprojekt Lebensmittelklarheit 2.0 inklusive Begleitforschung eingereicht. Das BMELV hat den Antrag genehmigt. Das Projekt wird vom 1.1.2013 bis zum 31.12.2014 durch das BMELV gefördert. IV. Deutsche Lebensmittelbuch- Kommission wird evaluiert Neben dem Dialogforum von www.lebensmittelklarheit.de betrifft ein weiterer wichtiger Baustein meiner Initiative das Deutsche Lebensmittelbuch. Die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission ist in diesem Jahr 50 Jahre alt geworden. Die Vorsitzende und viele Mitglieder der Deutschen Lebensmittelbuch- Kommission sind heute hier anwesend. Ihnen danke ich ausdrücklich für ihre ehrenamtliche Mitarbeit in diesem Gremium. Genauso wie ich den zahlreichen Sachverständigen für ihre Arbeit in der Kommission danke. Schließlich sind die Leitsätze des Deutschen Lebensmittelbuches eine wichtige Orientierungshilfe für die Unternehmen, die Lebensmittelüberwachung und die Gerichte.

10 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Um diesem hohen Anspruch auch in der Zukunft gerecht zu werden, muss die Aktualität der Leitsätze gewährleistet sein. Das ist eine besondere Herausforderung. Denn Verkehrsauffassungen sind nicht statisch, sie können sich mit der Zeit wandeln. Der Wandel der Verbrauchererwartungen hat dazu geführt, dass mehrere Leitsätze gegenwärtig in der Kritik stehen. Dieser Kritik verschließe ich mich nicht: ich kann sie zum Teil sehr wohl nachvollziehen. Deshalb hat mein Haus im Rahmen der Initiative Klarheit und Wahrheit angeregt, sukzessive alle Leitsätze zu überprüfen und zwar auf eine hinreichend klare Beschreibung der Aufmachung, insbesondere auf eine angemessene bildliche Darstellung von Zutaten. Wenn notwendig, sollten entsprechende Ergänzungen vorgenommen werden. Das Präsidium der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission hat diese Anregung aufgegriffen und alle Fachausschüsse damit beauftragt. Erste Ergebnisse liegen erfreulicherweise bereits vor. Die Kommission hat sich nicht auf allgemeine, übergreifende Aussagen zu Aufmachung und bildlicher Darstellung im Rahmen eines horizontalen Ansatzes verständigen können. Das sage ich offen und ehrlich ist bedauerlich. Nicht nur die Leitsätze, auch die Struktur und die Organisation der Deutschen Lebensmittelbuch- Kommission selbst müssen vor dem Hintergrund der geänderten Rahmenbedingungen auf den Prüfstand gestellt werden. Es soll eine ergebnisoffene Evaluierung geben. Diese Prüfung wird systematisch und gründlich erfolgen. Alle betroffenen Kreise werden die Möglichkeit erhalten, sich in die Diskussion einzubringen. V. Fachtagung bietet fachübergreifende Plattform Auch von der heutigen Fachtagung, als weiterem Baustein der Initiative, verspreche ich mir neue Impulse. Mit dieser Veranstaltung bieten wir erstmalig eine Plattform für den Wissens- und Erfahrungsaustausch über Irreführung und Täuschung bei Lebensmitteln. Sie soll zum einen die juristischen Fragen dieser Thematik beleuchten. Sie ist aber auch bewusst fachübergreifend angelegt. Das heißt: Wir wollen den Transfer von neuen Erkenntnissen über die Verbraucherwahrnehmung und das Konsumverhalten hinein in die Wirtschaft, die Lebensmittelüberwachung, die Rechtswissenschaft und die Rechtspraxis fördern. Die große Resonanz, die diese Tagung im Vorfeld in der Fachwelt erfahren hat, hat mich sehr gefreut. Rund 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Bereichen Verwaltung, Justiz, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Verbraucherorganisationen nehmen heute teil. Das zeigt uns den großen Bedarf an einem Austausch. Ich begrüße insbesondere die österreichischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die derzeit im Kontakt mit meinem Haus stehen. Auch die österreichische Regierung fördert mit www.lebensmittelcheck.at ein vergleichbares Internetportal, so dass wir ganz sicher die eine oder andere Parallele ziehen können. Miteinander reden heißt hier auch voneinander lernen. Mit der Initiative Klarheit und Wahrheit sind wir neue Wege gegangen. Sie waren nicht immer unumstritten. Doch die Richtung stimmt. Mir ist die Transparenz auf dem Lebensmittelmarkt eine echte Herzensangelegenheit. Deshalb lautet mein Appell an Sie:

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 11 Stellen Sie sich die Frage, wo Sie in Ihrem Zuständigkeitsbereich noch besser werden können! Ziel meiner Verbraucherpolitik ist es auch, erschüttertes Vertrauen zurückzugewinnen. Das kommt nicht nur den Verbraucherinnen und Verbrauchern zugute. Davon profitieren auch diejenigen Unternehmen, die auf einen fairen Wettbewerb setzen. Ich wünsche Ihnen erkenntnisreiche Stunden, bereichernde Denkansätze und hilfreiche Kontakte!

