Herausforderungen der Migrationsgesellschaft an die pädagogische Praxis

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Transkript:

Herausforderungen der Migrationsgesellschaft an die pädagogische Praxis 15. März 2016 Andreas Foitzik Leitung Bereich Praxisentwicklung Fachdienst Jugend, Bildung, Migration BruderhausDiakonie Reutlingen Trainer, Berater, Supervisor, Autor im Feld der Migrationspädagogik Herausforderungen der Migrationsgesellschaft an die pädagogische Praxis Projekt IKÖ³ Neue Dimensionen der Interkulturellen Öffnung in Verwaltung und Bildung Kooperationsprojekt mit dem CJD Bodensee-Oberschwaben und weiteren landesweiten Partnern AMIF-Fonds (esf; BAMF) 2015-2018 Themen Vorbereitungsklassen in der Schulentwicklung Pädagogischer Umgang mit Rassismuserfahrung 1

Herausforderungen der Migrationsgesellschaft an die pädagogische Praxis 1. Kleine Geschichte der Interkulturellen Pädagogik 2. Der multiperspektivische Blick 1. Kulturbrille 2. Migrationsbrille 3. Rassismus/Diskriminierungsbrille Exkurs: Pädagogischer Umgang mit Rassismuserfahrungen 4. Subjektbrille 3. Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit Ansätze einer reflexiven Migrationspädagogik Drei bis heute prägende Stränge der Pädagogik 1970er-Jahre: Ausländerpädagogik 1980er-Jahre: Interkulturelle Pädagogik 1990er-Jahre: Interkulturelle Öffnung Reflexive Migrationspädagogik - rassismuskritische Pädagogik 2

Ausländerpädagogik Die/Der Andere als defizitäres Wesen... hat Probleme oder macht Probleme Entwicklungshilfedenken Assimilation Interkulturelle Pädagogik Differenz als Bereicherung, aber mit dem Beharren auf die Verschiedenheit Multi-Kulti-Denken 3

Interkulturelle Öffnung Der entscheidende Paradigmenwechsel Ist es Eure Schule oder unsere Schule? Ist es eine deutsche Schule, oder eine Schule in Deutschland? Aus dem 6. Familienbericht 2001 Interkulturelle Öffnung Reaktion auf gesellschaftliche Realität der Migrationsgesellschaft Gegenentwurf zu der Vorstellung von Integration als Anpassung Soziale Regeldienste und Bildungseinrichtungen öffnen die bestehende Angebotsstruktur für die spezifischen Bedürfnisse von Migrant/innen. 4

Herausforderungen der Migrationsgesellschaft an die pädagogische Praxis 1. Kleine Geschichte der Interkulturellen Pädagogik 2. Der multiperspektivische Blick 1. Kulturbrille 2. Migrationsbrille 3. Rassismus/Diskriminierungsbrille Exkurs: Pädagogischer Umgang mit Rassismuserfahrungen 4. Subjektbrille 3. Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit Eigene andere Erfahrungen Denken Sie darüber nach, wo Sie mal neu ankommen mussten. Ein Umzug als Kind, oder später als junger Mensch oder noch später im Erwachsenenalter. Vom Dorf in die Stadt, von Nord nach Süd, über Ländergrenzen hinweg, für längere Zeit ins Ausland... In ein neues Team bei der Arbeit 5

Eigene andere Erfahrungen Denken Sie über eine Situation nach, in der Sie mit Räumen konfrontiert wart, die nicht Ihre waren. weil Sie anders waren weil Sie sich sozial nicht als zugehörig erlebt haben weil Sie kulturell nicht gepasst habt, so wie Sie sind Eigene andere Erfahrungen Denken Sie über eine Situation nach, in denen Ihnen die gesellschaftliche Position, die mit Ihrem Geschlecht, wenn Sie mögen auch mit Ihrer sexuellen Orientierung verbunden ist, die mit Ihrer sozialen Herkunft verbunden ist bewusst wurde. Als Jugendliche_r, in der Elternrolle, im Team Im Wohnumfeld, in der Freizeit. 6

Eigene andere Erfahrungen Denken Sie darüber nach, wann Ihnen zuletzt bewusst wurde, an welchem Ort in dieser Welt Sie leben... Perspektiven Brillen und Spiegel Migration Kultur Rassismus soziale Lage Gender sexuelle Orientierung Alter - Körper globale Lage Subjekt 7

