Universität zu Köln Seminar für Sozialpolitik Prof. Dr. Hans Jürgen Rösner Hauptseminar WS 2003/04: Institutionen der sozialen Sicherheit Leitung: Dipl.-Volksw. Steffen Holzapfel Die Reform der Pflegeversicherung Sozialpolitische Leitlinien unter Berücksichtigung der finanzpolitischen Rahmenbedingungen Gliederung 1. Einführung 5. Schlussbemerkungen Seminarvortrag vom 22. Januar 2004 Ingo Gschwilm HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 2 1. Einführung (I) Einführung der Sozialen Pflegeversicherung (SPV): 1.1.1995 Eines der längsten und besonders strittig diskutierten Gesetzgebungsverfahren in der Geschichte der BRD (B.-Baake) Zentraler Streitpunkt: angemessene Absicherung des Lebensrisikos Pflegebedürftigkeit (Organisation, Umfang) Finanz- wie sozialpolitischer Hintergrund: Hohe Zahl pflegebedingter Sozialhilfeempfänger Finanzpolitisches Motiv (Entlastung der Kommunen) dominierte Diskussion und Ausgestaltung der Pflegeversicherung 1. Einführung (II) SPV steht prinzipiell in der Tradition der Bismarck schen Sozialversicherungen (übernimmt einige zentrale Merkmale) zugleich: erstmals Regime der Kostenbegrenzung (Roth) eingeführt, die mit diesen Traditionen ganz oder teilweise brechen Insbesondere Abkehr vom Ziel der umfassenden Versorgung durch die Versicherungsleistungen im Fall des Risikoeintritts Teilkaskocharakter der SPV Problem: Grenzen für die Einschränkung der Leistungen? Ziel: Lösungsansätze für dieses Problem, auf der Grundlage der Betrachtung zentraler Prinzipien, Defizite und Probleme und unter Berücksichtigung der finanzpolitischen Rahmenbedingungen HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 3 HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 4
2.1 Versicherungszweck Zweck: Gemeinschaftliche Deckung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (nach dem Sozialversicherungsprinzip) Definition des abgedeckten Risikos (SGB XI, 14, Abs. 1): Pflegebedürftig [...] sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen. 2.2 Organisation, Versichertengemeinschaft Erhebung der Beiträge seit 1.1.1995 Leistungen bei häuslicher Pflege seit 1.4.1995, bei stationärer Pflege seit 1.7.1996 derzeit ca. 2 Mio. Leistungsempfänger (ca. 1,3 Mio. ambulant) Träger der SPV: Pflegekassen, deren Aufgaben die Krankenkassen wahrnehmen Versicherungspflicht für alle Bürger HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 5 HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 6 2.3 Finanzierung Orientierung am Beschäftigungsstatus Beitragssatz: 1,7 % Zahlung je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern (Ausnahme: Sachsen) Arbeitgeber wurden für ihren Beitrag kompensiert Familienangehörige können beitragsfrei mitversichert werden auch Rentner müssen Beiträge zahlen; ab April 2004 den vollen Beitragssatz von 1,7 % HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 7 2.4 Leistungen Unterscheidung von drei Stufen der Pflegebedürftigkeit Einheitliche Pro-Kopf-Leistungen (je nach Pflegestufe und danach, ob ambulante oder stationäre Pflege ) Teilkaskocharakter: Leistungsumfang derart konzipiert, dass nicht der volle Bedarf der Pflegebedürftigen gedeckt wird Grundsatz der Beitragssatzstabilität: Ausgaben der SPV dürfen die Einnahmen nicht überschreiten Übergang vom Bedarfs- zum Budgetprinzip: Leistungen orientieren sich nicht am Bedarf der Pflegebedürftigen, sondern an den Einnahmen (zugleich: Finalprinzip der GKV außer Kraft) HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 8
2.5 Überblick: Zentrale Gestaltungsmerkmale Sozialversicherungsprinzip: Gemeinschaftliche und solidarische Deckung des Risikos der Pflegebedürftigkeit Ziele der Leistungsgewährung: - Möglichst selbständiges, menschenwürdiges Leben - Sicherung und Verbesserung der Pflegequalität 3.1 Die Folgen der demografischen Entwicklung Niedrige Geburtenrate, steigende Lebenserwartung. Folge: Alterung der Bevölkerung, sinkende Gesamtbevölkerung Folgen für die SPV: absolute und relative Zahl der Pflegebedürftigen wird zunehmen zugleich wird Zahl der erwerbstätigen Beitragszahler sinken Teilkaskocharakter: Pauschalierung und Deckelung der Leistungen für jeden einzelnen Pflegebedürftigen Grundsatz der Beitragssatzstabilität: Deckelung der Ausgaben der SPV durch die Gestaltung nach dem Budgetprinzip HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 9 HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 10 3.1 Die Folgen der demografischen Entwicklung 3.2 Reformbedarf aus finanzpolitischer Sicht Steigende Ausgaben, sinkende Einnahmen Seit 1999 wies die SPV jedes Jahr ein Defizit aus und jedes Jahr ein größeres. 