Herausforderungen des Arzneimittelmarktes in Deutschland Reinhard Busse, Prof. Dr. med. MPH FFPH FG Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin (WHO Collaborating Centre for Health Systems Research and Management) & European Observatory on Health Systems and Policies
Arzneimittel - ein besonderes Spannungsfeld 1957-1961 wurde Contergan als Beruhigungsmittel insbesondere für Schwangere vertrieben (bis Juli 1961 rezeptfrei!) Bis zu 10.000 Kinder kommen stark behindert zur Welt, davon 4.000 in Deutschland Die Regierung reagiert: ein Gesundheitsministerium wird eingerichtet und kontrollierte Studien wie in den USA (wo Contergan nie zugelassen war) verpflichtend zur Zulassung
Arzneimittel - ein besonderes Spannungsfeld Öffentliche Gesundheit(Arzneimittel mit besonderen Anforderungen an Wirksamkeit, Sicherheit, Qualität des Produktes; Apotheken für sicheren Vertriebsweg und Zugang; Apotheker als Qualitätssicherer) BM Gesundheit (seit 1961)/ DG Santé(seit 2010) Wirtschaft/ Ökonomie(Arzneimittel als innovative und handelbare Produkte) BM Wirtschaft/ DG Enterprise (bis 2009) Soziale Sicherung(Kostenübernahme aus Patientensicht Leistungskatalog vs.kosten aus Sicht der öffentlichen Zahler Kosten-Nutzen-Überlegungen) BM Gesundheit (seit 1991)/ DG Employment
Regulierungs-Sphären für Arzneimittel und Apotheken EU-Recht Gesundheitsrecht Nationales Recht Wirtschaftsrecht Sozialrecht 4
EU Der nationale Arzneimittelmarkt: zwischen EU-Recht und Sozialversicherungsrecht Patentschutz Marktzulassung Nationaler Arzneimittelmarkt Werbung Pharmakovigilanz Großhandelsvertrieb Einstufung (z.b. Rezeptpflicht) Öffentlich finanziertes System (Gesetz. Krankenversicherung) Preissetzung direkt und indirekt (Erstattungs-/ Festbeträge) Erstattung (Positiv-, Negativlisten, Zuzahlungen, Budgets) Verschreibung & Abgabe
F & E eines Arzneimittels Zulassung Wirkstoffforschung Präklinische Tests Klinische Tests/ Studien Phase I Phase II Phase III Studien mit Gesunden (Sicher- Studien mit wenigen Kranken Studie(n) mit vielen Kranken heit, Verträglichkeit, Entwicklung (Test am Patienten/Wirksamkeit) (Wirksamkeit / Sicherheit) der Darreichungsform) Prä- Klinisch Klinisch Europäisches Verfahren (EMA) Zulassungsverfahren Behördliche Genehmigung auf Basis der 3 klinischen Phasen Verfahren der gegenseitigen Anerkennung (BfArM) Nationales Verfahren (BfArM) Marktzugang (Deutschland) bzw. Entscheidung über Kostenerstattung
F & E eines Arzneimittels Zulassung Jahre 0 1 Forschung 2 3 Synthese und Screening von 6.000 8.000 neuen aktiven Substanzen ~20 aktive Substanzen erreichen Präklinische Tests Patentschutz 4 5 6 7 8 9 10 11 Entwicklung Markteinführung Vermarktung ~7 Substanzen in klinischen Studien Phase I ~3-4 Substanzen in klinischen Studien Phase II 2 Substanzen in klinischen Studien Phase III 1 Medikament Zulassung (zumeist europäisch) 1 Medikament Quelle: Pharma Information, Pharma-Markt Schweiz 2003, S. 37. 7
Der Fortschritt in der Pharmaforschung zielt auf bestimmte Targets Mature TAs Therapy Area Heat Map high Smoking Cessation Obesity Alzheimer Stroke Innova ation Signs of Aging Weight Parkinson High-Mortality Cancers Control Sexual Health MI COPD Diabetes Rheuma (RA) HIV Hormone Tx Osteoporosis Sleep Depression Psychoses & Anxiety UUI Asthma CHF, Lower Mortality Ulcer IBD Arrhythmia Cancers Allergy Control OA/ Pain Anemia Fertility Control Lone HTN, HL Hematology Anti-bacterials incremental low Unmet Medical Need high Source: IMS Study New Commercial Models 2008 in 8 Healthcare Markets (US, CAN, EU 5, Japan)
Derzeit werden wieder mehr Wirkstoffe zugelassen mit Krebs als größter Indikation
Insbesonderebrauchenwiraber neueantibiotika, die jedochmöglichstkaumgenutztwerdensollten, um der immer schnelleren Resistenzentwicklung zu begegnen