Andreas Foitzik Was sehe ich mit welcher Brille? Die Kulturbrille Sie/er hat unter Umständen andere Erfahrungen mit bestimmten Einrichtungen, Tätigkeiten, Rollen usw. Hat zunächst nichts mit Migration zu tun! 8

Die Kulturbrille Die Kulturbrille 9

Die Kulturbrille Die Kulturbrille ist als Dimension pädagogischer Handlungskompetenz nur sinnvoll, wenn... alle pädagogische Situationen unter der interkulturellen Perspektive verstanden werden immer der Vorbehalt Vorsicht vor Kulturalisierungen mitgedacht wird Interkulturelle Kompetenz Interkulturelle Kompetenz Die Fähigkeit, in ethnifizierten Situationen des Alltagslebens die kulturellen Zuschreibungen aktiv aufzulösen und sie in Situationen des offenen und gleichberechtigten Konfliktmanagements durch die Akteure selbst umzumünzen. Annita Kalpaka, Paul Mecheril 10

Die Kulturbrille Beispiele zum Thema Flucht Welche Institutionen sind bekannt? Wie funktioniert das Schulsystem oder der Arbeitsmarkt? Welche Bedeutung haben gute Beziehungen zu den Lehrer_innen? Die Kulturbrille Beispiele zum Thema Flucht Was gilt als privat? Wer hilft wem, wer muss wem helfen? Mit wem kann ich offen sprechen? Wem kann ich widersprechen? 11

Die Kulturbrille Beispiele zum Thema Flucht Sagt jemand deswegen nicht danke, weil es ihm so selbstverständlich ist? Was sehe ich mit welcher Brille? Die Migrationsbrille Die Familienstruktur hängt evtl. auch zusammen mit der Spannung zwischen den Generation in der Migrationssituation. Migration ist nicht gleich Migration!!! 12

Die Migrationsbrille Die Migrationsbrille 1. Persönliche Weiterentwicklung Erweiterung der Rollenvielfalt kreativer Umgang mit widersprüchlichen Erwartungen Emanzipation Der Dritte Stuhl Was sehe ich mit welcher Brille? Die Migrationsbrille 2. Rückzugstendenzen auf die Herkunftsgruppen, auf einfach tradierte Rollenmuster Vermeintlicher Schutz der Identität als Überlebensstrategie Tradition gibt Rollensicherheit und Verhaltensstabilität 13

Die Migrationsbrille Beispiele zum Thema Flucht Der soziale Status verändert sich schlagartig. Erinnerungen an Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg, die hier nicht mehr das waren, was sie vorher waren Beispiel: Bedeutung eines bei der Flucht mitgenommen guten Anzugs für einen Arzt aus Syrien Die Migrationsbrille Beispiele zum Thema Flucht Soziale Netzwerke sind nicht mehr im Nahraum, sondern oft verteilt über mehrere Länder. Die Verbindung über soziale Medien kann für die Flucht selbst aber auch für das soziale Leben zum Lebensmittelpunkt werden. Smartphone wird zum Überlebensmittel. 14

Die Migrationsbrille Beispiele zum Thema Flucht Flucht ist oft mit Angst, Trauma und Verlust verbunden. Oft nicht als einzelnes Ereignis, sondern als traumatischer Prozess, der sich hier fortsetzt. Die Verweigerung, ein Sprache zu lernen, kann auch mit dem unbewussten Erleben zu tun haben, dass jedes neue Wort ein Verrat am dem Verlorenen ist Die Migrationsbrille Beispiele zum Thema Flucht Nicht alle brauchen das gleiche. Viele brauchen zuerst ein Umfeld, in dem sie sich wohlfühlen und nicht sofort Sprachförderung und Integration in Arbeitsmarkt. Geflüchtete nicht zu Opfern machen! Räume anbieten, in denen sie ankommen können 15

Was sehe ich mit welcher Brille? Die Rassismus-/Diskriminierungsbrille Ihr/sein Handeln erklärt sich auch aus konkreten Erfahrungen von Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung. Othering Woher kommst Du? Aus Essen. Nein, ich meine, ursprünglich? - Ich bin in Essen geboren. Aber Deine Eltern? - Meine Mutter kommt auch aus Essen. Aber Dein Vater? - Mein Vater ist Italiener. Aha... -... 16

