Katharina Schlender D e r F a h r s t u h l z u r T r e p p e Für Leute ab neun Jahren
2010 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F1
VATER Der Spieler des Udo: TRAUM eine Maske Die Spielerin der Mutter: DEMONSTRANTIN SCHNECKE REALITÄT eine Maske TRAUM eine Maske DUNKLE GESTALT EINS Der Spieler des Vaters: DEMONSTRANT GEDANKENGEIST SCHWERTKÄMPFER EINSCHLAF eine Maske DUNKLE GESTALT ZWEI
1 Udo hält eine verdreckte und etwas zerfetzte Papierlaterne in der Hand. Wie als wenn die extra für mich da halb in der Pfütze lag. Wie als wenn ich jetzt beschützen muss. Wie als wenn die mich gerufen hat. Nimm mich mit. Nimm mich doch mit. Er stellt sorgsam ein Kerzenlicht in die ramponierte Laterne. Ob sie schnell durch die Straßen gelaufen oder ganz aufmerksam langsam. Ob sie traurig ist. Das würd ich gern wissen wolln. Jetzt. Wo sie halb nicht mehr ist was sie mal war. So kaputt. So abgerissen. Alles. So entzwei. Ein Gespenst in was sich niemand mehr verlieben mag. Vielleicht ist sie sauer auf mich. Dass ich sie mitgenommen hab. Sie nicht liegen lassen hab. Dass ich sie nicht sterben lassen hab. Da in der Dunkelheit. Hinter einer Wand erscheint der Schatten der Mutter. Da. Meine Mutter. Nie am Untergehn. Egal wie hoch die Wellen. Egal wie stark der Sturm. Der Schatten vom Vater erscheint. Mein Vater. Udo leuchtet mit der Laterne. Die Schatten wanken mit dem Licht. Seht! Wie der Wind zu einem Sturm heranwächst! Seht! Die Wellen setzen Kronen auf! Seht! Sie spucken in den Himmel rauf! Seht! Das Weiß das klatscht ihm ins Gesicht! Seht doch wie das kleine Boot sich halten will! Wie es sich halten will! An seiner eignen Reling! Seht doch! Wie der Himmel wütet! Wie das Meer von ihm zurückgestoßen! Wie die dreisten Wellen brechen! Ist das Boot gerettet? Ich sehs nicht mehr! Kann es nicht im Meer entdecken! Auch der Himmel zeigt es nicht! Ein Hochzeitskleid fällt in den Raum. Das Wanken der Schatten hört auf. Der Vaterschatten hält einen Koffer und eine Stehlampe in den Händen und geht. Der Schatten wird klein und kleiner. Udo versucht den Schatten, mit den Händen an der Schattenwand, aufzuhalten. Doch der Vaterschatten ist verschwunden. Udo streift das Hochzeitskleid über. 5
2 Jahrmarktsmusik setzt leise ein. Udo steht im Hochzeitskleid seiner Mutter, hört. Die Musik wird immer lauter und beginnt zu verzerren. Der ganze Raum scheint plötzlich zu drehen. Rummel und Kirmesgeräusche. Menschen lachen und schreien. Udo inmitten dieses Rummeljahrmarktsgekreische, im kreisenden, schwankenden Raum. Das Lichtspektakel blendet. Die Musik wird ungenießbar. Das Rummellachen schwillt heran, dass einem nur schwindelig werden kann. 3 Zu all dem Rummellärm und Wanken schreien plötzlich Megaphone gegen Polizeisirenen an. Wir sehen unser Ende! Geld kann man nicht essen! Die Zeiten stehn auf Streik! Bleiberecht! Für alle! Kein Mensch ist illegal! Wie viel ist unsre Arbeit wert? Stoppt den Stierkampf! Der Countdown läuft! Neue Werte braucht das Land! Das Eis kommt immer später! Still! Still! Bär und Robbe bleiben fort! Klimaschutz! Jetzt! Wir sind schon viele und wir werden mehr! Erhaltet die Welt! Pelzhandel! Walfang! Tierversuche! Wir wehren uns! Wir pochen auf Sozialtarifverträge! Beschäftigungs- und Standortsicherung! Udo springt mit einem Kescher im Raum umher. Stille! Zeig dich! Stille! Ich fang dich! Züchten will ich dich! Ne Stillefarm gründ ich! Drei Stillen! Vier Stillen! Fünf! Ich richt dich ab und lass dich auf die Welt los! In den Lärm! Beiß ihn mir weg! Komm her! Stille! Komm! Abschiebung ist Folter! Abschiebung ist Mord! Bleiberecht für alle! Jetzt sofort! Stellt die Fernseher ab! Keine betriebsbedingten Kündigungen! Boykottiert die Energiekonzerne! (Flüstert.) Hab keine Angst. Ich tu dir nichts. Hörst du? Ich sprech ganz leise. Bist du ein Fisch? Kann ich dich mit ner Tüte fang? Mit einem Spinnennetz? Bist du ein Friedhof? Ein Sandkorn? Passt du in eine Dose? Komm doch! Stille! Komm her! Wie krieg ich dich? Was bist du? Ein Kleiderschrank oder mehr ein Ziegelstein?
