Wer fährt wo? Einflüsse von Erfahrung und äußeren Merkmalen auf die kognitive Repräsentation einer Verkehrssituation Josef F. Krems TU Chemnitz krems@phil.tu-chemnitz.de Martin Baumann DLR Martin.baumann@dlr.de
Situationsbewusstsein beim Autofahren Situationsbewusstsein: Knowing what is going on around you (Endsley, 2000) Situationsbewusstsein ist eine Voraussetzung für die erfolgreiche Bearbeitung von Aufgaben in dynamischen Situationen Beim Autofahren: Situationsbewusstsein unterstützt den Fahrer in angemessener und zeitnaher Weise auf relevante Umweltinformationen zu reagieren Problem: Wie wird Situationsbewusstsein aufgebaut, aufrechterhalten, aktualisiert?
Endsleys (1995) Modell des Situationsbewusstseins (Aus: Endsley, 1995)
Wie wird Situationsbewusstsein aufgebaut? SA is the product of different cognitive processes and at the same time directs these processes. Mental representation of situation (Situation Model) (Baumann & Krems, 2007) Guides attention to relevant environmental information Updating Processing & interpretation in light of Situation Model Perception of information Bottom-up processes
Situationsbewusstsein als Verstehensprozess real situation comprehension process perception attention Pattern recognition memory working memory long-term memory goals expectations knowledge situation model situation model action decision (e.g., Baumann & Krems, 2007; Durso et al., 2007)
Situationsbewusstsein als Verstehensprozess Notwendig für die Integration neuer Information in das Situationsmodell neue Information damit verknüpfte Information im Langzeitgedächtnis (LTM) und damit in Beziehung stehende Information im bisherigen Situationsmodell muss im Arbeitsgedächtnis (WM) verfügbar sein Problem: Kapazitätsgrenzen des WM Annahme: Erfahrene Fahrer können LTM nutzen, um Kapazität des Arbeitsgedächtnisses zu erweitern Long-term working memory Theorie (Ericsson & Kintsch, 1995)
Long-term Working Memory (Ericsson & Kintsch, 1995) Domänenexperten können Teile des Langzeitgedächtnisses als Arbeitsgedächtnis nutzen Voraussetzung: Retrieval Structures = Assoziationsstrukturen im Langzeitgedächtnis, die mit Abrufhinweisreiz verknüpft Strukturen erlauben schnelle Enkodierung von Information ins LTM Durch eine Abrufoperation werden alle Informationen verfügbar, die über die Retrieval Structure mit Abrufhinweisreiz verbunden diese Informationen stehen dann weiteren kognitiven Prozessen zur Verarbeitung zur Verfügung Speicherung im LTM als Nebenprodukt! ( incidental memory ) Beispiel: Textverstehen
Focus of our model Model makes clear the importance of working memory resources for constructing and maintaining situation model During driving demands on working memory resources stem from Driving task itself Additional tasks, such as IVIS tasks Complexity of driving task and demands of additional tasks influence construction and maintenance of situation model
Chemnitzer Studien zu Situationsbewusstsein 1. Ein kognitionspsychologisches Modell von Situationsbewusstsein (Baumann & Krems, 2007) 2. Experimentelle Untersuchung zur Wirkung von Ablenkung auf Situationsbewusstsein (Baumann, Urbas & Krems, 2006) 3. Situationsbewusstsein und Zusatzaufgaben (Baumann, Rösler & Krems, 2007 4. Methoden zur Erfassung visueller und kognitiver Anforderungen (Baumann, Rösler, Krems & Keinath, 2005) 5. Komplexität von Verkehrssituaitonen und Relevanz von Verkehrselementen (Rösler, 2008) 6. Die Auswirkung kognitiver Belastung auf die Antizipation von Verkehrsereignissen (Petzoldt & Baumann, 2008) 7. Der Einfluss von Erfahrung, Relevanz und Unterbrechungsdauer auf die mentale Repräsentation der Verkehrssituation (Baumann, Franke & Krems, 2008)
