3 Rechtsstaat. bprofessor Dr. Klaus Ferdinand Gärditz Staatsrecht I (Staatsorganisationsrecht) Wintersemester 2016/2017

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Transkript:

bprofessor Dr. Klaus Ferdinand Gärditz Staatsrecht I (Staatsorganisationsrecht) Wintersemester 2016/2017 3 Rechtsstaat Lesehinweise: D. Grimm, Stufen der Rechtsstaatlichkeit, JZ 2009, S. 596; H. Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, Der Staat 34 (1995), S. 1; P. Kunig, Der Rechtsstaat, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Zweiter Band, 2001, S. 421; A. Voßkuhle/A.-K. Kaufhold, Das Rechtsstaatsprinzip, JuS 2010, S. 116. I. Grundlagen 1. Rechtsstaatsidee Kernelement der Rechtsstaatsidee ist die Bindung staatlicher Herrschaftsmacht in Formen des Rechts. Politischer Wille wird, wenn er in Hoheitsmacht transformiert werden soll, in Formen des Rechts gezwängt. Das Grundgesetz verbindet mit Rechtsstaatlichkeit über die Verfasstheit des Staates durch Recht hinaus bestimmte Anforderungen an den Inhalt des staatlichen Rechts. Formelle Rechtsstaatlichkeit: Rechtsstaatlichkeit bedeutet zuvörderst die rechtliche Formalisierung der Ausübung von Herrschaftsgewalt. Politische Herrschaft wird durch das Gesetz in die Rechtsförmlichkeit gezwungen. Materielle Rechtsstaatlichkeit: Moderne Rechtsstaaten gewährleisten die Gesetzlichkeit nicht zum Selbstzweck, sondern verbinden diese stets auch mit einem materialen Freiheitszweck. Das Grundgesetz drückt dies am deutlichsten in der Verpflichtung aller staatlichen Gewalt auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde aus (Art. 1 Abs. 1 GG). Rechtsprechung und herrschende Lehre haben daher insoweit konsequent ein materiales Verständnis des Rechtsstaatsprinzips entwickelt, das auf materialen Grundwerten ruht. Institutionelle Rechtsstaatlichkeit: Die praktische Wirksamkeit des geltenden Rechts setzt neben der materiellen Rechtsbindung der staatlichen Organe auch adäquate Verfahren sowie Sanktions- und Kontrollkompetenzen als Instrumente der Rechtsdurchsetzung voraus. Hinweis zur europäischen Rechtsstaatlichkeit: Nach Art. 2 EUV, der im Wesentlichen anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze der Union ausdrückt, beruht auch die Europäische Union auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. 2. Regelungsstandort Das Grundgesetz verwendet den Begriff des Rechtsstaats lediglich an zwei Stellen: Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG: Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG betrifft hierbei nicht die deutsche Staatsstruktur, sondern macht eine Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Integrationsprozess von rechtsstaatlichen Mindestanforderungen der Europäischen Union abhängig. Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und

Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht 2 sozialen Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. Unmittelbare Aussagen zur Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als Gesamtstaat werden damit nicht getroffen. Regelungsstandort des Rechtsstaatsprinzips ist nach zutreffender Ansicht Art. 20 Abs. 3 GG, der mit dem Gebot Gesetzlichkeit bzw. Verfassungsmäßigkeit und den hieraus abgeleiteten Gewährleistungen (insbesondere: Vorbehalt des Gesetzes, siehe 2 III.) die allgemeinen Wesensmerkmale der Rechtsstaatlichkeit fixiert. Art. 20 Abs. 1 GG legt zwar die tragenden Staatsstrukturen der Bundesrepublik Deutschland fest, erwähnt den Rechtsstaat aber jedenfalls nicht explizit. