Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Heike Ließmann Wissenswert Unglaubliche Geschichte: Wie der Zwei-plus-Vier-Vertrag zustande kam von Michael Marek.2010, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecherin: Sprecher: 10-102 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.
2 O-Ton 1: Kundgebung Schöneberger Rathaus Deutschlandlied u.a. Brandt/Genscher/Kohl/Momper [Regie: harter Schnitt Übergang 3.Spr. auf Textstelle Deutschland über ] 10 Die Zeit, die uns damals verblieb, um zu experimentieren und die eigenen Kräfte zu erproben, war außerordentlich kurz. Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge. Viele fühlten sich fremd im eigenen Land. 20 Joachim Gauck, Mitbegründer des Neuen Forums und und von 1990 bis 2000 Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen: Sicher erklärt sich ihre Bitterkeit auch aus neu erfahrener Hilflosigkeit und Enttäuschung. Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten in Nordrhein-Westfalen auf. O-Ton 2: Fortsetzung Kundgebung 30 [Regie: über O-Toncollage von O-Ton 2 legen] Am 12. September 1990 unterzeichneten in Moskau die vier Sieger-mächte des Zweiten Weltkrieges, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR den sogenannten Zwei-plus-vier- Vertrag. Damit wurde Deutschlands Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten wiederhergestellt 45 Jahre nach Kriegsende:
3 40 50 Die zentralen Absichten des Vertrages lauten Selbstbestimmungsrecht und Völkerverständigung. Deutschland verzichtet auf atomare, biologische und chemische Waffen. Desweiteren reduziert das vereinte Deutschland seine Streitkräfte auf 370.000 Mann. Im Gegenzug erklärt sich die Sowjetunion bereit, ihre in Ostdeutschland stationierten Truppen vollständig abzuziehen. Deutschland wird das Recht auf freie Bündniswahl zugestanden. Und schließlich erkennen Deutschland und Polen die bestehende Oder-Neiße-Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag an. O-Ton 3: Hans-Dietrich Genscher Es war nicht nur so, dass die beiden deutschen Staaten beteiligt werden sollten, sondern ich legte Wert darauf, dass die beiden deutschen Staaten mit den Vier sprechen und nicht die Vier mit den beiden deutschen Staaten. Hans-Dietrich Genscher, damals Bundesaußenminister: 60 O-Ton 4: Fortsetzung Genscher Deshalb heißt es Zwei-plus-vier und nicht Vier-plus-zwei, weil ich in jedem Fall den Eindruck vermeiden wollte, dass, nachdem das deutsche Volk in einer wirklichen friedlichen Freiheitsrevolution den Willen zur Einheit artikuliert hatte, sich bei der Durchsetzung dieses legitimen Zieles sozusagen unter der Verhandlungshoheit von vier Staaten zu bewegen hatte.
4 70 80 Gleichwohl hatten sich die Westmächte zunächst uneinig gezeigt über die Gestaltung ihrer zukünftigen Deutschlandpolitik. Insbesondere Frankreich und Großbritannien waren unsicher und besorgt nicht zuletzt aufgrund ihrer historischen Erfahrung als zweimalige Kriegsgegner Deutschlands. Präsident Francois Mitterand befürchtete sogar, dass sich die Kräftebalance in Europa verschieben könnte: O-Ton 5: Daniel Vernet Mitterand war geprägt von der Geschichte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts. Daniel Vernet, Deutschlandexperte der französischen Tageszeitung Le Monde : 90 100 O-Ton 6: Fortsetzung Vernet Und seine Befürchtung war, und er hatte vielleicht nicht ganz Unrecht damit, dass Europa zum Anfang des Jahrhunderts, also vor Beginn des Ersten Weltkriegs zurückgehen könnte. Auf der anderen Seite wusste er, dass die Teilung Deutschlands unnatürlich