Käfigeier im Supermarkt! Stopfleberskandal! Genmais und Robbenmord! Um Europa keine Mauer! Bleiberecht für alle! Jetzt auf Dauer! So kanns nicht weitergehn! Es muß etwas geschehn! Udo hält einen luftleeren blauen Luftballon in den Raum. Passt du hier rein? Stille? Kommst du? Die Zeiten stehn auf Streik! Udo pustet den blauen Ballon auf und lässt die Luft quietschend aus dem Luftballon. Die Sirenen, das Rummellachen, die Jahrmarktsmusik und das Lichtspektakel ebben ab. Udo lässt ihn los und der Ballon sirrt durch den Raum, bis er völlig luftleer und ermattet am Boden liegt. Udo presst die Hände auf die Ohren. 4 Udo! Udo! Udo zieht schnell das Kleid aus. Udo! Ja! Ich bin doch da! Verdammter Mist alles! Dein verdammtes Kaninchen! Lass es in Ruh! Es ist weg. Ich habs nicht fangen könn. Es ist nicht weg. Es ist nur abgehaun. Woandershin. Ich hab gesagt mach die Tür vom Käfig zu. Lass es doch in Ruh! Lass es doch woanders sein! Bleibt ja nichts andres übrig. Was weg will will weg. Hier kann man auch nur abhaun. Dann bin ich Schuld nicht wahr? Du hast es nicht aufgehalten.
Er hat doch auch nicht mehr geküsst! Die Augen waren doch nur Fäuste noch! In mein Herz hat er gehaun! Und wer verbindets mir?! Wer?! Die Mutter beginnt einen Verband um sich zu wickeln. Immer wieder verheddert sie sich. Udo nimmt ihr den Verband aus den Händen und die Mutter lässt es hilflos geschehen. Udo wickelt die Mutter in den Verband. Ich bin schrecklich. Ja. Du auch. Ja. Die beiden grinsen sich an. 5 Die Mutter gießt aus einer Karaffe Milch. Die Milch gießt sich zu Boden. Zu einer Pfütze. Was tust du? Mama? Du gießt ja nirgends hin! Das mit der Milch. Ich. Tut mir Leid. Soll ich zurückspuln? Wie im Video? Zurück und alles von vorn? Stell dir vor Mama. Wie die Milch zurückfalln würd. Udo stürzt zur Milchpfütze und versucht verzweifelt mit den Händen, die Milch in die Karaffe zurückzugeben. Das hier ist kein Film. Dass du wieder froh sein wirst. Alles kommt zurück an seinen Platz. Die Stehlampe zurück neben das Sofa. Und der Koffer. Er wird ihn noch nicht ausgepackt haben. Ich spul zurück und alles läuft rückwärts. Wie der sich wundern wird. Die Jacke vom Garderobenständer fliegt auf ihn los und die Füße laufen rückwärts um die Straßenecken. Udo. Und wenn du sie trinkst? Die Milch. Du hast sie verschüttet. Nun musst du sie in dir ausschütten. 8