2002: Rekorddefizit von 480 Mio. Euro Bisher: Auffangen über Finanzreserve möglich. Wie lange noch? Finanzielle Belastung wird zunehmen: Zuwachs der Inanspruchnahme von Sachleistungen; geplante Dynamisierung der Leistungen Herzog-Kommission: Beitragssatz in 2030 bei 2,6 % bei unverändertem Leistungskatalog Quelle: Bericht der Rürup-Kommission, S. 188. HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 11 Fazit: Für notwendige und / oder sinnvolle Veränderungen bestehen keine oder nur geringe finanzielle Spielräume (B-Reg.) HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 12
3.2 Reformbedarf aus finanzpolitischer Sicht 3.3 Defizite aus sozialpolitischer Sicht 1. Leistungsgewährung Ungleichbehandlungen, z.b.: Behinderte, Unterschiede in der Leistungsgewährung zwischen einzelnen Regionen Besonderer Betreuungsbedarf von Demenzkranken kann nicht berücksichtigt werden mit pauschalen Leistungen Zahl der pflegebedingten Sozialhilfeempfänger gesunken, aber: Anteil in der stationären Pflege immer noch 25 % Quelle: Bericht der Rürup-Kommission, S. 190. HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 13 Kein Vorrang von Prävention und Rehabilitation HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 14 3.3 Defizite aus sozialpolitischer Sicht 2. Qualitätsmängel Infrastrukturmängel (geringe Investitionen der Länder, Mangel an Fachkräften) Kaum Möglichkeiten der Qualitätskontrolle bei Pflegeanbietern sowie der Beratung von Pflegebedürftigen Qualitätssicherung nicht Aufgabe einer unabhängigen Instanz, sondern der Pflegekassen (Konflikt: Finanzierung) HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 15 Teilkaskocharakter kann zur Legitimation immer weitergehender Leistungseinschränkungen dienen Ziel: Nähere Bestimmung dieses Teilkaskocharakters, Eingrenzung unantastbarer Basisleistungen Vollversicherung z.b.: GRV, GKV Umfassende Versorgung im Risikofall 4.1 Kernleistungen Teilkaskoversicherung SPV Beschränkung der Versorgung auf Kernleistungen! HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 16
4. Reformansätze für die SPV 4.1 Kernleistungen Hilfsleistungen, die Pflegebedürftigen ein möglichst selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben ermöglichen z.b. Hilfe bei den Bedarfen, die Pflegebedürftigkeit kennzeichnen, d.h. vor allem bei den regelmäßigen und wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens Mögliche benötigte Leistungen könnten indexiert werden (je nach Grad der Pflegebedürftigkeit) alle darüber hinausgehenden Leistungen müssten außerhalb der SPV finanziert werden (Privatvermögen, Zusatzvers.) HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 17 4.2 Gerechtigkeitsmaxime Zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen: Leistungsgewährung grundsätzlich nach der Gerechtigkeitsmaxime Gleicher Grad der Pflegebedürftigkeit = gleiche Ressourcen (d.h. gleiche, indexierte Kernleistungen stehen zur Verfügung) könnte der Aufhebung der Ungleichbehandlung von Behinderten dienen sowie einer besseren Berücksichtigung des besonderen Pflegebedarfs von Demenzkranken HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 18 4. Reformansätze für die SPV 4.3 Einführung personenbezogener Pflegebudgets Auf der Grundlage des jeweiligen Pflegebedarfs würden individuelle Zeitwerte und Stundensätze festgelegt Leistungen wären dadurch stärker an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen ausgerichtet (optimaler Pflegemix); z.b. bei Demenzkranken Stärkung der Wahlfreiheit / Patientensouveränität weiterer Vorschlag: Einführung unabhängiger Beratungsinstanzen zur Beratung und Begleitung Pflegebedürftiger Aufgaben: Sicherung und Verbesserung der Pflegequalität, Controlling, z.b. bei Verwendung der Geldleistungen HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 19 5. Schlussbemerkungen Beschränkung auf Kernleistungen würde auch eine Rücknahme von Leistungen bedeuten aber: fester Stamm von Leistungen der Teilkaskoversicherung wäre bestimmt In welchem Umfang die Gesellschaft Pflegebedürftige unterstützen will, sollte letztlich in einer politischen und gesellschaftlichen Debatte entschieden werden Gesundheitsministerin Ulla Schmidt will im Frühjahr ihre Pläne für die Reform der Pflegeversicherung vorlegen HS Institutionen der sozialen Sicherheit - Seminarvortrag 22. Januar 2004 20