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (Vorrang der Verfassung), die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an das Gesetz gebunden (Vorrang des Gesetzes). Hierdurch wird der Vorrang des höherrangigen Rechts (Normenhierarchie) ausgedrückt. Tragendes Element des Rechtsstaats ist damit der hierarchische Stufenbau der Rechtsordnung. Art. 20 Abs. 3 GG enthält hierbei nur Aussagen zur Bindung an abstrakt-generelles Recht, während die konkret-individuelle Rechtserzeugung (z. B. Urteile, Verwaltungsakte) und die damit verbundenen Bindungswirkungen von der Verfassung nicht explizit thematisiert werden. II. Verfassungsbindung des Gesetzgebers Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist der Gesetzgeber an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Art. 1 Abs. 3 GG konkretisiert dies zudem durch eine unmittelbare Bindung an die Grundrechte. Die Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG bezieht sich auf die Verfassung im formellen Sinne, also das exklusiv im Grundgesetz normierte (Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG) Recht mit Verfassungsrang. Gesetzgebung im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG ist institutionell und nicht funktionell zu verstehen. Gesetzgebung meint den Erlass formeller Gesetze durch den parlamentarischen Gesetzgeber. In Art. 20 Abs. 3 GG wird die Verfassungsbindung der Exekutive und Judikative nicht expliziert, aber nach hm vorausgesetzt. Namentlich ist Art. 100 Abs. 1 GG Konsequenz der unmittelbaren Verfassungsbindung jedenfalls der Gerichte. III. Gesetzlichkeit von Verwaltung und Justiz 1. Gesetzesbegriff Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an das Gesetz gebunden, dessen Begriffsinhalt freilich nicht definiert wird. Art. 20 Abs. 3 GG will die Bindung der rechtsanwendenden Organe an das jeweils geltende (höherrangige) Recht als Maßstab des Verwaltungs- und Justizhandelns sicherstellen. Rechtliche Maßstäbe ergeben sich aber nicht allein aus den Parlamentsgesetzen, sondern auch aus dem untergesetzlichen Regelungswerk. Gesetz im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG erfasst jedenfalls alle materiellen Rechtsvorschriften, die Rechtsverhältnisse zwischen Staat und Bürger begründen. Umfasst sind daher - förmliche Gesetzes, - Rechtsverordnungen

Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht 3 - Satzungen. Dies schließt jeweils auch materielle Landesgesetze ein. Zum geltenden Recht im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG zählt zudem das Unionsrecht. Nicht unter den Gesetzesbegriff des Art. 20 Abs. 3 GG soll nach hm verwaltungsintern wirkendes Innenrecht fallen, was freilich eine eher fragwürdige Beschränkung darstellt, die im Ergebnis nicht zu überzeugen vermag. Überwiegend wird Gewohnheitsrecht dem nach Art. 20 Abs. 3 GG bindenden Gesetz zugerechnet. Voraussetzung ist allerdings, dass die Rechtsordnung Gewohnheit überhaupt als Verfahren der Rechtserzeugung anerkennt und insoweit staatlich durchsetzbar macht. Dies ist etwa der Fall, wenn Gesetze auf außerrechtliche Normen verweisen (z. B. durch Begriffe wie öffentliche Ordnung; Treu und Glauben nach 242 BGB; Handelsbräuche nach 114 GVG). Jedenfalls eine gewohnheitsrechtliche Begründung von Eingriffsermächtigungen ist durch den Vorbehalt des Gesetzes ausgeschlossen. Ob Richterrecht unter den Begriff des Gesetzes im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG fällt, ist umstritten, hängt aber vor allem davon ab, was man unter dem Begriff des Richterrechts überhaupt versteht. Exkurs zur Bindung an die Rechtsprechung des BVerfG: Auch die Missachtung der nach 31 Abs. 1 (Bindungswirkung) oder Abs. 2 (Gesetzeskraft) BVerfGG angeordneten Bindungswirkungen einer Entscheidung des BVerfG ist ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Bei 31 BVerfGG handelt es sich indes um eine reine Rechtsfolgenregelung, die keine Aussagen über die materiellen Entscheidungsmaßstäbe trifft. Hinsichtlich der Urteilswirkung sind drei unterschiedliche Komplexe zu unterscheiden: (1) die allgemeine Rechtskraft einerseits sowie andererseits die darüber hinausgehenden Wirkungen des 31 BVerfGG, (2) Bindungswirkung und (3) Gesetzeskraft. Rechtkraft: Entscheidungen des BVerfG entfalten formelle Rechtkraft, da sie nicht mehr durch weitere ordentliche Rechtsbehelfe angreifbar sind. Sie entfalten materielle Rechtskraft, da sie die Beteiligten am Verfahren binden (etwaige Gestaltungswirkungen eingeschlossen). Bindungswirkung: Die Entscheidungen des BVerfG binden nach 31 I BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Grund hierfür ist die allgemeine Bedeutung der Entscheidungen über die Parteien hinaus. Nach Ansicht des BVerfG bindet die Entscheidung über den Tenor hinaus auch in ihren tragenden Gründen (streitig). Gesetzeskraft: In den Fällen des 13 Nr. 6, 6a, 11, 12 und 14 (Normenkontrolle, Normverifikation und Entscheidung über die Fortgeltung als Bundesrecht) hat die Entscheidung des BVerfG nach 31 II BVerfGG darüber hinaus Gesetzeskraft. