3 Die Unionsbürgerschaft

Ähnliche Dokumente
1. Freier Warenverkehr

13 Diskriminierungsverbot und Unionsbürgerschaft

EUV in der Fassung. des Vertrages von. Nizza Amsterdam Vertrages von. Amsterdam

Europa Handlungsrahmen für bürgerschaftliches Handeln vor Ort

Teilstoffplan Europarecht. für die. Arbeitsgemeinschaft 4.6 (Internationales Recht und Europarecht) (überarbeitet Mai 2015)

Abkürzungsverzeichnis... 15


Grundzüge des Europarechts. Prof. Dr. H. Goerlich WS

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus:

Professor Dr. Helmut Goerlich Europarecht (Grundzüge) WS 07/08

Übersicht: Die 4 Grundfreiheiten. Vorschlag für Prüfungsschema

EuR Fall Semestergebühren

Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union

Unionsbürgerrechte in der EU

Rn. Seite Vorwort... Vorwort zur 1. Auflage... Abkürzungsverzeichnis... XV Literaturverzeichnis... XXI Einführung in die Konzeption des Buches...

Das Recht der Gleichstellung von Mann und Frau in der EU

"Neu-EU-Bürger/-innen aus Bulgarien und Rumänien in Duisburg"

Das Ende der Inländerdiskriminierung im Freizügigkeitsrecht? Prof. Dr. Winfried Kluth Universität Halle-Wittenberg

Vertiefung im Internationalen Privatrecht. Internationales Familienrecht 4 Namensrecht

Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration

Arved Waltemathe. Austritt aus der EU. Sind die Mitgliedstaaten noch souverän? PETER LANG. Europäischer Verlag der Wissenschaften

Vorwort 5. Einleitung 13. Erster Teil Kultur im Verfassungsrecht 19. Kapitel 1 Zur Bestimmung eines rechtlichen Kulturbegriffs 21

Vorlesung: Sozialrecht

Vorlesung Staatsrecht II. Prof. Dr. Dr. Durner

Europarecht. Überblick über das Europarecht im engeren (EU) und weiteren Sinne, insbesondere Ziele und Struktur des Europarats

Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration

SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT. Beschluss

Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr

Zugang zum SGB II für Unionsbürger_innen

Zukunft nationaler Regelungen zur Förderung erneuerbarer Energien in Europa und deren Kompatibilität mit möglichen Förderinstrumenten der EU

GRUNDRECHTE Funktion Gewährleistungen Beschränkungen

EUROPÄISCHES PRIVATRECHT Universität Heidelberg WS 2011/12

Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten

Solidarisches Bürgergeld und Grundgesetz

Prof. Dr. Christian Schubel Wintersemester 2005/2006. Binnenmarktrecht. I. Allgemeiner Gleichheitssatz als ungeschriebener Rechtsgrundsatz

Wann findet die Wahl zum Europäischen Parlament auf dem Gebiet der Tschechischen Republik statt? ( 3 WahlG)

Deutscher Caritasverband

Grund- und Menschenrechte in Europa

Critical Parts. Teilvorhaben: Rechtliche Fragestellungen. Prof. Dr. iur. Elmar Giemulla Ass. iur. Juliane Holtz

Numerus clausus. Einleitung: Zugangsbeschränkungen. Frage 1: Artikel 12 EGV (1/16) Übungen im Europarecht Fall 10 vom 8. Mai 2008.

Das bundesdeutsche Anpassungsgesetz zur EU-DSGVO

Artikel 12 VO (EG) Nr. 883/2004

Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zur Bekämpfung der Spannungen an den Finanzmärkten

Optionspflicht aktuelle Entwicklungen. Falk Lämmermann

STELLUNGNAHME 16/1993 A50

Stärkung der öffentlichen Urkunde im Europäischen I. Rechtsraum

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Leistungen der Sozialhilfe an aus dem Strafvollzug entlassene Personen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit

DIE EUROPAWAHL 2014 IN DEUTSCHLAND NUTZEN SIE IHRE STIMME!

