Kooperation von Verkehrsmanagement und Routing Interaktion kollektiver Lenkungsstrategien und individueller Telematikdienste im Fahrzeug Dipl.-Ing. Peter Fischer, BMW Group, Max-Diamand-Straße 13, 80788 München Dr.-Ing. Christoph Hecht, TRANSVER GmbH, Maximilianstraße 45, 80538 München Dipl.-Ing. Dirk Keßler, BMW Group, Max-Diamand-Straße 13, 80788 München Dipl.-Ing. Magnus Stadler, TRANSVER GmbH, Maximilianstraße 45, 80538 München 1 Ausgangssituation Das moderne Verkehrsmanagement lässt durch den Einsatz verkehrstechnischer und verkehrstelematischer Maßnahmen Potentiale für eine Optimierung des motorisierten Individualverkehrs erwarten. Netzausgleich Individualverkehr (NIV), ein Teilprojekt der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsinitiative INVENT (Intelligenter Verkehr und nutzergerechte Technik), verfolgt ähnliche Ziele und möchte durch individuelle Information des Autofahrers und strategische Lenkung der Verkehrsströme die zur Verfügung stehende Verkehrsinfrastruktur besser nutzen. Die Berücksichtigung öffentlicher Verkehrslenkungs- und -managementstrategien in individuellen Navigationssystemen ist dabei von wesentlicher Bedeutung. Angestrebt wird die Erreichung folgender Ziele: 1. Verkehrsmanagement der öffentlichen Hand soll durch die Berücksichtigung kollektiver verkehrstechnischer Maßnahmen und Informationen im fahrzeugseitigen Navigationsgerät unterstützt werden. Für wiederkehrende Großveranstaltungen und Störungen formulieren öffentliche Verwaltungen Umleitungsempfehlungen. Basis dieser Umleitungsempfehlungen sind zumeist verkehrstechnische Untersuchungen bzw. Simulationen mit geeigneten Verkehrsmodellen. Dadurch werden Streckenzüge empfohlen, die in Sonderverkehrssituationen leistungsfähig genug sind, um zusätzliche Verkehrsströme aufzunehmen. 2. Dem Fahrzeuglenker soll durch die zusätzlichen Informationen aus dem öffentlichen Verkehrsmanagement eine bessere Route angeboten werden. 3. Durch eine Routenwahl, die sensible Bereiche, wie Wohngebiete, Ortsdurchfahrten etc. vermeidet und in erster Linie das Hauptstraßennetz nutzt, soll die gesellschaftliche Akzeptanz dynamischer Navigationssysteme gesichert werden. In Abstimmung mit der Landeshauptstadt München wurde untersucht, wie sich individuell berechnete Routen von Umleitungsempfehlungen der öffentlichen Hand unterscheiden. Dabei konnte gezeigt werden, dass sich die Routingergebnisse weitgehend mit den öffentlichen Umleitungsempfehlungen decken. Wo die individuellen Routen abweichen, werden bisweilen Netzelemente mit geringer Leistungsfähigkeit verwendet. Diese Netzteile sind vor allem bei Vorliegen eines Störfalls in kurzer Zeit überlastet, wodurch die Reisezeit auf der individuellen Alternativroute die der öffentlichen Umleitungsempfehlung deutlich übersteigen kann. Dieser Mangel kann durch Verwendung von (nahezu) Echtzeit-Verkehrslagedaten oder durch Berücksichtigung der öffentlichen Umleitungsempfehlungen überwunden werden. Da nicht erwartet werden kann, dass derartige Verkehrslagedaten in absehbarer Zeit flächendeckend vorliegen werden, wurde im Projekt INVENT-NIV ein Verfahren entwickelt um Umleitungsempfehlungen für die Fahrzeugnavigation nutzbar zu machen. Folgende Vorgehensweise wurde gewählt: Analyse und Vergleich öffentlicher Umleitungsempfehlungen mit dem Routenwahlverhalten von Fahrzeugnavigationssystemen. Entwicklung einer Möglichkeit öffentliche Umleitungsempfehlungen und weitere Informationen aus Verkehrszentralen für die individuelle Fahrzeugnavigation zu nutzen. Bewertung. Die Ergebnisse werden im folgenden dargelegt.