Annäherung an Rassismus Die drei Merkmale einer Rassismusdefinition Gruppenkonstruktion Othering Abwertende Bilder/Zuschreibungen strukturelle Macht, dies in Diskriminierung umzusetzen Film: The Dangerofa Single Story Rede der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie Sie lebt in Nigeria und den USA. Ihre Bücher wurden vielfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. https://www.youtube.com/watch?v=d9ihs241zeg 17

Diskriminierungskritische Perspektive Durch Diskriminierung werden auf der Grundlage jeweils wirkungsmächtiger Normalitätsmodelle und Ideologien Personengruppen unterschieden und soziale Gruppen markiert, denen der Status des gleichwertigen und gleichberechtigten Gesellschaftsmitglieds bestritten wird. In der Folge erschient es in der Logik der Diskriminierung als zulässig, die Diskriminierten ökonomisch, politisch, rechtlich und kulturell zu benachteiligen, ihnen grundlegende Menschenrechte mehr oder weniger umfassend vorzuenthalten. ( ) Diskriminierung Bilder/ Vorurteile sind nicht einfach falsches Denken sondern Bestandteil sozialer Konflikte. Sie sind ein Mittel der Privilegierten zur Verteidigung ihrer Privilegien. Die trickreiche Logik des Vorurteils besteht darin, Folgen sozialer Benachteiligung als Eigenschaften von Benachteiligten und diese Eigenschaften als Ursachen ihrer Position zu behaupten. (Albert Scherr) 18

Diskriminierungskritische Perspektive Das Problem, das durch Diskriminierung bearbeitet wird, besteht so betrachtet in der Begründung und Rechtfertigung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Ungleichheiten sowie in der Aufrechterhaltung von damit verbundenen Normalitätsvorstellungen. Albert Scherr, 2012 Diskriminierung Es genügt nicht, durch Erziehung und Bildung an den individuellen Vorurteilen anzusetzen. Denn so lange diskriminierende Strukturen und Praktiken wirksam sind, entsteht auf Seite der Privilegierten ein Bedarf an Vorurteilen und befinden sich die Benachteiligten in einer Situation, in der ihre Möglichkeiten der Gegenwehr beschränkt sind. (Albert Scherr) 19

Rassismus als Abwertung Die verschiedenen Weisen, mit denen schwarze Menschen und schwarze Erfahrungen ( ) unterworfen wurden, waren Effekte einer gezielten Ausübung von kultureller Macht und Normalisierung. Wir wurden nicht nur (...) als unterschiedene und andere konstruiert. Vielmehr hatten sie die Macht, uns dazu zu bringen, daß wir uns selbst als `Andere wahrnahmen und erfuhren (Stuart Hall 1994: 29f) Diskriminierungsverhältnisse machen das Individuum unsichtbar nehmen Menschen als Vertreter ihrer Kategorie und nicht mehr als besondere Person wahr nehmen die Möglichkeit, die eigene Identität zu definieren er/ sie wird definiert. sind beschämende Entpersönlichungen 20

Die Rassismus-/Diskriminierungsbrille Beispiele zum Thema Flucht Gibt es eine Begegnung auf Augenhöhe??? Die Lebenssituationen in der pädagogischen Begegnung zwischen geflüchteten Kindern und Lehrkräften können unterschiedlicher kaum sein, unterschiedliche Verfügungsmacht über wesentliche Entscheidungen bezogen auf das eigene Leben und die Erfüllung von Grundbedürfnissen Die Rassismus-/Diskriminierungsbrille Beispiele zum Thema Flucht Die Flucht findet statt im Kontext der globalen strukturierten Weltgesellschaft. Sie sind auch hier, weil wir da waren. Sie sind auch die Erben der Kolonisierung und die Zeugen der aktuellen Neokolonisierung. 21