Europäisches Arbeitsrecht. SoSe Offene Methode der Koordinierung. System der Grundfreiheiten. 21./28. April 2009, S. 1

Das Grundrecht auf Datenschutz im Europarecht Wirkungen und Problemfelder. Ao. Univ.-Prof. Dr. Alina-Maria Lengauer, LLM

Die grenzüberschreitende Durchsetzung von Datenschutz in Europa - der Blick aus Europa

Modul 55208: Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht Vertiefung

Inhalt. Der Anspruch von Drittstaatsangehörigen auf Kindergeld, Elterngeld und Unterhaltsvorschuss

Europarecht. Dr. Christian Paschke LL.M.oec Hochschule Anhalt, SoSe 2015

Freizügigkeit von Unionsbürgern unter Druck

Fragensammlung ao. Univ.- Prof. Dr. Alina Lengauer, LLM.

Sozialleistungen für EU-BürgerInnen

FREIZÜGIGKEIT DER ARBEITNEHMER

Migrationsrelevante Freiheitsrechte der EU-Grundrechtecharta

Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Ja zur Einbürgerung Einbürgerungskampagne starten!

Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA): Die Situation von Roma EU-Bürgern, die in anderen Mitgliedstaaten leben

Europarecht. II. Unionsrecht Formen und Wirkung

Das. Grabitz/Hilf/Nettesheim. zungs. Verlag C.H, Beck im Internet: be.dc.de. Anschluss an die 43. Ergänzungslieferung März 2011.


Das Facebook Urteil des EuGH EuGH, Ut. v , Rs. C-352/14 (Schrems)

Begriff der Grundrechte

Vertiefung im Internationalen Privatrecht. Internationales Familienrecht 4 Namensrecht

Europäisches Vergabe- und Kartellrecht als Herausforderung für die deutsche Sozialversicherung

Prof. Dr. iur., LL.M., Direktor des Europa Instituts an der Universität Zürich

Vaiva Bernotaite. SUB Hamburg A 2008/8268

Inhaltsverzeichnis. A. Einleitung B. Europäische Ebene... 5

2 Unionsrechtliche Grundlagen der Entsendung

E U ROPARECHT. 20 Jahre Unionsbürgerschaft: Nomos. Werner Schroeder Walter Obwexer [Hrsg.]

Inhaltsverzeichnis. IL Der Weg zum zweiten Schengener Abkommen 22. IIL Überblick über den Inhalt des zweiten Schengener

I. Geschichte der Europäischen Integration

Art. 28 Abs. 1 UAbs. 2 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995

Europarechtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen des Diskriminierungsschutzes

WM) /TT] 4VD 41 fi /Hl il. ilb (PiUM if fr m/tlaklp. Karl Stöger (Hg.) Casebook Europarecht. 3., überarbeitete Auflage. Wien facultas.

Eines von mehreren Zielen der EU (Art. 3 III EUV) Definition: Raum ohne Binnengrenzen, Verwirklichung der Grundfreiheiten (Art.

Inhaltsverzeichnis. Die Grundrechte

Sitz: Strassburg Arbeitsorte: Strassburg, Luxemburg, Brüssel. Fraktionen Direktwahl seit 1979

Wirkungen einer gemeinsamen EU-Liste für sichere Herkunftsstaaten

Europäisches Währungsrecht

Das neue internationale Erbrecht der Europäischen Union

A. Rechtliches Gehör nach Art. 27 VO 1/2003

Wege des effektiven Flüchtlingsschutzes durch europäische und nationale Gerichte

Niedersächsischer Landtag

Jana Hammerschmidt (Autor) Kollision Allgemeiner Geschäftsbedingungen im Geltungsbereich des UN-Kaufrechts

Titel: Kein Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet durch abgeleitetes Recht von einem Kind mit einem EU-Bürger