12 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Wirtschaftlicher Rahmen und das Verhalten der Marktteilnehmer

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 13

14 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Prof. Dr. Achim Spiller* Georg-August-Universität Göttingen Wettbewerbsstrategien, Verbraucherverunsicherung und Funktionsfähigkeit des Qualitätswettbewerbs auf dem deutschen Lebensmittelmarkt: Empirische Ergebnisse I Einleitung Die Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Qualitätswettbewerb auf dem Lebensmittelmarkt scheinen auf den ersten Blick ideal: Lebensmittelqualität umfasst viele verschiedene Aspekte und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Produktdifferenzierung. Auf der Nachfrageseite rücken Ernährungshandeln und Nahrungsmittelproduktion verstärkt in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Das Segment der qualitätsbewussten Käufer wächst aktuellen Studien zufolge (Nestlé, 2011; Nestlé, 2012). Gleichzeitig beklagen viele Marktbeteiligte eine starke Preisorientierung deutscher Verbraucher, die nur wenig Spielraum für die Entwicklung neuer Marktsegmente (z. B. Fleisch aus tiergerechter Haltung) lasse. Der folgende Beitrag geht diesem scheinbaren Widerspruch nach und skizziert auf Basis einer umfangreichen Verbraucherbefragung Überlegungen zur Fortentwicklung der Kennzeichnungsregulierung im Lebensmittelmarkt. Die Verkehrserwartungen bei verschiedenen kontrovers diskutierten Kennzeichnungsbeispielen zeigen eine hohe Irreführungsgefahr und bestätigen damit auf Produktebene allgemeine Studien, die auf ein geringes Vertrauen deutscher Verbraucherinnen und Verbraucher in die Lebensmittelinformation hinweisen. Dieses Misstrauen trägt in einer Branche, die ohnehin durch einen harten Preis- wettbewerb gekennzeichnet ist, zur geringen Durchsetzung von Qualitätssegmenten bei. Im Ergebnis lassen sich Indizien für ein qualitätsbedingtes Marktversagen aufzeigen und die Preisorientierung der Konsumenten (auch) durch einen Mangel an verlässlichen Qualitätsinformationen erklären. II Wettbewerbsstrategische Ausgangslage: Dominanz des Preiswettbewerbs Der deutsche Lebensmittelmarkt ist eine ausgesprochen wettbewerbsintensive Branche mit hohem Preisdruck. Als Indiz dafür gilt der stark wachsende und auch im internationalen Vergleich ausgesprochen hohe Anteil von Discountern und Handelsmarken (Rudolph/Schweizer, 2006). Während in vielen anderen europäischen Ländern eher die großflächigen SB-Warenhäuser wie Tesco in Großbritannien oder Carrefour in Frankreich dominieren, hat sich in Deutschland das Discountkonzept mit dem Fokus auf ein enges und flaches Sortiment schnelldrehender und preisgünstig angebotener Artikel durchgesetzt (A.C. Nielsen, 2008). Im Lebensmitteleinzelhandel wird fast 45 % des Umsatzes bei den Discountern getätigt (GfK, 2012). * Co-Autorin der Studie ist Dr. Anke Zühlsdorf, Agrifood Consulting Göttingen