war. Und dass die Wiedervereinigung, unterstützt von den Leuten in West- und Ostdeutschland, unwiderruflich war. Anders dagegen Margaret Thatcher. Die britische Premierministerin gab ihre Vorbehalte gegen den Zwei-plusvier-Vertrag nie ganz auf. Thatcher betrachtete das vereinte Deutschland mit Skepsis. Und sie befürchtete eine weitere Stärkung der deutschen Wirtschaft zu Lasten des nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten Gleichgewichts in Europa. Thatcher in einem Interview am 18. Juni 1990: O-Ton 7: Margaret Thatcher/voice-over Indeed, your German population would have to got 80 million and possibly expands from there and would be the dominant
5 110 in numbers and in political and economic power... (Interviewer: And is that worried you?) Yes! (Interviewer: It worries you! Why does it worry you?/regie: freistehend) I think in the community. 2.Sprecherin: [Regie: Übersetzung von O-Ton 7] 120 130 Im Falle der Wiedervereinigung gäbe es 80 Millionen Deutsche. Deutschland hätte damit eine beherrschende Stellung. Sicher, Deutschland ist eine gute Demokratie gewesen. Doch viele schauen ein wenig ängstlich auf das vereinte Deutschland. Das kann auch nicht überraschen, wenn man auf die Geschichte dieses Jahrhunderts zurückblickt, schließlich hat Deutschland den Ersten und Zweiten Weltkrieg begonnen. Deshalb muss Deutschland in der Nato bleiben. Deutschland ist Teil der Europäischen Gemeinschaft. Margaret Thatcher stand der Unterzeichnung des Zwei-plusvier-Vertrages äußerst kritisch gegenüber. Doch ihre Versuche, den Prozess der Vereinigung zu bremsen, scheiterten. Verantwortlich dafür: die Vereinigten Staaten. Sie waren es, die frühzeitig die Bedeutung des Mauerfalls erkannten: O-Ton 9: Christopher Mallaby Ich glaube, die Amerikaner haben die geschichtliche Wichtigkeit und die Breite der Wichtigkeit dieses Ereignisses von Anfang an gesehen. 140 Christopher Mallaby, damals britischer Botschafter in Bonn: O-Ton 10: Fortsetzung Mallaby Haben nicht nur über Deutschland gedacht, sondern über Kalten Krieg, über Warschauer Pakt, über sowjetische Bedrohung und Abschreckung usw. Sie haben also wirklich
6 geschichtlich oder strategisch gedacht. Und das war sehr wichtig und sehr positiv. 150 160 170 180 Unbestreitbar gehörte es zu den Verdiensten der USA, eine völkerrechtliche Vereinbarung zur deutschen Einheit vorangetrieben zu haben. Doch dies war nicht nur eine Freundschaftsgeste. Vielmehr wurde die US-amerikanische Deutschlandpolitik von eigenen Interessen geleitet. Die Vereinigten Staaten hatten sich von vornherein auf eine deutsche Mitgliedschaft in der Nato festgelegt, um den eigenen Einfluss zu sichern: die Nato als US-amerikanischer Anker in Mittel- und Osteuropa, der ohne Deutschland seine Wirksamkeit eingebüßt hätte. Auf Seiten der westlichen Alliierten kommt es zu Irritationen, als Bundeskanzler Kohl am 28. November 1989 im deutschen Bundestag seinen 10-Punkte-Plan vorstellt ohne die Alliierten vorher konsultiert zu haben. Er bietet der DDR eine umfassende Zusammenarbeit an - unter der Bedingung, dass ein grundlegender Wandel im politischen und wirtschaftlichen System der DDR beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt werde. Erstmals ist die Rede von einer Vertragsgemeinschaft. Mit diesem Vorschlag überrascht Kohl seine eigene Partei und den Koalitionspartner FDP, vor allem aber die westlichen Verbündeten. Helmut Kohl: O-Ton 12: Helmut Kohl Zum einen gab es hier den Vorwurf: Was machst Du denn da für Vorschläge, die sind ja überhaupt nicht abgesprochen? Wenn ich also viel herumtelefoniert hätte, wenn ich hier in Bonn große Sitzungen einberufen hätte in irgendwelchen Gremien bis hinzu Koalitionen, dann wäre das Ding kaputt gewesen. Es wäre dann sofort rausgetragen worden und in Diskussionen gezerrt worden. Und dann gab es ja auch stärkere Vorwürfe hier, als in etwa in Paris, in Washington oder anderswo: Du hast uns ja gar nicht gefragt! Das ist wahr,
