Forensische Psychiatrie für Juristen Fahreignung Hafterstehungsfähigkeit Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit Basel, 2. Mai 2012 Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Klinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Fahreignung: Begriffe Fahreignung: Allgemeine, zeitlich nicht umschriebene und nicht ereignisbezogene psychisch und physisch genügende Voraussetzung des Individuums zum sicheren Lenken eines Motofahrzeuges im Strassenverkehr. Sie muss stabil vorliegen. Fahrfähigkeit: Momentane psychische und physische Befähigung des Individuums zum sicheren Lenken eines Motorfahrzeuges im Strassenverkehr. Fahrkompetenz: Auf der Basis von Lernprozessen in der Fahrschule und mittels Fahrpraxis erworbene technische Fertigkeit zum sicheren Lenken eines Motorfahrzeuges im Strassenverkehr. Handbuch der verkehrsmedizinischen Begutachtung, Haag und Dittmann 2005 1
Art. 14 SVG Erteilung von Lernfahr- und Führerausweisen 2. Lernfahr und Führerausweis dürfen nicht erteilt werden, wenn der Bewerber a. das vom Bundesrat festgesetzte Mindestalter noch nicht erreicht hat; b. nicht über eine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit verfügt, die zum sicheren Führen von Motorfahrzeugen ausreicht; c. an einer die Fahreignung ausschliessenden Sucht leidet; d. nach seinem bisherigen Verhalten nicht Gewähr bietet, dass er als Motorfahrzeugführer die Vorschriften beachten und auf die Mitmenschen Rücksicht nehmen würde. Art. 14 SVG Melderecht des Arztes 4. Jeder Arzt kann Personen, die wegen körperlicher oder geistiger Krankheiten oder Gebrechen oder wegen Süchten zu sicheren Führung von Motorfahrzeugen nicht fähig sind, der Aufsichtsbehörde für Ärzte und der für Erteilung und Entzug des Führerausweises zuständigen Behörde melden. 2
Art. 16 SVG Entzug der Ausweise 1. Ausweise und Bewilligungen sind zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen; sie können entzogen werden, wenn die mit der Erteilung im Einzelfall verbundenen Beschränkungen oder Auflagen missachtet werden. Art. 17 SVG Wiedererteilung der Führerausweise 3. Der auf unbestimmte Zeit entzogene Lernfahr- oder Führerausweis kann bedingt und unter Auflagen wieder erteilt werden, wenn eine allfällige gesetzliche oder verfügte Sperrfrist abgelaufen ist und die betroffene Person die Behebung des Mangels nachweist, der die Fahreignung ausgeschlossen hat. 3
Art. 27 VZV (Verkehrszulassungsverordnung) Vertrauensärztliche Kontrolluntersuchung 1 Die Pflicht, sich einer vertrauensärztlichen Kontrolluntersuchung zu unterziehen, besteht für: a. die folgenden Fahrzeugführer bis zum 50. Altersjahr alle fünf Jahre, danach alle drei Jahre: 1. Inhaber eines Führerausweises der Kategorien C und D sowie der Unterkategorien C1 und D1, 2. 2 Inhaber der Bewilligung zum berufsmässigen Personentransport nach Artikel 25, 3.... 3 b. über 70-jährige Ausweisinhaber alle zwei Jahre; c. Motorfahrzeugführer nach schweren Unfallverletzungen oder schweren Krankheiten. Führerausweiskategorien B Pkw mit Gesamtgewicht bis 3.5 t B1 klein- und dreirädrige Motorfahrzeuge bis 0.55 t ärztl. US C Lkw über 3.5 t ärztl. US C1 Lkw bis 7.5 t ärztl. US D Personentransport mehr als 8 Sitzplätze ärztl. US D1 Personentransport mehr als 8 aber weniger als 16 Sitzplätze ärztl. US F Motorfahrzeuge (ohne Motorräder) mit Höchstgeschwindigkeit bis 45 km/h G landwirtschaftliche Motofahrzeuge bis 30 km/h ärztl. US = ärztliche Untersuchung zur Erteilung notwendig 4