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 15 Bis in die 1980er Jahre galten die Discounter als Billiganbieter, die ausschließlich preisorientierte Käufersegmente ansprechen und deren Handelsmarken ein vergleichsweise geringes Qualitätsniveau aufweisen (Fritz/Lang, 2008). Heute haben die Discounter ein überzeugendes Qualitätsimage aufgebaut. Rund 65 % der Verbraucher sind derzeit nicht mehr davon überzeugt, dass Markenartikel gegenüber Handelsmarken einen Vorteil haben (Faehling, 2009). In einer eigenen Studie (Böhm et al., 2011) haben wir die Qualitätsposition der Handelsmarken der Discounter im Vergleich zu Markenartikeln auf Basis der Testergebnisse der Stiftung Warentest verglichen. Alle 69 Lebensmitteltests der Stiftung Warentest aus den Heften 01/2000 bis 04/2010 wurden in einer Datenbank zusammengefasst und statistisch analysiert. In einem ersten Schritt wurden die Preise auf Basis eines Preisindex verglichen. Der Preisindex eines jeden Produktes basiert auf der Abweichung des Produktpreises vom Durchschnittspreis (Median) des jeweiligen Produkttests. Im Vergleich zum Durchschnitt aller Produkte (=100 %) liegen die untersuchten Handelsmarken bei 78 % und die vergleichbaren Herstellermarken bei 148 %. Damit kosten bei genau gleicher Qualität (s. u.) die Handelsmarken nur die Hälfte. Im Gesamturteil schneiden die Handelsmarken der Discounter mit einem durchschnittlich befriedigenden Gesamturteil von 3,03 genauso gut wie die Herstellermarken ab (vgl. Tabelle 1). Grundbedingungen für das gute Abschneiden bei den Tests sind Basiskriterien wie Schadstoff- und Keimbelastung sowie Verpackung und Deklaration. Bei den Teilurteilen für Deklaration und Verpackung können sich die Handelsmarken sogar profilieren und die Anforderungen der Stiftung Warentest, die hier im Wesentlichen die gesetzlichen Vorgaben abprüft, besser erfüllen als die Herstellermarken (s. Tabelle 1). Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass die Verbraucher den Preis von Artikeln nicht als Qualitätsindikator heranziehen können. Im Gegenteil: Die Auswertung zeigt insgesamt eine leichte, aber signifikante negative Korrelation zwischen Preis und Qualität. Mit steigendem Preis von Lebensmitteln sinkt die Wahrscheinlichkeit, ein von der Stiftung Warentest gut bewertetes Produkt zu erhalten. Zumindest im Hinblick auf die von der Stiftung Warentest getesteten Basisqualitäten ist eine starke Preisorientierung der Konsumenten daher rational. Offensichtlich funktioniert der Markt hier. Der Preisdruck im Markt ist hoch und gibt den Konsumenten die Möglichkeit, preisbewusst und sicher einzukaufen. Allerdings erweitern sich die Präferenzen der Verbraucherinnen und Verbraucher in den letzten Jahren deutlich. Immer mehr interessiert heute z. B., wie Nahrungsmittel angebaut oder landwirtschaftliche Nutztiere gehalten werden, welche Zutaten bei der Verarbeitung eingesetzt werden und woher diese stammen. Solche komplexeren Qualitätsattribute haben für die Lebensmittelvermarktung deutlich an Bedeutung gewonnen (BLL, 2008; BVE, 2011). Im Zuge eines nachhaltigen Konsums geht es um Klimawirkungen, Biodiversität, Naturschutz u. ä. Attribute (Zander/Hamm, 2010; Rat für Nachhaltige Entwicklung 2012), die am Endprodukt nicht mehr überprüft Tab. 1: Ergebnisse von Hersteller- und Handelsmarken in den Produkttests der Stiftung Warentest von 2000 2010 (*p 0,05) 1 Gesamturteil Preisindex Schadstoffgehalt Mikrobiologische Qualität Verpackung Deklaration Sensorische Expertenurteile Herstellermarken Handelsmarken (Discounter) 3,03 148 1,73 1,82 2,43* 3,14* 2,68 3,03 78 % 1,65 1,81 2,33* 2,99* 2,74 Gesamt 3,03 129 % 1,71 1,82 2,40 3,10 2,70 1 Die sonstigen Marken werden hier nicht dargestellt. Daher entspricht der gesamte Preisindex nicht 100 %.

16 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Abb. 1: Qualitätseigenschaften von Lebensmitteln nach Graden der Informationsasymmetrie Sucheigenschaften Erfahrungseigenschaften Vertrauenseigenschaften Eigenschaften durch Inspektion vor dem Kauf überprüfbar, z. B. Preis, Frische von Obst und Gemüse Setzt teilweise Produktwissen der Kunden voraus Suchindikatoren können technologisch relativ leicht manipuliert werden (z. B. durch Farbstoffe) Beim Verbrauch zeigt sich die tatsächliche Qualität, z. B. Geschmack, Einfachheit der Zubereitung Verbraucher als "Prosument" Grenzen der sensorischen Fähigkeiten des Menschen Substitution von Qualitätselementen durch Zusatzstoffe und Technologien Verborgene Eigenschaften, die am Endprodukt noch nachgeprüft werden können Informationskosten einer Kontrolle der zugesicherten Eigenschaften für einzelne Käufer sind zu hoch, z. B. Schadstoffgehalt von Lebensmitteln Drittinstitutionen können das Endprodukt prüfen Ergebnisse der Prüfungen müssen durch Medien kommuniziert werden Potemkinsche Eigenschaften Prozessqualitäten, die am Endprodukt nicht mehr nachkontrolliert werden können, z. B. artgerechte Tierhaltung oder der Nachweis des ökologischen Anbaus, Herkunft, Fair Trade Label zur Kennzeichnung notwendig Überwachung durch Zertifizierungssysteme mit unabhängigen Kontrollen durch neutralen Prüfer (Zertifizierer) nötig zunehmende Informationsasymmetrie Quelle: Zühlsdorf/Spiller, 2012 werden können und die daher ein hohes Vertrauen im Markt voraussetzen. Aus informationsökonomischer Sicht droht insbesondere bei Vertrauens- und Potemkingütern ein qualitätsbedingtes Marktversagen, bei dem leistungsstarke Anbieter sukzessive aus dem Markt gedrängt werden (Albersmeier et al., 2009) besonders dann, wenn Produktkennzeichnungen nicht verlässlich sind. Aus markttheoretischer Sicht sollte ein funktionsfähiger Wettbewerb beides ermöglichen: preisgünstige, sichere Standardprodukte für die Gruppe der preisbewussten Konsumenten auf der einen und ausdifferenzierte Qualitätsangebote, die spezifischen Präferenzen gerecht werden, auf der anderen Seite. Die letztgenannte Zielsetzung des Qualitätswettbewerbs kann dann beeinträchtigt sein, wenn Verbraucherinnen ein geringes Vertrauen in die Lebensmittelkennzeichnung haben. Eine Vielzahl aktueller Studien zeigt, dass Konsumentinnen und Konsumenten dem Produktangebot der Lebensmittelindustrie misstrauisch gegenüber stehen (Böhm et al., 2009; Spiller, 2011; Nestlé, 2012). Dies trifft insbesondere auf Qualitätsmerkmale zu, die vom einzelnen Verbraucher nicht überprüft werden können (Akerlof, 1970). III Verbrauchererwartungen an Produktkennzeichnungen 1. Studiendesign Die vorliegende Studie wurde in Zusammenarbeit mit den Verbraucherzentralen als Online-Befragung im November 2011 durchgeführt (Zühlsdorf/Spiller, 2012a). Anhand ausgewählter Praxisbeispiele wurde untersucht, inwieweit die Aufmachung von Lebensmitteln bei Verbrauchern Missverständnisse über die tatsächliche Produktbeschaffenheit auslöst. Inhaltlich wurden verschiedene aktuelle Themenfelder wie Clean Labelling, Auslobung von Zutaten, Regionalität sowie ursprünglicher Produktion, die in der öffentlichen Kritik stehen, untersucht. Befragt wurden 750 Konsumentinnen und Konsumenten, die auf Basis eines Quota-Sampling nach den Kriterien Alter, Geschlecht und Region ausgewählt wurden.