Europäisches Jahr der Bürgerinnen und Bürger 2013: Unionsbürgerschaft auf lokaler und regionaler Ebene

Fall 10 Bananenmarkt Lösung

Zur Rechtswirkung gemischter Abkommen in der Unionsrechtsordnung Kompetenzverteilung und Gerichtszuständigkeit

Rheinische Arbeitsrechtstage. Anwerbung von ausländischen Fachkräften. Köln,

Anmerkungen zum EU-Vertrag von Lissabon

Christian Athenstaedt. Zur Zulässigkeit entwicklungspolitischer Maßnahmen deutscher Bundesländer und Kommunen

Rechtliche Rahmenbedingungen aus der Perspektive des Europarates und die Rolle der Mitgliedstaaten. Christoph Grabenwarter

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

NRW-Dialog über die UN-Behindertenrechtskonvention in Nordrhein-Westfalen. Politische Teilhabe behinderter Menschen

Inhaltsverzeichnis VII

Transkript:

I. Allgemeines zur Unionsbürgerschaft Eingeführt durch Vertrag von Maastricht in Art. 17 EGV, zuvor: lediglich Anerkennung von Marktbürgern Nunmehr normiert in Art. 20 ff. AEUV Im Gegensatz zu nationalen Staatsangehörigkeiten nur partikularer Charakter, nur Ergänzung der einzelnen Staatsbürgerschaften als weiterhin einzig letztverbindlicher umfassender und wechselseitiger Einstandspflicht

Unmittelbar statusbegründendes Rechtsverhältnis, da sich Rechte und Pflichten ohne Staatsvermittlung unmittelbar aus Unionsrecht ergeben Auswirkungen auf die nationalen Rechtsordnungen: - Ermöglichung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger - Einbeziehung von Unionsbürgern in Schutzbereich sog. Deutschengrundrechte? (str.)

II. Emanationen der Unionsbürgerschaft Freizügigkeits und Aufenthaltsrechte (Art. 21 AEUV) Recht auf Gleichbehandlung (Art. 18 AEUV) Kommunalwahlrecht der Unionsbürger in anderen Mitgliedstaaten (Art. 22 Abs. 1 AEUV) Wahlrecht zum Europäischen Parlament in anderen Mitgliedstaaten (Art. 22 Abs. 2 AEUV) Diplomatischer und konsularischer Schutz (Art. 23 AEUV) Petitionsrecht beim Europäischen Parlament in jeder EU- Amtssprache (Art. 24 AEUV)

III. Einordnung und Ausblick Bürgerstatus als Bezugspunkt einer jeden politischen Gemeinschaft Symbol einer Gemeinschaft als Solidargemeinschaft wie als politischer und sozialer Schicksalsgemeinschaft Ausdruck einer personal geprägten politischen Rechtsgemeinschaft Potenzial der Verdrängung der nationalen Staatsbürgerschaft oder Europa als zweite Heimat (Th. Oppermann)

IV. Recht auf Freizügigkeit Art. 21 AEUV Weiter als Grundfreiheiten, da nicht auf grundfreiheitlich geschützte Arbeitnehmer und Selbständige begrenzt (z. B. auch für Rentner, vgl. EuGHE 2006, I-685, Rs. C-520/04, Turpeinen, Rz. 16 f.): Grundfreiheit ohne Markt (Wollenschläger) Über Binnenmarktgedanke hinaus politisches Merkmal der Union Umfasst auch Rückkehrfreiheit ins Heimatland (vgl. EuGHE 2006, I- 10451, Rs. C-192/05, Tas-Hagen und Tas, Rz. 19, 24 f.; EuGHE 2006, I- 6947, Rs. C-406/04, De Cuyper, Rz. 35) Zahlreiche sekundärrechtliche Verbürgungen

Sachlich geschützt sind - Bewegung und Aufenthalt, also Einreise, freie Bewegung im Hoheitsgebiet, Ausreise, ständiger Aufenthalt, Recht auf Heimat - Kein Schutz vor Kontrolle bei Grenzübertritt - Kein Nachweis eines Aufenthaltszwecks erforderlich - Im Zweifel weit auszulegen