2 Verkehrslenkung und Fahrzeugnavigation Im Gegensatz zu öffentlichen Umleitungsempfehlungen existieren individuelle Routenempfehlungen aus Navigationsgeräten ausschließlich als Ergebnis einer spezifischen Quelle-Ziel-Anfrage. Sie werden unter Verwendung herstellerspezifischer Algorithmen berechnet. Auswirkungen von Verkehrsstörungen auf individuelle Routenempfehlungen können somit nur für spezifische Quelle-Ziel-Relationen untersucht werden. Für Netzunterbrechungen sind keine allgemeingültigen Umleitungen hinterlegt, vielmehr wird für jede Anfrage eine individuelle Alternativroute neu berechnet. Aus dem vorhandenen, ggf. eingeschränkten Verkehrsangebot wird die günstigste Route ausgewählt. Eine quantitative Analyse der Unterschiede zwischen öffentlichen Umleitungsempfehlungen einerseits und individueller Routenempfehlung andererseits kann nur anhand von konkreten Beispielen durchgeführt werden. Maßgebende Kenngrößen sind Streckenlänge und Reisezeit, woraus Umwegigkeit und Güte der jeweiligen Route abgeleitet werden. Da synchrone Messfahrten auf verschiedenen Routen sehr aufwändig sind und durch zufällige Schwankungen stark beeinträchtigt werden, erfolgt eine theoretische Analyse auf Basis eines statischen Netzmodells. In einer Vielzahl der untersuchten Quelle-Ziel-Beziehungen sind die öffentlichen und die individuell berechneten Routenempfehlungen identisch oder weitgehend identisch. Auch bei deutlich abweichenden Routen treten in der Regel nur geringe Reisezeitunterschiede 1 auf. Allerdings sind die individuellen Routenempfehlungen oftmals streckenkürzer, da bei Verkehrsstörungen auch kleinere Straßen genutzt werden. Eine Ursache für Abweichungen zwischen öffentlichen Umleitungsempfehlungen und den Ergebnissen der Routingsoftware sind unterschiedliche Zielsetzungen. Öffentliche Umleitungsempfehlungen streben ein Systemoptimum an, d. h. auch große Verkehrsströme müssen in geeigneter Weise an der Störung vorbeigeleitet werden können, ohne dass es zu einem völligen Verkehrsstillstand kommt. Eine möglichst hohe Leistungsfähigkeit der Umleitungsstrecke ist daher wesentlich. In der Regel werden hochrangige Netzelemente mit geringer Vorbelastung genutzt. Verkehrssensible Bereiche wie Ortsdurchfahrten oder Wohngebiete werden nach Möglichkeit nicht für Umleitungen herangezogen. Individuelle Routenempfehlungen sollen ein Nutzeroptimum erzielen, d. h. eine möglichst geringe Reisezeit und kurze Wegstrecke für eine einzelne Fahrt auf einer ausgewählten Quelle-Ziel-Relation. Trotz dieser unterschiedlichen Zielsetzungen stimmen öffentliche Umleitungsempfehlung und das Resultat der Routenempfehlung in vielen Bereichen überein, da sowohl die öffentliche Verwaltung, als auch die Routingalgorithmen prinzipiell leistungsfähige Netzelemente bevorzugen: Öffentlich empfohlene Umleitungen führen generell über leistungsfähige, hochrangige Netzelemente. Navigationsgeräte nutzen bevorzugt Strecken mit hohem Geschwindigkeitsniveau, das in der Regel auf leistungsfähigen Strecken gegeben ist. Niedrigrangige Straßen werden normalerweise nur dann benutzt, wenn das Ziel nicht anders zu erreichen ist. Eine weitere Ursache für die Unterschiede zwischen individueller Route und öffentlicher Umleitungsempfehlung liegt in den umfassenderen Verkehrslageinformationen der Verkehrszentralen für städtische Netze und für Autobahnen. Eine Vielzahl dieser Informationen wie z. B. flächenhafte oder dynamische Netzsperrungen, lassen sich in TMC-Meldungen nicht präzise genug kodieren, so dass derartige Störungen 1 Die Auswertung und der Vergleich erfolgte auf einem unbelasteten Netzgraphen, in dem mit Ausnahme der untersuchten Störung ungestörter Verkehrsfluss unterstellt wurde.