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 17 Tab. 2: Studiendesign Stichprobenmerkmale Stichprobengröße n = 750 Auswahlverfahren bundesweite Erhebung von Verbrauchern ab 18 Jahren Rekrutierung durch ein Online-Access-Panel Quotenvorgabe von Alter, Geschlecht, Region (repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt) Befragungszeitraum November 2011 Alter Geschlecht Familiensituation Einkommen Bildung Einkaufserfahrung Durchschnittsalter: 49 Jahre (Teilnehmer im Alter zwischen 18 u. 84 Jahren) 50,5 % Frauen, 49,5 % Männer 24,1 % leben mit Kind(ern), 25,6 % Singles, 38,8 % Paare 25,6 % der Befragten verfügen über ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von 3.000 und mehr. 26,9 % haben weniger als 1.500 monatlich zur Verfügung. 54,2 % der Befragten haben Abitur. 91 % der Befragten kaufen selber häufig Lebensmittel ein. Stichprobengröße n = 750 Quelle: Eigene Erhebung 2. Verbraucherwahrnehmung der Produktkennzeichnung: Empirische Evidenz a) Generelle Werbeskepsis Die Befragung stieß bei den Konsumentinnen und Konsumenten auf ein hohes Interesse. In einer ungewöhnlichen Vielzahl offener Kommentare betonten die Probanden die Relevanz des Themas. Mehr als 40 % der Verbraucher ärgern sich häufig oder sehr häufig über Werbeversprechen auf Lebensmittelverpackungen. Nur 1,3 % der Befragten haben sich noch nie darüber geärgert, dass auf einer Verpackung mehr versprochen wurde, als das Produkt halten konnte. Werbung wird nicht grundsätzlich abgelehnt. Nur ein Viertel der Befragten traut Angaben auf der Verpackung gar nicht, mehr als die Hälfte nutzt Werbung, um über Marktneuheiten auf dem Laufenden zu bleiben. Konsumenten schätzen werbliche Produktinformationen aber gut drei Viertel sind dabei verunsichert und gehen davon aus, dass Lebensmittel auf der Verpackung oft besser dargestellt werden, als sie es sind.

18 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Abb. 2: Einstellung gegenüber Lebensmittelwerbung Auf der Verpackung werden Lebensmittel oft besser dargestellt, als sie in Wirklichkeit sind. 42,2 34,6 Die beworbenen Produkte sind längst nicht so gut, wie in der Werbung behauptet wird. 33,2 16,4 Werbung hält mich über Neues auf dem Laufenden. 37,9 12,6 Ich habe schon häufig in der Werbung Lebensmittel entdeckt, die ich dann auch gekauft habe. 33,1 12,1 Bei Lebensmitteln traue ich den Angaben auf der Verpackung nicht. 20,5 6,2 Werbung erleichtert mir das Einkaufen. 16,8 5,1 Die Werbung gibt mir nützliche Hinweise über die Qualität der Produkte. 15,1 3,5 Stimme zu Stimme voll und ganz zu ( Lebensmittel werden häufig beworben. Welche Bedeutung haben die Werbeaussagen der Hersteller für Ihre Einkaufsentscheidung? Angaben in % aller Antworten) b) Interesse an Vertrauenseigenschaften Der relativ skeptischen Einstellung zu den Informationen auf der Verpackung steht ein großes Interesse hinsichtlich der verschiedenen Vertrauenseigenschaften gegenüber. Abb. 3: Informationsinteressen der Verbraucher Angaben zur gesundheitlichen Wirkung von bestimmten Inhaltsstoffen (z. B. Vitamine, Cholesterin, Laktose, Gluten,...). 49,2 29,2 Informationen über den Herstellungsprozess des Produktes (z. B. biologische Erzeugung, Tierschutz,...). 53,0 28,5 Informationen über den Nährwert (z. B. Kalorienzahl, Anteil von Zucker, Fett,...). 42,9 40,8 Informationen über die Herkunft des Lebensmittels (z. B. Herstellungsort, Herkunft der Zutaten). 53,6 32,2 Informationen darüber, welche Zutaten für das Produkt verwendet wurden (z. B. Obstsorte, Gewürze, Konservierungsstoffe, ) 52,3 39,4 Interessiert mich Interessiert mich besonders ( Bitte geben Sie an, wie wichtig Ihnen aussagekräftige Informationen über die folgenden Bereiche sind. Angaben in % aller Antworten)