Exkurs: Pädagogischer Umgang mit Rassismuserfahrung Grober Rassismus: offen ethnisierende Beleidigungen, Ausgrenzungen und Gewalttätigkeiten Subtiler Rassismus: nicht offen zu erkennende Ablehnung und Ausgrenzung von Angehörigen ethnisierter und rassialisierter Personengruppen Rassismuserfahrungen in Bezug auf Strukturen, Institutionen, in Interaktionen und Diskursen Erfahrung, Rassismus zu befürchten oder zu erwarten, antizipierter Rassismus Erleben, dass Angehörige der eigenen Gruppe rassistisch attackiert werden oder man/frau als RepräsentantIn einer Gruppe diskriminiert wird. Exkurs: Pädagogischer Umgang mit Rassismuserfahrung Diskriminierung braucht nicht die Absicht, sondern bemisst sich in der Wirkung. 22

Äußerungen von Pädagog_innen Rassismus gibt es hier aktuell nicht. In diesen Situationen geht es nicht um Rassismus. Für diese Handlung oder Situation gibt es andere Erklärungen. Rassismus ist kein wichtiges Thema. Es gibt dringendere Themen. Personen, die tatsächlich Rassismuserfahrungen machen, leiden nicht darunter. Die erzählen nur von Rassismus, um von ihren Fehlern abzulenken. Die sollten dankbar sein, dass sie hier sein dürfen und sich anpassen. Die wollen mich als Deutschen ungerechtfertigt kritisieren. Das lasse ich mir nicht bieten. Claus Melter Folgen für die Jugendlichen Durch ihr Schweigen, ihre fehlende Empathie fehlende solidarische Positionierung sowie ihre nicht lebensweltlich und subjektorientierte an den Erfahrungen der Jugendlichen orientierte Betreuungspraxis unterstützen die Pädagog/innen Erfahrungen des Alltagsrassismus. 23

Was sehe ich mit welcher Brille? Die Subjektbrille Oder: Ich-sehe-nur-die-Person-Brille JedeR hat seine/ihre eigene Geschichte. Ich muss in jedem Einzelfall überlegen, welche Brille mir hilft, die Gründe des Handelns meines Gegenübers (an- )erkennen zu können. Ich-sehe-nur-die-Person-Brille Beispiele zum Thema Flucht Wie schaffe ich es, die Person als Individuum anzuerkennen? Nicht mehr als Teil einer großen Masse zu sehen? 24

Ich-sehe-nur-die-Person-Brille Beispiele zum Thema Flucht Ein_e Geflüchtete_r, die/der noch eigene Wünsche formulieren kann sich gehen Zumutungen wehrt für sich etwas einfordert ist vielleicht gesünder, als eine_r, der/die eher nur dankbar ist. Prof. Dr David Becker Die Ambivalenz des Interkulturellen Für die Weiße, die wissen möchte, wie sie meine Freundin sein kann Erstens: Vergiss, dass ich schwarz bin. Zweitens: Vergiss nie, dass ich schwarz bin. Pat Parker 25

Herausforderungen der Migrationsgesellschaft an die pädagogische Praxis 1. Kleine Geschichte der Interkulturellen Pädagogik 2. Der multiperspektivische Blick 1. Kulturbrille 2. Migrationsbrille 3. Rassismus/Diskriminierungsbrille Exkurs: Pädagogischer Umgang mit Rassismuserfahrungen 4. Subjektbrille 3. Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 1. Die Kunst, zuzuhören und nicht zu verstehen Vielen Jugendlichen fehlt neben reellen Zukunftsperspektiven vor allem Anerkennung. Um jemanden anerkennen zu können, muss ich ihn erkennen, also wahrnehmen. Das vielleicht unmittelbarste Mittel dafür ist das Zuhören. Zuhören nicht im Sinne einer Unterhaltung, sondern als eigenständige Tätigkeit, ohne zu kommentieren, ohne zu belehren, ohne Ratschläge zu erteilen. 26

Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit Dies hat einen doppelten Nutzen: Die/der Zuhörer/in erfährt die Perspektive und die die Handlungsgründe des Gegenübers. Der/die Jugendliche erhält einen Raum, über den sie/er verfügen kann. Er macht die Erfahrung, als Subjekt gehört zu werden. Sie/er kann sich mit der eigenen Situation auseinandersetzen. Sie bekommen eine Bühne geboten, ohne Leistung zu bringen müssen und ohne bewertet zu werden. Es wird ihnen zugestanden, Probleme zu haben im Gegensatz zu der üblichen Wahrnehmung, ein Problem zu sein. Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit Zuhören drückt aus, dass Andere mich etwas angehen. Es signalisiert Interesse an den Anderen. Zuhören ist eine Metapher für die Offenheit, das Offenstehen der Person, die innere Gastfreundschaft. Wer zuhört, macht sich zugänglich und verwundbar, will von Anderen wissen, ist von Anderen beunruhigt, will Anderen antworten. Zuhören widerspricht dem monologischen Bewusstsein, ist kein bloßer Empfang, sondern Zuwendung und Irritation. Wie ein Raum sich verändert, in den jemand eingetreten ist, lässt die Aufnahme des Anderen die aufnehmende Person nicht als die gleiche zurück, die sie vorher war. Zuhören bedeutet Bejahung der Anderen, Angewiesenheit auf ihre Existenz. Christina Thürmer-Rohr 27

Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 2. Unser Handeln zielt auf das Ermöglichen von Mehrfachzugehörigkeit. Identität im Singular ist immer der Anfang von Gewalt Ilja Trojanow Wir verstehen hybride Zugehörigkeitsentwürfe als Normalität Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 3. Wir schaffen Räume für die Thematisierung von Rassismuserfahrung im Alltag in besonderen Räumen des Empowerment 28

Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 4. Wir gehen in Kontakt setzen uns auseinander Wir nehmen in Konfliktsituationen eine klare Haltung ein. Dies muss aber immer einhergehen mit einer eindeutigen emotionalen Zuwendung. In der pädagogischen Praxis setzen wir Grenzen, verlieren dabei aber nie die Wertschätzung und Anerkennung des Gegenübers. Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 5. Bearbeitung von Rassismusvorwürfen Jeder Vorwurf einer_s Schüler_in, von einer_m Lehrer_in aufgrund der zugeschriebenen Herkunft benachteiligt worden zu sein, wird ernst genommen und bearbeitet. Dafür gibt es ein allen bekanntes Vorgehen. Gleichzeitig werden den betroffenen Mitarbeiter_innen Möglichkeiten gegeben, die damit verbundenen Emotionen so klären zu können, dass eine professionelle Arbeit gesichert ist. 29

Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 6. Vermeidung von Verletzung durch Sprache Die Schule arbeitet daran, die Schüler/-innen vor neuen Verletzungen durch abwertende Begriffe und Benennungen zu schützen. So werden mit den Kindern und Jugendlichen Regeln erarbeitet, die bestimmte Begriffe wie das N.-Wort als rassistischen Ausdruck sanktionieren. Allerdings können mit solchen Sprachregelungen nur eindeutig rassistische Begriffe geächtet werden. In vielen Fällen ist eine bewusste Spracharbeit wichtiger als Sprachverbote. Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 7. Keine Fragen beantworten, die niemand gestellt hat! Wir unterstützen die Schüler_innen und Eltern dabei, sich in neuen Umgebung zurechtzufinden. Wir achten dabei aber darauf, dass sie selbst Subjekte der Auseinandersetzung bleiben und nicht selbst zu Objekten von Erziehungsmaßnahmen werden.. 30

Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 8. Verständigung organisieren Nicht die mangelnden Deutschkenntnisse der Neuen sind das Problem, für das wir eine Lösung brauchen, sondern die Tatsache, dass die Mitarbeiter/in der Einrichtung und die Neuen nicht auf die gleiche Sprache zurückgreifen können. Nicht einer ist oder macht ein Problem, sondern beide haben ein Problem. Ausgehend von dieser Prämisse brauchen wir Standards und Umsetzungskonzepte für die Sprachmittlung. Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit 9. Die eigenen Konzepte sind nicht normal! Wir müssen uns die Mühe machen, unsere Strukturen und fachlichen Konzepte insbesondere in möglichen kulturellen Konfliktfeldern transparent zu machen, begründen und vermitteln zu können. Dies hilft uns selbst, einen Standpunkt zu entwickeln. Von da aus können wir bestimmen, welche Standards nicht verhandelbar sind und was im Dialog mit den Nutzer/innen immer auch Gegenstand der Weiterentwicklung sein kann. 31