Alkohol 1. Leichte Widerhandlung im Sinne von Art. 16a SVG Wer in angetrunkenem Zustand, jedoch nicht mit einer qualifizierten Blutalkoholkonzentration (d.h. mit 0.5 bis 0.79 Gewichtspromille) ein Motorfahrzeug lenkt und dabei keine anderen Widerhandlungen gegen die Strassenverkehrsvorschriften begeht, wird mit einer VERWARNUNG belegt. 2. Mittelschwere Widerhandlung im Sinne von Art. 16b SVG Wer in angetrunkenem Zustand, jedoch mit einer nicht qualifizierten Blutalkoholkonzentration (d.h. mit 0.5 bis 0.79 Gewichtspromille) ein Motorfahrzeug lenkt und dabei zusätzlich eine leichte Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften begeht, wird mit einem mindestens einmonatigen Führerausweisentzug belegt. 3. Schwere Widerhandlung im Sinne von Art. 16c SVG Wer in angetrunkenem Zustand mit einer qualifizierten Blutalkoholkonzentration (d.h. 0.8 Gewichtspromille und mehr) ein Motorfahrzeug lenkt, wird mit einem Führerausweisentzug von mindestens drei Monaten belegt. Bei wiederholtem Fahren in angetrunkenem Zustand oder Vorliegen eines hohen Blutalkoholgehaltes muss die Fahreignung gegebenenfalls medizinisch und/oder verkehrspsychologisch abgeklärt werden, sofern nicht sogar ein Sicherungsentzug aus dem Kaskadensystem droht. Stellt sich dabei heraus, dass die betroffene Person trunksüchtig ist oder keine Gewähr bietet, Fahren und Trinken genügend zu trennen, muss der Führerausweis auf unbestimmte Zeit entzogen werden. Alkohol Alkoholabhängigkeit: Fahreignung nicht gegeben Verkehrsrelevanter Alkoholmissbrauch: dito Minimalkriterien für die Wiederzulassung: Vollständige Alkoholabstinenz Beratung oder Therapie whrd. 2 Monaten mind. wöchentlich, dann mind. monatlich Abstinenznachweis i.d.r. mind. 1 Jahr Laborbestimmungen alle vier bis acht Wochen. CDT (Carbohydrate Deficient Transferrin), MCV, Gamma-GT, GOT und GPT. Alternativ kann die Alkoholabstinenz durch eine Haaranalyse auf Ethylglucuronid über einen maximalen Zeitraum von sechs Monaten nachgewiesen werden. In dieser Zeit darf der Expl. seine Haare nicht schneiden, färben, tönen oder dauerwellen. Für den geforderten Zeitraum der Abstinenz von einem Jahr werden demnach zwei Haaranalysen erforderlich sein. 5
Drogen Drogenabhängigkeit und verkehrsrelevanter Drogenmissbrauch schliessen die Fahreignung aus. Abstinenznachweis und Therapie für Wiederzulassung analog Alkohol. Cannabis: Zeitliches Trennen des Konsumes vom Lenken eines Motorfahrzeuges (Nachweis toxikologisch durch Metaboliten) Methadon: Stabile Substitution über mind. 6 Monate Keine Beeinträchtigung der psychophysischen Leistungsfähigkeit Keinerlei (!) Beikonsum oder andere relevante psychotrope Medikation Heroinsubstitution (Diacetylmorphin): Wegen erheblicher psychotroper Wirkung («flash») Fahreignung ausgeschlossen Medikamente Bei Hinweisen auf Missbrauch oder Abhängigkeit Fahreignung ausgeschlossen Mindestens 6 Monate (bis 1 Jahr) stabile Änderung des Konsumverhaltens vor Wiederzulassung In gewissen Fällen Fahreignung nur mit Medikation gegeben (leistungspsychologische Testung) Cave: bei jeglicher medikamentöser Umstellung von Präparaten mit potentiell psychotroper Wirkung 2 Monate keine Fahreignung Aufklärung über Beeinträchtigung der Fahreignung ist Aufgabe des behandelnden Arztes. Bei Unfällen: Schadenersatzklagen 6