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 19 Diese Ergebnisse veranschaulichen die Herausforderungen, vor denen die Lebensmittelbranche steht: In der Gesellschaft hat die Verunsicherung gegenüber industriell erzeugten Lebensmitteln zugenommen und Herstellerinformationen werden tendenziell skeptisch beurteilt. Gleichzeitig ist das Verbraucherinteresse an konkreten Produktinformationen über die Zusammensetzung und Produktionsbedingungen angestiegen. Damit rücken die verschiedenen Formen der Produktkennzeichnung in den Fokus des Interesses und es stellt sich die Frage, inwieweit Lebensmittelkennzeichnung und Produktaufmachung heute die Konsumentenanforderungen an eine sachgerechte Information erfüllen können. c) Beurteilung von Kennzeichnungsbeispielen In der vorliegenden Studie wurde diese Fragestellung für verschiedene Fallgruppen mit einem eigens entwickelten, innovativen Befragungsdesign untersucht. Hierbei wurde den Befragten in polarisierter und neutraler Form das Pro und Contra typischer Kennzeichnungen vorgestellt und so die Verständlichkeit realer Kennzeichungsoptionen ermittelt. Die Beispiele wurden mit folgendem Text eingeleitet: Aus Herstellersicht ist es nicht einfach, die Produkteigenschaften knapp und deutlich darzustellen, und manche Begriffe werden von den Verbrauchern unterschiedlich verstanden. In den weiteren Fragen geht es um konkrete Kennzeichnungsbeispiele aus der Praxis. Bitte lesen Sie sich die jeweiligen Hintergrundinformationen und Pro- und Contra-Argumente durch, bevor Sie Ihre eigene Einschätzung dazu abgeben. Alle Beispiele wurden durch Bilder der Produkte und der Zutatenliste illustriert. Mit der Pro- und Contra-Argumentation wurden insgesamt 11 Produktbeispiele bewertet. Der Anteil der Verbraucher, die sich getäuscht fühlen, liegt zwischen 39 % und 72 % (vgl. Abb. 4). Abbildung 4 zeigt auch, dass die Verbraucher deutlich differenzieren. Hefeextrakt wird z. B. kritisch betrachtet und von relativ vielen Konsumenten als nicht vereinbar mit der Auslobung ohne Geschmacksverstärker gesehen. Die Färbung mit Karottensaft wird dagegen vergleichsweise positiv bewertet und steht weniger im Widerspruch zur Kennzeichnung ohne Farbstoffe. Dieser Unterschied von rund 25 % in der Bewertung ist erstaunlich, wird doch in beiden Fällen die Sensorik des Produktes beeinflusst. Über die Gründe für die deutlich abweichende Bewertung können nur vorsichtige Hypothesen formuliert werden: Möglicherweise nehmen die Konsumenten einen Eingriff in den Geschmack als Abb. 4: Einordnung der Fallgruppen in weitere untersuchte Kennzeichnungen Dt. Käse in griechischer Aufmachung Hähnchenbrust-Formfleisch "Weidemilch" ohne spezifische Kriterien 44,2 40,9 48,4 27,5 27,8 19,5 "Ohne Geschmacksverstärker", aber Hefeextrakt Namensgebende Frucht in Saft kaum enthalten 36,8 41,0 27,1 18,6 Reis, vermarktet als norddeutsches Produkt "Sahneecken" mit Butter ohne Sahne "Natursüß", aber zugesetzter Fruchtzucker G.g.A., Rohstoff nicht aus der Region "Original seit...", trotz Produktmodifikation "Ohne Farbstoffe", aber mit Karottensaft gefärbt 34,0 35,2 31,1 31,6 30,9 26,4 19,6 14,1 15,8 15,1 11,7 13,0 Fühle mich getäuscht Fühle mich auf jeden Fall getäuscht