bei der individuellen Fahrzeugnavigation nicht berücksichtigt werden können. Maßnahmen der öffentlichen Hand zur temporären Ertüchtigung öffentlicher Alternativrouten, wie z. B. besondere Signalprogramme, sind dem Navigationsgerät ebenfalls nicht bekannt und es nutzt diese Strecken u. U. trotz verbessertem Verkehrsablauf nicht. 3 Informationsverarbeitung für individuelles Routing Durch Kooperation können Akzeptanz und Effizienz von öffentlichem Verkehrsmanagement ebenso wie von individueller Fahrzeugnavigation gesteigert werden. Dazu fehlt bisher ein Instrument, das öffentliche Umleitungsempfehlungen für die individuelle Routenberechnung verfügbar und verarbeitbar macht. Diese Aufgabe erfüllt der im Projekt NIV entwickelte Strategielayer. Es handelt sich dabei um die informationstechnische Umsetzung von Streckensperrungen und Umleitungsempfehlungen in ein Format, dass von einer Routingsoftware interpretiert werden kann. Somit kann auf konkrete situationsabhängige öffentliche Sperrungen oder Umleitungen reagiert werden. Öffentliche Umleitungsempfehlungen, sogenannte Verkehrslenkungsstrategien, werden vorab, d. h. bereits vor dem Eintreten der Verkehrssituation, festgelegt. Die Auswahl und die Auslösung der Strategie erfolgt entsprechend der Empfehlung eines Rechnersystems oder auf Grund der Erfahrung der Operatoren unter Abstimmung mit den verantwortlichen Behörden. Demgegenüber sind die individuellen Routen nicht als vordefinierte Maßnahmenbündel im System hinterlegt, sondern sind Ausdruck bestimmter im Algorithmus gewichteter Routingkriterien. Aufgabe des Strategielayers ist es, Streckensperrungen und Umleitungen so abzubilden, dass die individuelle Routenberechnung innerhalb dieser Rahmenbedingungen den für den Kunden besten Weg ermitteln kann. Dabei kann eine im Strategielayer versorgte Empfehlung eine oder mehrere öffentliche Umleitungen beinhalten. Jede der Alternativroutenempfehlungen besteht aus einer Liste von Straßenkanten: Kanten, die zur Umleitung gehören und mit einem Bonus versehen werden, Kanten, die gesperrt oder gestört sind und mit einem Malus versehen werden. Der Strategielayer wird immer nur für diejenigen Quelle-Ziel-Beziehungen wirksam, die von einer Störung betroffen sind. Um das zu gewährleisten werden entsprechende "Auslöser" definiert. Im Störungsfall wird der Strategielayer an die Routingsoftware einer Off-Board-Navigation übermittelt. Führt nun eine Route über ein gestörtes Netzelement, so wird die entsprechende Strategie aktiv und eine neue Route ermittelt, die die Empfehlungen der öffentlichen Hand berücksichtigt. Ohne Strategielayer Bestenfalls Last Exit Warnung und kleinräumige Umleitung über wenig leistungsfähiges Netz Mit Strategielayer Situationsangepasstes Routing durch Nutzung von Verkehrslageinformationen und Umleitungsempfehlungen aus Verkehrs - zentralen
4 Bewertung Die Auswertungen der Beispielrelationen unter Verwendung des Strategielayers haben gezeigt, dass es möglich ist, dem Nutzer eine individuelle Zielführung anzubieten, die sowohl öffentliche Interessen berücksichtigt als auch eine optimierte Route durch das gestörte Netz ermittelt: Dem Fahrer können zeitkurze Alternativrouten, die den Störungsbereich meiden, angeboten werden. Die öffentlich ausgewiesenen Alternativen verlaufen grundsätzlich auf dem hochrangigen Straßennetz der Bundesautobahnen, Bundesstraßen oder den Hauptverbindungen innerorts. Somit verwendet der Router unter Berücksichtigung des Strategielayers Verbindungen mit teilweise längeren Umwegen, jedoch schnellen Straßen, im Gegensatz zur Last Exit Warning eines Routings ausschließlich mit TMC- Meldungen. Dabei ist davon auszugehen, dass