schwere psychische Störungen Bei schweren psychischen Störungen ist die Fahreignung grundsätzlich nicht gegeben Hirnorganische Störung Schizophrenien Affektive Störungen (Manie, Depression, bipolare Störung) Vollständige stabile Remission (d.h. keine Symptome mehr feststellbar) für mindesten 6 Monate. Höhere Führerausweiskategorien ausgeschlossen. Demenz: Leistungsfähigkeit für Standardsituationen reicht nicht aus, Leistungsreserve notwendig. Testpsychologische Abklärung. Hafterstehungsfähigkeit Rechtsfrage: öffentliches Interesse versus Interesse des Betroffenen 7
Hafterstehungsfähigkeit Hafterstehungsfähigkeit ist die Fähigkeit: in einer Einrichtung des Strafvollzuges leben zu können, Freiheitsentzug ohne Gefahr für Gesundheit oder Leben ertragen zu können und den Sinn und Zweck der Verbüssung einer Freiheitsstrafe zu erkennen. Venzlaff, 2000 Rrechtliche Grundlagen Nicht explizit geregelt in neuer StPO Art. 40 StGB Bundesgesetz über die Bundesstrafrechtspflege Art. 73 ter kant. Gefängnisverordnungen Verordnung über die Kreisärztinnen und Kreisärzte des Kt. BE Gefängnisreglemente 8
Art. 40 STGB 1 Der Vollzug einer Freiheitsstrafe darf nur aus wichtigen Gründen aufgeschoben werden. Wichtige Gründe: mangelnde Straferstehungsfähigkeit existenzwichtige Angelegenheiten Basler Kommentar 2003 Mangelnde Straferstehungsfähigkeit Die betreffende Person ist nicht in der Lage, einen Freiheitsentzug in einer Vollzugseinrichtung oder in einer anderen geeigneten Einrichtung zu erstehen, z.b. für eine Operation oder Geburt. Hafterstehungsunfähigkeit! 9
Auswirkungen von Haft I psychischer und körperlicher Stress Reizdeprivation Auswirkungen von Haft II bei vorgängig gesunden Personen: Angst, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit, Traurigkeit Wut, Aggression... vegetative Symptome: Kopfweh, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit... Suizidalität bei Personen mit vorbestehender Vulnerabilität oder Prädisposition: Entwicklung einer Anpassungsstörung 10
Auswirkungen von Haft III bei Personen mit vorbestehender Erkrankung: Verschlechterung des Zustandsbildes, Dekompensation psychotrope Substanzen: Neu- oder Wiederaufnahme des Konsums Intoxikationen Entzüge Suizidalität in Haft Suizide z.b. Fruehwald und Frottier 2003 Zeit 11
Hafterstehungsfähigkeit Person Persönlichkeit Biographie Erkrankungen definierter Zeitraum konkrete Haftbedingungen Medizinisches Gutachten I Stellung des Experten zum Expl. resp. Auftraggeber Diagnosen konkrete Auswirkungen (Art, Zeit) Interventions- / Präventionsmöglichkeiten Differenzierung: Aggravation und Simulation 12
Medizinisches Gutachten II Anpassung des Haftregimes heterogene Möglichkeiten: grosse Strafvollzugsanstalt Bezirksgefängnis Untersuchungsgefängnis Polizeiposten Verlegung innerhalb des Gefängnisses Betreuung Überwachung Schutz Behandlung Bewachungsstation Inselspital Bern Sicherheitsabteilung Psych. Klinik Rheinau Forensische Abteilung UPK Basel California Medical Facility (CMF), Vacaville, CA Jahresbudget 145,1 Mio $ Kapazität 2315, Belegung 3278 männliche Insassen Akutspital Psychiatrische Klinik und Ambulanz Hospiz für terminale Patienten Spezialabteilung für HIV / AIDS 13