20 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln weitreichender wahr als eine Veränderung der Farbe (Cark, 1998). Zudem ist der Begriff Hefeextrakt semantisch nahe an chemischen Stoffen und kann Angst vor unbekannten Zutaten auslösen, während Karottensaft ein (als gesund positioniertes) Naturprodukt darstellt. Angesichts des geringen Hintergrundwissens vieler Verbraucher können solche Assoziationsketten ausschlaggebend sein. Auf der anderen Seite ist festzuhalten, dass auch bei einem erkennbar harmlosen Farbstoff wie Karottensaft sich rund 40 % der Konsumenten durch die Auslobung ohne Farbstoffe getäuscht sehen. Es ist also nicht nur die wahrgenommene Gesundheitsgefahr durch Zusatzstoffe, sondern auch zumindest bei einem Teil der Verbraucher das Beharren auf einer eindeutigen, am alltäglichen Begriffsverständnis orientierten Produktidentität, die zu der Ablehnung führt. Das Fallbeispiel ohne Farbstoffe steht auch exemplarisch für die Schwierigkeiten, die Verbraucher heute bei der visuellen Qualitätsbewertung von Lebensmitteln haben. Während Konsumentinnen bei vielen Lebensmitteln früher von der Farbe auf die Qualitätseigenschaften eines Lebensmittels schließen konnten, machen es Food-Technologien heute möglich, einem verarbeiteten Produkt praktisch jede beliebige Farbe zu geben. Farbstoffe können beachtliche Werbewirkung erzielen, sind aber nach den Ergebnissen vieler empirischer Untersuchungen bei Verbrauchern unbeliebt, weil sie z. T. als ungesund wahrgenommen werden und/oder als überflüssig gelten. Im Zuge des Trends zum Clean Labelling loben daher heute viele Produzenten den Verzicht auf den Einsatz von Farbstoffen aus. Anstelle von Farbstoffen werden dann z. T. färbende Lebensmittelzutaten eingesetzt, die im Sinne des Kennzeichnungsrechts nicht als Farbstoffe gelten, dem Produkt aber allein zur optischen Aufbereitung zugefügt werden. Als Indikator des Fruchtgehalts eines Produktes ist die Farbe damit kein zuverlässiges Kriterium mehr. Die Befragungsergebnisse zeigen insgesamt, dass viele Konsumenten den Kommunikationsstrategien der Ernährungsbranche und der Lebensmittelkennzeichnung verunsichert gegenüber stehen (Micklitz et al., 2010). Gleichzeitig gewinnen Vertrauenseigenschaften wie Zusatzstoffeinsatz, Tierwohl, Nachhaltigkeit usf. zunehmend an Relevanz. Vor dem Hintergrund eines sinkenden Verbrauchervertrauens in die Ernährungswirtschaft ist es deshalb für die Funktionsfähigkeit von Märkten wichtig, dass sich verlässliche Informationen im Wettbewerb um die begrenzte Aufmerksamkeit der Konsumenten durchsetzen können. Nur dann, wenn glaubwürdige Werbeaussagen, Label und Produktkennzeichen sich im Markt gegen den schönen Schein von inhaltsleeren Bildern, überzogenen Aussagen und Scheindifferenzierungen behaupten, hat der Leistungswettbewerb eine Chance. Es ist aber unmittelbar einsichtig, dass Good Governance in diesem Feld komplex ist: Der Lebensmittelmarkt ist extrem ausdifferenziert, die Zahl der Neuprodukte wie der Flops hoch, der Preiswettbewerb sehr ausgeprägt. IV Case Study Weidemilch In Abbildung 4 wird ersichtlich, dass das Vermarktungsbeispiel Weidemilch als Fallgruppe mit hohem Irreführungspotenzial wahrgenommen wird. Zum Hintergrund: Der zunehmende Grünlandumbruch in der Landwirtschaft gilt aus Klima- und Naturschutzgründen als problematisch. Während früher Milchkühe in den Sommermonaten Weidegang hatten und damit das Grünland direkt nutzten, finden sich heute verstärkt ganzjährige Stallhaltungen mit der Verfütterung von Silage und Kraftfutter. Der Anteil der Weidehaltung in der Landwirtschaft geht zurück. Bei großen Milchviehbetrieben ist der Weidegang arbeitswirtschaftlich schwierig (Melkaufwand, räumliche Entfernung zur Weide) und sinkt deshalb. So beträgt er bei Betrieben mit 100 und mehr Kühen derzeit nur noch 33 %. Bei Betrieben mit 50-99 Kühen liegt der Anteil der Weidehaltung bei 51 %, bei Milchviehbetrieben mit weniger als 50 Kühen beträgt er 42 % (Landwirtschaftszählung 2010). Verbraucher und Verbraucherinnen präferieren Weidehaltung aus ökologischen und Tierschutzerwägungen. Die Milch weist zudem besondere ernährungs-physiologische und geschmackliche Vorteile auf (Dustmann, 2005; o. V., 2012). Vor diesem Hintergrund gibt es eine beachtliche Verbraucherpräferenz für Weidemilchprodukte. Eine deutsche Studie zeigt hohe potenzielle Marktanteile und eine beachtliche Preisbereitschaft. Weidemilch-Käufer sind im Wesentlichen aus Umwelt- und Tierschutzgründen motiviert und wollen zur Bewahrung des Landschaftsbildes beitragen (Hellberg-Bahr et al. 2011). Im Markt wird Weidemilch zzt. mit Preisaufschlägen von 30 % und mehr erfolgreich vermarktet. Im niederländischen Markt ist Weidemilch heute flächendeckend präsent (van den Pol-van Dasselaar, 2002). Österreichische Erfahrungen mit der Auslobung Heumilch sind ähnlich positiv.