Ein Beispiel: Spielt LT-WM für die Konstruktion Situationsmodells beim Autofahren eine Rolle? Wenn ja, sollten sich Spuren der LTM-Nutzung während des Verstehensprozesses nachweisen lassen Dazu: Unterbrechung der Fahrsimulation und Abfrage von Informationen nach unterschiedlich langem Unterbrechungsintervall Während Unterbrechungsintervall: WM-Aufgabe Faktoren Erfahrung Relevanz der Information Abrufbedingung Unterbrechungsdauer
Hypothesen Erfahrene Fahrer sollten insbesondere relevante Informationen mit bestehendem Wissen effizienter verknüpfen können Erfahrung x Relevanz Erfahrene Fahrer sollten durch Hinweisreize beim Abruf mehr profitieren, insbesondere wenn relevante Information abgefragt wird Erfahrung x Relevanz x Cue Erfahrene Fahrer sollten durch Unterbrechungsdauer weniger in Erinnerungsleistung beeinfluss werden Erfahrung x Unterbrechungsdauer
Methode 20 erfahrene Fahrer (Lebensfahrleistung 187,000 km) und 20 weniger erfahrene Fahrer (Lebensfahrleistung 2620 km) Fahrszenario im Fahrsimulator 3-spurige Autobahn Probanden instruiert, Geschwindigkeit von 110 km/h zu halten Fahren in der mittleren Spur Langsamere Fahrzeuge auf der mittlere Spur sollen, wenn möglich, überholt werden
Methode Simulation wurde mehrmals für 2 oder 20 sec unterbrochen
Methode Probanden wurden nach Unterbrechung nach der Anzahl der Fahrzeuge auf 4 verschiedenen Positionen gefragt Die Relevanz der Positionen wurden klassiziert, relevant basierend auf der Relevanz des Verkehrs für die Fahraufgabe???? irrelevant
Methode Zum Zeitpunkt der Abfrage, informativer oder wenig informativer Hinweisreiz Informativer Hinsweisreiz Wenig informativer Hinweisreiz
Ergebnisse Erfahrung x Relevanz
Ergebnisse Erfahrung x Relevanz x Cue
Ergebnisse Erfahrung x Unterbrechungsdauer
Diskussion und Schlussfolgerungen (I) Ergebnisse weisen darauf hin, dass LTM in Aufbau von Situationsbewusstsein auf Manöverebene involviert Effekte von Erfahrung, Relevanz, Cue Involvierte LTM-Strukturen nicht für das längerfristige Halten von Infos geeignet Unterbrechungsdauer wirkt sich auf erfahrene und weniger erfahrene Fahrer vergleichbar aus Angepasst an Dynamik des Verkehrsgeschehens
Diskussion und Schlussfolgerungen (II) Erfassung von Situationsbewusstsein durch Freezing - Techniken (Unterbrechung der Simulation), vgl. SAGAT (Endsley, 1995) Auf Manöverebene sind Informationen über diese Verfahren nur bedingt erfassbar Einbeziehung impliziter Maße (z.b., Fahrleistung) notwendig Welche Art von Retrieval Structures werden genutzt?
Zu guter Letzt Wir präsentierten die Grundstruktur eines kognitiven Modells zum Situationsbewusstsein im Fahrkontext Das Modell spezifiziert die Gedächtnisprozesse, die in der Konstruktion, und fortlaufenden Aktualisieurng der mentalen Repräsentation einer Situation beteiligt sind Es macht Aussagen darüber, wie die Wahrnehmung und Interpretation einer Situation mit der Auswahl von Aktionen verknüpft ist
Zu guter Letzt Die Beschreibung der kognitiven Prozesse, die dem Situationsbewusstsein in Fahrkontexten zugrunde liegen macht es möglich spezifische Annahmen darüber zu formulieren, wie die einzelnen Funktionen des Situationsbewusstseins realisiert werden; die Ressourcen und Prozesse genauer zu spezifizieren, die für die Fahraufgabe relevant sind Faktoren zu identifzieren, die den Gütegrad des Situationsmodells beeinflussen spezifische Vorhersagen über den Einfluss zusätzlicher Aufgaben (z.b. IVIS) auf die primäre Fahraufgaben zu formulieren
Also Mica Endsleys Konzept der Situation awareness ist in hohem Maß unterspezifiziert dennoch: Es ist ein wissenschaftlich fruchtbares Konzept, das den Fokus auf die kognitive Prozesse lenkt, für deren wissenschaftliche Beschreibung allerdings neuere Ansätze aus der Gedächtnisund Aufmerksamkeitsforschung einschlägig sind.
Danke für die Aufmerksamkeit