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit ergibt sich aus Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG. Gleiches gilt nach Satz 2 auch in den Fällen der Verfassungsbeschwerde, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt. Soweit ein Gesetz als mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt wird, ist die Entscheidungsformel nach Satz 3 konsequenterweise durch das Bundesministerium der Justiz im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Die Gesetzeskraft bezieht sich daher auch allein auf den Tenor der Entscheidung, nicht hingegen auf die Gründe. Grund der Gesetzeskraft ist, dass das BVerfG in den bezeichneten Fällen über eine

Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht 4 2. Recht abstrakt-generelle Norm zu befinden hat, also normenhierarchisch auf der Ebene der Gesetzgebung agiert. Art. 20 Abs. 3 GG stellt die Bindung an das Recht neben die Bindung an das Gesetz und geht insoweit erkennbar davon aus, dass Gesetz und Recht nicht identisch sind. Was hierunter zu verstehen ist und in welchem Verhältnis das Recht zum Gesetz steht, ist bis heute unklar geblieben. 3. Bindung Bindung an die Verfassung und an das Gesetz bedeutet zunächst, dass jede gültige abstrakt-generelle Rechtsnorm als Sollenssatz zu beachten und insoweit zugleich Maßstab der Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns ist. Art. 20 Abs. 3 GG geht davon aus, dass es einen objektiv richtigen Rechtsinhalt gibt. Aussagen über die Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit sind also entsprechend den theoretischen Prämissen der Rechtsbindung eindeutig zu treffen. Freiräume zu unterschiedlichen Entscheidungen entstehen erst kraft höherrangigen Rechts durch Delegation. a) Geltung und Wirksamkeit Das Recht ist eine Sollensordnung und zeichnet sich durch seine Geltung aus. Das Recht hat jedoch zugleich auch eine soziale Ordnungsfunktion. Recht ist nicht nur Maßstab. Im Rechtsstaat ist das Recht kraft positiver Setzung (Art. 20 Abs. 3 GG) auch auf praktische Verwirklichung und damit auf Wirksamkeit angelegt. b) Fehlerfolgen: Art. 20 Abs. 3 GG legt keine Fehlerfolgen für Einzelakte fest, die geltendes Recht verletzen; diese werden erst durch das einfache Recht bestimmt ( 48 VwVfG), dürfen aber die praktische Wirksamkeit des Rechts nicht unterlaufen. Verstößt eine abstrakt-generelle Rechtsnorm gegen höherrangiges Recht, geht die traditionelle Auffassung davon aus, dass die betreffende Norm eo ipso und ex tunc nichtig ist. Eine (überzeugende) Gegenansicht nimmt demgegenüber an, dass auch ein verfassungswidriges Gesetz zunächst wirksam, jedoch durch autoritative (verfassungsgerichtliche) Feststellung mit Wirkung ex nunc vernichtbar ist. Das Grundgesetz enthält keine Bestimmung über die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht, legt sich also auch nicht explizit auf die Nichtigkeitsfolge fest. Art. 100 Abs. 1 GG enthält eine jedenfalls institutionelle Fehlerfolgenregelung, begrenzt diese allerdings auf förmliche Parlamentsgesetze. aa) Exekutive Die Exekutive hat im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG jedenfalls eine Prüfungskompetenz betreffend die Vereinbarkeit des von ihr anzuwendenden Rechts mit höherrangigem Recht. Sie hat demgegenüber keine Kompetenz zur prinzipalen Normenkontrolle. Ob sie inzident Rechtsnormen verwerfen darf ist umstritten und hängt auch davon ab, ob es sich um formelle Gesetze handelt oder um untergesetzliches Regelungswerk.

Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht 5 Die Verwaltung hat im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG jedenfalls eine Prüfungskompetenz betreffend das von ihr anzuwendende Recht. Sie hat unstreitig keine Kompetenz zur prinzipalen Normenkontrolle. Ob ihr die Kompetenz zugewiesen wurde, an sich anzuwendendes Recht inzident auf seine Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu überprüfen, ist umstritten: Die Verwaltung ist nach h. M. an ein förmliches Gesetz auch dann gebunden, wenn sie dieses für verfassungswidrig hält. Art. 20 III GG: unergiebig, da keine Fehlerfolgenkompetenz Demokratieprinzip: unergiebig, da die Verwerfung des niederrangigen Rechts (Gesetz) zwar einen demokratischen Rechtsetzungsakt außer Kraft setzt, hierdurch aber den demokratischen Willen des Verfassungsgebers aktualisiert. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG enthält nur eine Kompetenz der dort genannten Organe, ein Verfahren der prinzipalen Normenkontrolle zu initiieren, was weder in positiver noch in negativer Hinsicht eine Entscheidung über die Zulässigkeit einer inzidenten Normverwerfung enthält. Art. 100 I GG: unergiebig, da er nur die Justiz erfasst. Richtigerweise muss das Problem nach gewaltenteilungsrechtlichfunktionalen Aspekten gelöst werden. Wertentscheidung des Art. 100 I GG für die Stabilität des parlamentarischen Gesetzes. Ergebnis: kein Verwerfungsrecht für Gesetze; aber: wohl Verwerfungsrecht für untergesetzliche Regelungen. Lesehinweis: P. Gril, Normprüfungs- und Normverwerfungskompetenz der Verwaltung, JuS 2000, S. 1080. bb) Judikative Gerichte sind berechtigt und im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG auch verpflichtet, die Vereinbarkeit des anzuwendenden Rechts mit höherrangigem Recht zu überprüfen. Dies gilt auch für Parlamentsgesetze hinsichtlich deren Vereinbarkeit mit Landesverfassung, einfachem Bundesrecht oder Grundgesetz. Art. 100 Abs. 1 GG setzt eine solche Prüfungskompetenz voraus, da ein Gericht ein Gesetz überhaupt nur für unvereinbar mit höherrangigem Recht halten kann, wenn es diese Frage zuvor geprüft hat. EXKURS: ABSTRAKTE NORMENKONTROLLE Normenkontrollantrag gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG. 1. Antragsberechtigung nach 76 Abs. 1 BVerfGG (Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages).

Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht 6 2. Prüfungsgegenstand: Tauglicher Prüfungsgegenstand müsste ein Gesetz sein. Dies können alle bereits in Geltung gesetzten und noch in Geltung befindlichen, aktuelle Rechtswirkungen entfaltenden Rechtsnormen des Bundes- oder Landesrechts gleich welche Rangstufe sein. Beachte: Gesetzesbegriff ist anders als bei der konkreten Kontrolle nach Art. 100 I GG (dort: nachkonstitutionelles Parlamentsgesetz). 3. Antragsgrund: Fraglich ist, welche Voraussetzungen an den spezifischen Antragsgrund im Rahmen des Normenkontrollantrags zu stellen sind. Während Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bloße Meinungsverschiedenheiten über oder Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm genügen lässt, verlangt 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG, dass der Antragsteller das Gesetz für nichtig hält. a) Bundesverfassungsgericht: Das BVerfG geht davon aus, dass 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG eine nach Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG zulässige Konkretisierung eines besonderen objektiven Interesses an der Klarstellung der Verfassungswidrigkeit sei. b) Herrschende Lehre: Die ganz überwiegende Auffassung im Schrifttum geht angesichts dieser Divergenz im Wortlaut davon aus, dass Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG Vorrang zukomme und daher bloße Zweifel genügten. Teilweise wird insoweit 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG verfassungskonform als nicht abschließende Regelung interpretiert, teilweise wegen eines Verstoßes gegen Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG als teilnichtig verworfen. c) Streitentscheidung: Da beide Auffassung vorliegend zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, bedarf es einer Entscheidung des Meinungsstreits. Insgesamt sprechen die besseren Argumente für die herrschende Lehre. Das erforderliche objektive Klarstellungsinteresse besteht, wie sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ergibt, bereits dann, wenn die Verfassungsmäßigkeit einer Norm in Zweifel gezogen wird. Eine Entscheidung des BVerfG kann in diesem Fall jedenfalls bestehende Rechtsunsicherheiten beseitigen, woran ein plausibles Interesse der Rechtbetroffenen bzw. Rechtsanwender bestehen kann. Entgegen der Ansicht des BVerfG lässt sich 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG auch nicht als bloße Regelung des Verfahrens nach Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG deuten. Es handelt sich nämlich um eine qualitative Verengung des Rechtsschutzes gegenüber der Verfassung, zumal eine abschließende Regelung der Anforderungen an ein Klarstellungsinteresse bereits in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG selbst getroffen worden ist. Dies bestätigt insbesondere der Vergleich des Wortlauts der vorgenannten Bestimmung ( Zweifel ) mit dem des Art. 100 Abs. 1 GG ( hält [ ] für verfassungswidrig ). Eine Verengung der Zugangsvoraussetzungen zum BVerfG kommt jedoch, wie sich klar aus Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG ergibt, nur hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde in Betracht. 4. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis: Diskutiert wird, ob das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis eines Landes aufgrund seiner vorherigen Zustimmung im Bundesrat zum angegriffenen Gesetz in Zweifel zu ziehen ist. Das aus allgemeinen Grundsätzen des Prozessrechts ableitbare allgemeine Rechtsschutzbedürfnis dient als Korrektiv, eine formal mit den Vorschriften des Prozessrechts zwar in Einklang stehende, jedoch inhaltlich missbräuchliche Inanspruchnahme von Rechtsschutz zu verhindern.

Staatsrecht I - Staatsorganisationsrecht 7 Das BVerfG hat hierzu mit Recht entschieden, dass eine Zustimmung im Bundesrat einen späteren Normenkontrollantrag desselben Landes nicht ausschließe. Das Gericht verweist zur Begründung auf den objektiven Charakter der abstrakten Normenkontrolle. Die Antragsteller würden hierbei als Garanten einer verfassungsmäßigen Rechtsordnung tätig. Derartiger Rechtsfragen müsste sich ein Land bei seiner (in erster Linie politisch determinierten) Zustimmung im Bundesrat noch nicht gegenwärtig sein. Vielmehr könnten sich Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit auch erst später, z. B. im Rahmen des Vollzugs von Bundesrecht, ergeben.