Schluss: Reflexive Migrationspädagogik Interkulturelles Handeln... ist lernendes Handeln... ist ein Feld der Verunsicherung... wechselt ständig zwischen dem Versuch, der Verständigung und der Reflexion der Situation... begleitet dieses Bemühen selbstironisch, also durch aus liebevoll und freundlich (auch mit sich selbst) (Paul Mecheril) Katholische LAG Kinder- und Jugendschutz NRW THEMA JUGEND KOMPAKT NR. 3 (www.thema-jugend.de) Erfahrungen mit Rassismus im pädagogischen Alltag Eine Einführung zum Thema Rassismus für Fachkräfte in Jugendhilfe und Schule Autor: Andreas Foitzik Münster, 2015, 2 32

Literatur Altan, Melahat/ Foitzik, Andreas/ Goltz, Jutta: Eine Frage der Haltung. Eltern(bildungs)arbeit in der Migrationsgesellschaft. Eine praxisorientierte Reflexionshilfe. Aktion Jugendschutz. Stuttgart 2009 Foitzik, Andreas Kompaktwissen Interkulturelle Kompetenz, Aktion Jugendschutz BW, Stuttgart 2013, Download unter: www.ajsbw.de/media/files/aktuell/2013/kwinterkultur2013_l10.pdf Mecheril, Paul / Castro Varela, Mario do Mar/ İnci, Dirim/ Kalpaka, Annita / Melter, Claus: Migrationspädagogik. Weinheim/Basel 2010 Melter, Claus: Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Münster 2006. Scharathow, Wiebke: Risiken des Widerstandes. Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. Bielefeld 2014 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt andreas.foitzik@bruderhausdiakonie.de www.rassismuskritik-bw.de 33

Beispiele Immer wenn es in der Schule um das Thema Islam geht, wird Yasmina von Lehrerinnen als Expertin angesprochen. Sie merkt, dass das nicht in Ordnung ist und würde am liebsten die Antwort verweigern: ihre Heraushebung stellt die Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit zur Klassengemeinschaft in Frage. Sie will nicht als Repräsentantin der scheinbar homogenen sozialen Gruppe der Anderen sprechen. Ohnehin hat sie den Eindruck, dass sie nur bestätigen soll, was ohnehin alle zu wissen glauben. Manche Fragen, wie die nach dem Sex vor der Ehe, erlebt sie zudem als Grenzüberschreitung. Sie antwortet trotzdem. Sich zu weigern scheint ihr zu riskant: Sie fühlt sich von dem Wohlwollen der Lehrerin abhängig, will dazu gehören, nicht zuletzt will sie auch den stereotypen Bildern etwas entgegensetzen. Von dem, was in ihr vorgeht, bekommt niemand etwas mit. (Wiebke Scharathow 2014, 290) Beispiele Yasmina befindet sich in ihrer Klasse in einer Zwickmühle. Sie fühlt sich von ihrem Mathelehrer scheiße behandelt und ist sich sicher, dass dies mit ihrer Herkunft zu tun hat. Sie merkt aber auch, dass für ihre Mitschüler/-innen diese subtile Rassismus offenbar nicht sichtbar ist. Da sie keine Beweise hat, schweigt sie in der Regel über ihre Erfahrungen. In der Pause tauscht sie sich aus mit anderen, die in einer ähnlichen Position sind, die ihre Deutung bestätigen. (Wiebke Scharathow 2014, 226f) 34

Beispiele Jeden Tag spielten die Kinder auf dem Pausenhof ihre Spiele. Filiz und ihre beiden Freundinnen sind die einzigen, die von den anderen als Ausländer angesehen werden. Es war für sie jeden Tags aufs Neue ein Glückspiel, ob sie mitspielen durften oder eben ( Heute ohne Ausländer!) nicht, je nachdem, wie die anderes Kindern es eben wollten. Die drei Mädchen sahen sich dieser machtvollen Willkür gegenüber machtlos: Wir konnten halt nichts machen, wir waren die Minderheit. Filiz berichtet im Rückblick, dass sie über diese rassistische Erfahrung noch nie gesprochen hat. Nicht mit den Eltern und auch nicht mit den Lehrer/-innen, weil wir gar nicht verstanden haben, was die jetzt eigentlich von uns wollen. (Wiebke Scharathow 2014, 244) 35