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 21 Vor diesem Hintergrund hat das Prozessmerkmal Weidemilch als Vermarktungsargument auch in Deutschland an Bedeutung gewonnen. Im Markt finden sich derzeit deutlich unterschiedliche Standards. Während in den Niederlanden die Molkereien für Weidemilch konkrete Kriterien formulieren (z. B. Weidemilch stammt von Kühen, die an mindestens 120 Tagen im Jahr für je sechs Stunden Weidegang haben, www.frieslandcampina.com/deutsch/responsibility/ outdoor-grazing-weidegang-koe-in-wei. aspx), gibt es in Deutschland Molkereien, die ihrer Weidemilch keine konkreten Kriterien zugrunde legen und allein auf den relativ hohen Anteil an Grünlandbetrieben in ihrem Einzugsgebiet verweisen. In der Befragung wurden die Konsumenten hierzu mit folgender Pro-/Contra-Argumentation konfrontiert: Text für die Befragungsteilnehmer: Heute stehen immer mehr Kühe aus Kostengründen ganzjährig im Stall. Das Rein- und Raustreiben der Kühe zum Melken entfällt deshalb. Verbraucher könnten sich getäuscht fühlen, weil: Der Hersteller bewirbt die Milch als Weidemilch, obwohl nur ein Teil der Milch von Kühen stammt, die auf die Weide gelassen werden. Der Hersteller garantiert dies nicht für alle Tiere. Eine Täuschung ist ausgeschlossen, weil: Das Produkt wird als Weidemilch bezeichnet, weil es aus einer Region in Norddeutschland stammt, in der im Vergleich zu anderen Gegenden noch viele Kühe auf die Weide kommen. Im Ergebnis fühlen sich von dieser Auslobung 67,9 % der Probanden getäuscht. Die Bezeichnung eines Produktes als Weidemilch ohne konkrete Absicherung des tatsächlichen Weidegangs aller Milchkühe im Programm ist damit für einen erheblichen Teil der Konsumenten irreführend. Vor dem Hintergrund anderer Studienergebnisse (Hellberg-Bahr et al., 2011) und der Erfolge am Markt, die eine hohe Präferenz für Weidemilch nachweisen, ist diese Irreführung auch von erheblicher Relevanz für die Entwicklung dieses Qualitätssegments. V Schlussfolgerungen für die Funktionsfähigkeit des Qualitätswettbewerbs Beim Beispiel Weidemilch hat die Veränderung landwirtschaftlicher Strukturen zur Entwicklung eines Marktsegments mit beachtlichem Marktpotenzial geführt. Aus einer vormaligen Selbstverständlichkeit ist ein relevantes Differenzierungsmerkmal entstanden, das umwelt- und gesundheitsorientierte Verbraucher anspricht. Weidemilch veranschaulicht gleichzeitig, wie aus irreführenden Produktinformationen bei Prozesseigenschaften, die der Verbraucher selbst nicht überprüfen kann, die Gefahr des Marktversagens resultiert: Auf Anbieterseite gibt es derzeit in Deutschland keine brancheninterne Regelung, wie dieses neue Qualitätssegment definiert werden soll. Die Standards weichen entsprechend deutlich voneinander ab. Besondere Wettbewerbsvorteile genießen diejenigen Molkereien, die ihre Standardmilch ohne Umstellung der Produktion unter dem Begriff vermarkten und Mehrpreise von bis zu 0,30 für einen Liter Milch erzielen können. Das Beispiel Weidemilch zeigt daher die Gefahr einer Erosion des Verbrauchervertrauens, wenn das missbräuchliche Verhalten einiger Molkereien bekannt wird. Sobald die Verbraucher bei der Bezeichnung Weidemilch nicht mehr den assoziierten Qualitätsvorteil erwarten, werden alle Anbieter betroffen sein. Auch die ambitionierten Qualitätskonzepte werden mit Misstrauen betrachtet werden und sind dann in ihrem Fortbestand gefährdet. Bisher gibt es u. W. keine wettbewerbsrechtliche Rechtsprechung zu diesem Fallbeispiel. Selbst wenn die Rechtsprechung in der Zukunft in dem skizzierten Vorgehen eines größeren Anbieters eine Irreführung der Verkehrskreise sehen sollte, zeigt der Fall die spezifische Problematik des derzeitigen Kennzeichnungsrechts: Y Die Marktdynamik ist relativ groß, so dass es eine Vielzahl spezifischer Fallgruppen gibt, die der Gesetzgeber erst mit einem größeren Zeitverzug erfassen kann. Beispielsweise wurde mit Veröffentlichung der Lebensmittelinformationsverordnung der EU im November 2011 eine Hinweispflicht auf Imitate in die Verordnung aufgenommen. Ab Dezember 2014 sind Hersteller beim Ersatz einer charakteristischen Zutat zur Kennzeichnung

22 Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln Abb. 5: Spannungsfeld der Anforderungen an die Produktkennzeichnung Company based Science based Politik Consumer based Stakeholder based (Eigene Darstellung) durch die Aufschrift Imitat verpflichtet (Artikel 1 LMIV). Die vorausgehende jahrelange Mediendiskussion hat jedoch im Vorfeld zu einem erheblichen Vertrauensverlust der Verbraucherinnen und Verbraucher geführt. Y Nicht gesetzlich geregelte Fallgruppen lassen sich auf Basis von 5 UWG bzw. 11 LFBG kaum breitenwirksam erfassen. Vielmehr müssen Verbraucherorganisationen oder Wettbewerber in jedem Einzelfall klagen (Überblick über aktuelle Urteile bei Reinhart, 2012). Diese Klagen benötigen häufig mehrere Jahre und haben aufgrund des geringen Sanktionspotenzials (Gewinnabschöpfungsnorm des 10 UWG als Papiertiger, van Raay, 2012) nur wenig abschreckende Wirkung. Zudem klagen Verbraucherorganisationen aufgrund begrenzter materieller Ressourcen nur in den Fällen, in denen ihre Gewinnwahrscheinlichkeit sehr hoch ist. Neue und unklare Fallgruppen klären sich daher erst nach mehreren Jahren und eröffnen vorher eine Grauzone unklarer Kommunikation, die das Verbrauchervertrauen erodieren lässt. Fazit: Das hohe Täuschungsempfinden bei den befragten Verbraucherinnen spricht für eine institutionelle Fortentwicklung der Kennzeichnungsregelungen zum Schutz des Qualitätswettbewerbs. Angesichts des eingangs dargelegten starken Preisdrucks im Lebensmittelmarkt und der zunehmenden Bedeutung von Vertrauenseigenschaften mit ausgeprägter Informationsasymmetrie zu Lasten des Konsumenten bedarf der Qualitätswettbewerb eines besseren Schutzes auch bzw. gerade im Interesse der Lebensmittelanbieter im Differenzierungssegment. Wissenschaftstheoretisch betrachtet sind Produktbezeichnungen Nominaldefinitionen, d. h. Festsetzungen über den Gebrauch bestimmter Termini. Als Sprachregelungen ohne Wahrheitsanspruch sollten sie den nachfolgenden Kriterien für die Zweckmäßigkeit von Definitionen genügen: Y Verständlichkeit/Bekanntheit Y Eindeutigkeit/Präzision