7 ich habe bewusst nicht getan, denn ich hätte in einer Reihe von Fällen die Antworten voraussehen können. Und warum soll ich mich da mit negativen Antworten auseinandersetzen. Es war wichtiger ein fait à accompli in dieser Rede zu schaffen. 190 200 210 220 In Moskau traf Kohls 10-Punkte-Plan zunächst auf schroffe Ablehnung. Vor Beginn der Zwei-plus-vier-Verhandlungen wollte die Sowjetunion ihre Zustimmung zu einem vereinten Deutschland von dessen Bündnisfreiheit abhängig machen. So erklärte Michail Gorbatschow noch Anfang 1990 als Präsident der Sowjetunion und als Generalsekretär der KPdSU, dass der Beitritt Gesamtdeutschlands zur NATO unannehmbar sein. Doch schon bald musste die sowjetische Führung erkennen, dass ein Festhalten an dieser Position unrealistisch war: So sprechen sich im Januar 1990 Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei und Rumänien für die Wiedervereinigung aus. Und sie wünschen mit Ausnahme Rumäniens den Abzug sowjetischer Truppen von ihrem eigenen Territorium. Zudem geben immer mehr Verbündete des Warschauer Paktes ihren Widerstand gegen eine gesamtdeutsche Nato- Mitgliedschaft auf. Das vereinte Deutschland in den Warschauer Pakt aufzunehmen, erscheint ziemlich unrealistisch angesichts seines fortschreitenden Zerfalls. Zwar besteht auch der Sozialdemokrat und Außenminister der ersten freigewählten DDR-Regierung, Markus Meckel, auf einer Zustimmung der Sowjetunion zur Vereinigung... O-Ton 13: Markus Meckel Aber hier galt für mich recht früh, was ich dann auch bei meinem ersten Besuch in Moskau Herrn Schewardnadse gesagt habe: Dass wir als neue demokratisch gewählte Regierung nicht mehr die Junior-partner sind, auch nicht mehr Befehlen gehorchten. Ich habe ihm damals sehr klar
8 gesagt: Die deutsche Einheit wird kommen und wenn ihr versucht, sie zu bremsen, dann wird sie ohne euch kommen - und dann haben wir gemeinsam ein Problem, und deshalb kann es nur so sein, dass wir versuchen, diesen Prozess zu gestalten, aber nicht zu behindern und auch nicht zu verzögern. Das war eine ganz klare und wichtige Botschaft, und ich bin auch heute noch der Überzeugung, dass das richtig war. 230 Zwischen dem 14. und 16. Juli 1990 kam es in Moskau und dann im Kaukasus zu einem persönlichen Treffen zwischen Kohl und Gorbatschow: Beide verständigten sich in der schwierigen Frage der deutschen Nato-Mitgliedschaft. Mit wirtschaftlichen und finanziellen Hilfen versuchte die Bundesregierung die Sowjetunion kompromissbereit zu stimmen. Nach umfangreichen Lebensmittellieferungen 240 sorgte sie noch vor Kohls Kaukasus-Besuch für einen Finanzkredit von fünf Milliarden D-Mark. 250 Gorbatschows Zustimmung zur Wiedervereinigung bedeutet den Durchbruch. Sie ist keineswegs uneigennützig. Das Nachgeben des Generalsekretärs der KPdSU zielt auf Kooperation und internationale Entspannung, um sich im Innern der Lösung drängender Probleme widmen zu können: vor allem der Wirtschaftsreform und der Überwindung autoritärer Strukturen in Staat und Partei. Zudem bedrohen aufflackernde Nationalitätenkonflikte den Erhalt der Sowjetunion und die baltischen Republiken sind dabei, sich abzuspalten.