StPO Prozessfähigkeit Art. 104 Prozessfähigkeit 1 Die Partei kann Verfahrenshandlungen nur gültig vornehmen, wenn sie handlungsfähig ist. 2 Eine handlungsunfähige Person wird durch die Inhaberin oder den Inhaber der elterlichen Sorge oder durch die Vormundin oder den Vormund (gesetzliche Vertretung) vertreten. 3 Eine urteilsfähige handlungsunfähige Person kann neben ihrer gesetzlichen Vertretung jene Verfahrensrechte ausüben, die höchstpersönlicher Natur sind. StPO Zeugnisfähigkeit Art. 160 Zeugnisfähigkeit und Zeugnispflicht 1 Zeugnisfähig ist eine Person, die älter als 15 Jahre und hinsichtlich des Gegenstands der Einvernahme urteilsfähig ist. 2 Jede zeugnisfähige Person ist zum wahrheitsgemässen Zeugnis verpflichtet; vorbehalten bleiben die Zeugnisverweigerungsrechte. 14
StPO Abklärungen über die Zeugin Art. 161 Abklärungen über die Zeugin oder den Zeugen 1 Das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse einer Zeugin oder eines Zeugen werden nur abgeklärt, soweit dies zur Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit erforderlich ist. 2 Bestehen Zweifel an der Urteilsfähigkeit oder liegen Anhaltspunkte für psychische Störungen vor, so kann die Verfahrensleitung eine ambulante Begutachtung der Zeugin oder des Zeugen anordnen, wenn die Bedeutung des Strafverfahrens und die Bedeutung des Zeugnisses dies rechtfertigen. Verhandlungsfähigkeit Rechtsfrage: öffentliches Interesse am Prozess versus Interesse des betroffenen auf Verteidigung 15
StPO Verhandlungsfähigkeit Art. 112 Verhandlungsfähigkeit 1 Verhandlungsfähig ist eine beschuldigte Person, die körperlich und geistig in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen. 2 Bei vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit werden die unaufschiebbaren Verfahrenshandlungen in Anwesenheit der Verteidigung durchgeführt. 3 Dauert die Verhandlungsunfähigkeit fort, so wird das Strafverfahren sistiert oder eingestellt. Die besonderen Bestimmungen für Verfahren gegen eine schuldunfähige beschuldigte Person bleiben vorbehalten. Definition Verhandlungsfähigkeit Verhandlungsfähigkeit ist die Fähigkeit: Inn- oder ausserhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegennehmen zu können. nach Venzlaff 2000 16
Verhandlungsfähigkeit Person Persönlichkeit Biographie Erkrankungen definierter Zeitraum konkrete Anforderungen in der Verhandlung medizinische Beurteilung Wahrnehmung Willensäusserung Formulierung Interpretation Willensbildung Gedächtnis Bildung Motivation Antrieb 17
Beeinträchtigung der Verhandlungsfähigkeit auf Stufe Wahrnehmung: hirnorganische Störungen anhaltende Intoxikationen Halluzinationen und Derealisationen (Schizophrenien) Einengung der Wahrnemung (Depressionen) Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung (Demenz, Herz-/Kreislaufstörungen, Diabetes...)... Beeinträchtigung der Verhandlungsfähigkeit auf Stufe Willensbildung:... Minderintelligenz wahnhaftes Denken bei Psychosen irreales Erleben bei Manien Extremformen von Persönlichkeitsstörungen... 18
Beeinträchtigung der Verhandlungsfähigkeit auf Stufe Willensäusserung:... Antriebsstörungen: Intoxikationen depressive Zustandsbilder Negativsymptomatik bei Schizophrenien körperliche Erkrankungen 19