Fachtagung Täuschungsschutz bei Lebensmitteln 23 Y keine Widersprüche Y Validität Y Konsistenz Y Operationalität Hieraus leitet sich ab, dass die Definition eines Standards für ein Thema wie Weidemilch nicht von Anbieterseite alleine erfolgen kann. Vielmehr sollten Wissenschaft, Stakeholder und Verbrauchererwartungen frühzeitig einfließen (vgl. Abb. 5). Letzteres verlangt eine deutlich stärkere empirische Fundierung, für die mit der hier vorgestellten Pro-/Contra-Befragungsform ein neues Format vorgelegt wurde. Literatur A.C. Nielsen (2008): Executive News Reports What s Hot around the Globe: insights on food & beverage categories. URL: http://de.nielsen.com/pubs/documents/2008 WhatsHotinFoodandBeveragesFINAL.pdf. Akerlof, G. A. (1970): The Market for Lemons, Qualitative Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 84 (1970), S. 488 500. Albersmeier, F., Mörlein, D.; Spiller, A. (2009): Zur Wahrnehmung der Qualität von Schweinefleisch beim Kunden. Diskussionsbeitrag 0912 des Departments für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung der Georg-August- Universität Göttingen, Göttingen. Aschemann, J., Maroscheck, N. (2008): Wirkung von Claims auf die Kaufentscheidung bei konventionell und ökologisch erzeugten Lebensmitteln, in: Ernährung im Fokus, 8-11/2008, S. 406 411. BLL (Hrsg.) (2008): GFK-Studie Konsumtrends: Convenience, Health + Wellness, Genuss, Bonn 2008. BMELV (2012): Initiative Klarheit und Wahrheit bei der Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln. Handlungsbedarf, Ziele und Maßnahmen Böhm, J., Albersmeier, F., Spiller, A. (2009): Die Ernährungswirtschaft im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, Lohmar 2009. BVE (Hrsg.) (2011): Consumers Choice 11 Lebensmittelqualität im Verbraucherfokus: Chancen für Ernährungsindustrie und Handel, Nürnberg 2011. Cark, J. E. (1998): Taste and flavour: their importance in food choice and acceptance, in: The proceedings of the Nutrition Society, Bd. 57(4), S. 639 643. Dustmann, H. (2005). Machbarkeitsstudie über die Vermarktungsmöglichkeiten für regional erzeugte Milch mit erhöhtem Omega 3 Gehalt. Weihenstephan. EU (2011): VERORDNUNG (EU) Nr. 1129/2011 DER KOM- MISSION vom 11. November 2011 zur Änderung des Anhangs II der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf eine Liste der Lebensmittelzusatzstoffe der Europäischen Union. Faehling, G. (2009): AWA 2009 Zur Aktualität der Marken und Markenkommunikation. URL: http://www.awaonline.de/praesentationen/awa09_marken.pdf. Felser, G. (1997): Werbe- und Konsumentenpsychologie: Eine Einführung, Heidelberg 1997. Fresenius (Hrsg.) (2010): SGS INSTITUT FRESENIUS Verbraucherstudie 2010: Lebensmittelqualität & Verbrauchervertrauen, Hamburg 2010. Fritz, W., Lang, F.P. (2008); Der Discountisierungstrend in Wirtschaft und Gesellschaft. In: Weber L. Gesellschaft im Wandel aktuelle ökonomische Herausforderungen. Gabler, Wiesbaden. Fuchs, M. (2004): Verpackungsgestaltung bei Markenerweiterungen: Der Einfluss auf die Akzeptanz von Konsumenten, Wiesbaden 2004. GfK (Hrsg.) (2012): GfK Consumer Scan, Nr. 1/2012, Nürnberg. Hellberg-Bahr, A., Steffen, N., Spiller, A. (2012): Marketingpotenziale für Weidemilch, Tagungsbeitrag Österreichische Gesellschaft für Agrarökonomie 2011, http:// oega.boku.ac.at/fileadmin/user_upload/tagung/2011/ Short_Paper_2011/61 50_Hellberg-Bahr_OEGA_ TB_2011.pdf.

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