9 260 270 280 290 Um den Überleitungsvertrag nicht zu gefährden, werden schließlich weitere 15 Milliarden D-Mark für die Aufenthaltsund Transportkosten des russischen Militärs in der DDR bereitgestellt sowie für den Bau neuer Unterkünfte in der Sowjetunion. Der Eindruck, damit wäre die Zustimmung der UdSSR erkauft worden, sei aber falsch, betonte der damalige stellvertretende sowjetische Außenminister Jurij Kwizinskij 1993: O-Ton 14: Jurij Kwizinskij Dass, was die deutsche Seite bezahlt hat, waren verhältnismäßig kleine Summen für festumrissene Zwecke. Das war der Wohnungsbau für unsere abzuziehende Armee. Das waren einige Milliarden die Finanzierung für den Verbleib der Truppen während der Übergangsperiode, weil es für die Sowjetunion schwierig gewesen wäre, diese Summen in Valuta aufzutreiben. Ansonsten gab s doch nichts. Man kann uns doch nicht vorwerfen jedenfalls, dass wir für irgendeine nennenswerte Summe die DDR an den Westen verkauft haben. Politisch umstritten ist bis heute eine andere milliardenschwere Entscheidung der Bundesregierung: Die sowjetische Regierung, so Kanzler Kohl, habe der Wiedervereinigung und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag nur unter einer Bedingung zugestimmt: dass die Bodenreform in der sowjetisch besetzten Zone zwischen 1945 und 1949 nicht rückgängig gemacht werde. Folglich mussten nach dem Fall der Mauer auch keine Entschädigungen an die früheren Besitzer oder ihre Erben gezahlt werden. Dass jedenfalls behauptet der frühere Bundeskanzler bis heute. Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt die Mühlheimer Politologin und CDU-Stadträtin Constanze Paffrath: O-Ton 16: Constanze Paffrath Ich glaube, daß es keine Bedingung zur Wiedervereinigung
10 gegeben hat, die da besagt hat: Wenn ihr das Eigentum an die Eigentümer zurückgebt, dann werden wir, also die Sojwetunion, der Wiedervereinigung nicht zustimmen! Kohl hat ja, oder die Bundesregierung-Kohl und maßgebliche Vertreter haben ja über lange Jahre behauptet, daß dies 300 zentrale Bedingung zur Wiedervereinigung gewesen ist. Und meine Forschungen lassen das nicht erkennen. Und insofern sagt da Helmut Kohl über lange Jahre die Unwahrheit. Die Regierung Kohl hatte das Rückgabeverbot schon vor den offiziellen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen geplant, also vor den Verhandlungen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs und der DDR. Zu keiner Zeit wurde ernsthaft daran gedacht, den verfassungsmäßigen Auftrag der Entschädigung oder Rückgabe zu erfüllen. Die Regierung Kohl habe mit ihrer 310 vorgetäuschten Zwangslage eigene Ziele verfolgt, so Constanze Paffrath: O-Ton 19: Constanze Paffrath Ich glaube, dass es ein Plan gewesen ist, der schon relativ früh in den Köpfen einiger weniger innerhalb der Bundesregierung Kohl entstanden ist, dieses Vermögen, was man auf 600 Milliarden damals noch D-Mark geschätzt hat, erst einmal in die Hand des Staates zu bringen, es zu belassen... Und nur so konnte Kohl... behaupten, dass die Einheit den deutschen Steuerzahler keinen Pfennig kosten
11 320 würde im Gegensatz zu seinem Konkurrenten Lafontaine, der ja schon relativ genau von diesen möglichen Kostensummen sprach. Schaut man aus der zeitlichen Distanz noch einmal auf die unterschiedlichen Interessen der Verhandlungspartner zurück, dann wird erst deutlich, welche Konflikte sich hinter den Zwei-plus-vier-Verhandlungen verbargen. Umso mehr muss auch heute noch das Er-gebnis erstaunen, mit dem die Nachkriegsära endete. Es wurde erzielt in einem 330 beispiellosen Verhandlungsmarathon, stets unter dem Druck der innerdeutschen Ereignisse und der steten Gefahr einer Gegenrevolution in Moskau. Noch immer beeindruckt, dass die Sowjetunion am Ende fast bedingungslos einer Vereinigung Deutschlands zugestimmt hat - nach westlichen Plänen, die sie jahrzehntelang strikt abgelehnt hatte. Ohne diese Wende in der sowjetischen Deutschlandpolitik würde es heute ein souveränes Deutschland als Mitglied der Nato nicht gegeben.