V. Problem: Zusammenspiel Freizügigkeit Diskriminierungsverbot (Art. 18 EUV) An sich: keine Schlechterstellung von Unionsbürgern ggü. Inländern im Aufenthaltsrecht (Gebot der Inländergleichbehandlung) Erfasst dies alle Handlungen, die in einem sachlichen Zusammenhang mit Aufenthalt stehen (Grundeigentumserwerb, soziale Sicherung) im Sinne vollständiger Gleichstellung (sog. Vollintegration)? Mögliche Lösung: Aufenthaltsrechtsverlust bei Wegfall der Existenzmittel nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Einzelfallprüfung möglich (vgl. EuGHE 2002, I-7091, Rs. C-413/99, Baumbast ; EuGHE 2002, I- 6191, Rs. C-244/98, D Hoop ; EuGH ZAR 2005, 416, Rs. C-258/04, Ioanidis ) Weiter umstritten: Auswirkungen auf Gleichbehandlung beim Zugang zu Sozialleistungen (vgl. z.b. EuGHE 2001, I-6193, Rs. C-184/99, Grzelczyk ; vgl. dazu aber jetzt Art. 24 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie Unionsbürger)

Beeinträchtigung Konkretes Aufenthaltsverbot Mittelbar nachteilig auswirkende Regelungen, wenn persönliche Unannehmlichkeiten, persönliche Kosten oder Verzögerungen die Inanspruchnahme der Freizügigkeit unwahrscheinlicher machen (z.b. Weigerung, die unter Namensrecht eines anderen Mitgliedstaates erfolgte Namensgebung anzuerkennen; vgl. EuGH, Urteil vom 14.10.2008, Rs. C-353/08, Grunkin und Paul ) Schranken Allg. Schrankenvorbehalt (übrige Vertragsbestimmungen, in den sekundärrechtlichen Durchführungsvorschriften geregelte Beschränkungen und Bedingungen) Verhältnismäßigkeitsprüfung als Schranken-Schranke: Abwägung von mitgliedstaatlichem und Individualinteresse

VI. Kommunalwahlrecht in anderen Mitgliedstaaten (Art. 22 AEUV) Ziel: Schaffung eines Europas der Bürger durch Stärkung und Erweiterung der demokratischen Teilhaberechte Politisches Kernstück der Unionsbürgerschaft: (ex-art. 19 I 2 EGV ivm RL 94/80/EG vom 19.12.1994 Betrifft ca. 20 Millionen außerhalb ihrer Heimat lebende Unionsbürger Beinhaltet grds. aktives wie passives Wahlrecht, Vorbehalt der nationalen Staatsangehörigkeit für Leitung kommunaler Exekutivorgane (Bürgermeister; Landräte) zulässig (Art. 5 III RL 94/80/EG) Unklar bei Abstimmungen in Form von Bürgerentscheiden

VII. Diplomatischer und konsularischer Schutz Ziel: Europäisierung des diplomatischen Schutzes Rechtsgrundlage: Art. 23 AEUV Geltung im Hoheitsgebiet eines Drittstaates, daher vertragliche Regelungen mit diesen erforderlich

VIII. Wahlrecht zum Europäischen Parlament in anderen Mitgliedstaaten (Art. 22 II AEUV) Ziel: Europäisierung der Europawahlen Konkretisiert durch RL 93/109/EG vom 06.12.1993 Aktives Wahlrecht in Wohnsitz oder Herkunftsmitgliedstaat Passives Wahlrecht ebenfalls nur in einem Mitgliedstaat Beschränkungen nach Art. 14 RL 93/109/EG für Mitgliedstaaten möglich, in denen staatsfremde Unionsbürger mehr als 20 % der Wahlberechtigten ausmachen (Luxemburg)