bei Aktivierung des Strategielayers durch öffentliche Verkehrsmanagementeinrichtungen die ausgewiesenen Alternativstrecken eine ausreichende Kapazität besitzen, um den zusätzlichen Verkehr angemessen zu bewältigen. Die gelegentlich unvorhersehbare räumliche Dimension einer Störung und die oftmals überlasteten (Schleich-)Wege in unmittelbarer Nähe der Störung werden durch den Strategielayer berücksichtigt. Somit kann der Fahrer großräumig um die Störung bzw. die Veranstaltung herumgeleitet werden. Der Fahrer wird im Rahmen der Routenberechnung bzw. Routenführung über das Verkehrsgeschehen, Baustellen und Veranstaltungen informiert, insofern seine Fahrt betroffen ist. Dies können verkehrsrelevante Informationen sein, die über den Verkehrsfunk und TMC-Meldungen hinausgehen. Das Navigationsgerät erhält durch den Strategielayer auch komplexe Informationen über Störungen und Beeinträchtigungen im Straßennetz, die in einer Verkehrsmeldung nicht kodiert werden können. Die der öffentlichen Hand vorliegenden Informationen über Ereignisse und geplante Maßnahmen im Straßenraum stehen somit auch dem individuellen Routing zur Verfügung. Der Fahrer kann Informationen des öffentlichen Verkehrsmanagements on-trip auch ohne kollektive Systeme (z. B. Wechselwegweisungsanlagen, dynamische Informationstafeln, etc.) empfangen und befolgen. Dies ist v. a. bei jenen öffentlichen Informationen relevant, die keine oder nur punktuelle Verbreitung durch kollektive Systeme finden. Der Fahrer erhält relevante Informationen lang bevor er an einer Infotafel oder Wechselwegweisungsanlage vorbeikommt. Dadurch kann die Route großräumig optimiert werden. Verkehrstechnische Maßnahmen und Umleitungsempfehlungen fließen vermehrt in die individuelle Navigation ein und unterstützen so das öffentliche Verkehrsmanagement. Dies betrifft in erster Linie speziell für Störungsszenarien ausgewiesene Alternativrouten, deren Akzeptanz dadurch erhöht wird. Allgemeine öffentliche Verkehrslenkungsstrategien wie Bündelung des Verkehrs auf dem hochrangigen Straßennetz und auf Netzelementen mit hoher Kapazität und Umfahren verkehrssensibler Bereiche und Vermeiden unerwünschter Ortsdurchfahrten werden auch ohne Strategielayer bereits in hohem Maß umgesetzt. Den positiven Wirkungen des Strategielayers für das individuelle Routing sind bei einem vollkommen überlasteten Netz, bei dem auch die öffentlichen Umleitungsempfehlungen keine ausreichende Kapazitäten mehr aufweisen, Grenzen gesetzt. In diesen Fällen sind keine Vorteile für den privaten Nutzer zu erwarten.
Störung des Verkehrsablaufs Zielführung im Fahrzeug Strategielayer Störfallerkennung Datenübertragung Reaktion auf Störfall Routenberechnung 5 Ausblick Voraussetzung für den effizienten Einsatz eines Strategielayers sind Kontrolle und Bedienung durch die öffentliche Hand innerhalb der zuständigen Verkehrsmanagementzentralen, wo die korrespondierenden kollektiven Verkehrsmanagementmaßnahmen zentral und kompetent umgesetzt werden. Um zukünftig Strategielayer mit einer Vielzahl von öffentlichen Umleitungsempfehlungen versorgen zu können, bedarf es einer Editierumgebung, die eine einfache, schnelle und konsistente Versorgung der öffentlichen Verkehrslenkungsstrategien ermöglicht. Die Chancen und Potentiale des Strategielayers sowohl für den privaten Nutzer als auch für die öffentliche Hand lassen sich neben den Störungsszenarien auf Autobahnen und Netzunterbrechungen im innerstädtischen Straßennetz auch auf die Netzsteuerung des überregionalen Fernverkehrs übertragen. So könnten z. B. dem Urlaubsreisenden zeitgünstige Alternativstrecken angeboten werden, die die Hauptverkehrsströme umgehen.