Was wird sich hier ändern? Vermutlich nichts gravierendes (außer das die EMA wg. Brexitverlegt werden muss; Berlin, Bonn und viele andere Städte in Europa sind interessiert) Europäisches Zulassungsverfahren wird das entscheidende bleiben, insbesondere da dies in wichtigen Bereichen (z.b. Onkologie) verpflichtend ist; G7-Länder etc. intendieren, Antibiotika-Forschung zu inzentivieren Zunehmende Diskussion um Schaffung von klinischen Daten, die nach der Zulassung für Erstattungsentscheidung genutzt werden können (z.b. Head-to-Head-Studien statt Plazebokontrollierter Studien) EMA, Canary Wharf, London
Nun zu Deutschland
Deutschland hat (absolut) die höchsten Arzneimittel-Ausgaben pro Kopf in den EU15-Ländern
und auch relativ (gemessen am BIP) sind sie überdurchschnittlich hoch
Aber wie können wir das erklären? Vor allem: haben wir ein Mengen- oder Preisproblem? x produzierte Menge Herstellerabgabepreis = Produktion + (- Export + Import) Großhandels- und Apothekenaufschlag + ggf. MwSt. = Offizieller Apothekenabgabepreis (Listenpreis) - gesetzliche und verhandelte Rabatte Arzneimittelkonsum Oft gemessen in Packungen, aber besser in definierten täglichen Dosen DDD = x (tatsächlicher) Preis = = Umsatz Arzneimittelausgaben (in ; in Kaufkraftparitäten; als % der Gesundheitsausgaben; als % des BIP) - Zuzahlungen & direkte Käufe = Öffentliche AM-Ausgaben (GKV)
Distribution und Finanzierung von Arzneimitteln (schon etwas ältere Daten) und die Welt ist seitdem eher komplizierter geworden! Quelle: vfastatistics2011 und die dort angegebenen Quellen
Arzneimittelmarktsegment Arzneimittelmarktsegment: eine vereinfachte Darstellung (I)
Arzneimittelmarktsegment Arzneimittelmarktsegment: eine vereinfachte Darstellung (II)
Arzneimittelmarktsegment Arzneimittelmarktsegment: eine vereinfachte Darstellung (III)
Arzneimittelmarktsegment Arzneimittelmarktsegment: eine vereinfachte Darstellung (IV)
Arzneimittelfestbeträge GKV-Erstattungsobergrenze mind. 30% Festbetrag Aufzahlung 35 SGB V Patienten-Anteil GKV-Anteil Zuzahlung 61 SGB V (10% bis FB, mind. 5, max. 10) Patienten-Anteil Wirksames Instrument Zusätzlicher Anreiz, den FB auf höchstens 70% zu senken, jedoch bei insgesamt zurück gehenden Preisen (und vielen Rabattverträgen) zurück gehend wieder steigende Zuzahlungen der Patienten
<50% bekommen Zusatznutzen attestiert (oft nur für eine Subgruppe) Gesetzgeber spricht von Rabatt, aber Erstattungsbetrag ist neuer Preis
Bereich des Ausgabenvergleichs der OECD
Arzneimittelmarktsegmente nach Packungen vs. Umsatz 46% Packungen 42% 12% 83% Umsatz 12% 6%
Arzneimittelmarktsegmente in der GKV nach Umsatz und definierten Tagesdosen (DDD) 10% DDD 90% 50% Umsatz 50%
42 39 36 GKV-Arzneimittelverordnungen: Tagesdosen (DDD) Jeder GKV- Versicherte bekommt jeden Tag 1 DDD auf Rezept jeden Tag 1,5 DDD auf Rezept 33 30 Definierte Tagesdo osen (in Mrd.) 27 24 21 18 15 12 9 6 3 0 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 DDD Gesamtmarkt (in Mrd.) DDD Generikamarkt (in Mrd.) DDD Patentgeschützte Arzneimittel (in Mrd.)
GKV-Arzneimittelverordnungen: Umsatz (als % des BIP) 1,4 1,3 1,2 1,1 1,0 Umsatz Arzneim mittel (in % am BIP) 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Umsatz Gesamtmarkt (in % am BIP) Umsatz Generika (in % am BIP) Umsatz Patentgeschützte Arzneimittel (in % am BIP)
Definierte Ta agesdosen (in Mrd.) 42 39 36 33 30 27 24 21 18 15 12 9 6 3 0 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 1,4 1,3 1,2 1,1 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 UmsatzArzneimittel(in % am BIP) DDD Gesamtmarkt (in Mrd.) DDD Patentgeschützte Arzneimittel (in Mrd.) Umsatz Generika (in % am BIP) DDD Generikamarkt (in Mrd.) Umsatz Gesamtmarkt (in % am BIP) Umsatz Patentgeschützte Arzneimittel (in % am BIP)
100 Im neusten Vergleich von durchschnittlichen BIP-gewichteten Listenpreisen für 250 umsatzstärkste patentgeschützte Präparate (2015) bleibt Deutschland oben 100 90 91 80 81 80 79 78 78 70 60 71 69 50 40 30 20 10 0 Deutschland Finnland Niederlande Großbritannien Frankreich Österreich Belgien Dänemark Schweden Quelle: AVR 2016
Bei den deutschen Top 10 ist der Preis innerhalb der 9 Länder 9x am höchsten Quelle: AVR 2016
Hier die Auswertung für die 189 Präparate ohne Erstattungsbetrag 100 100 90 92 80 70 81 80 78 78 77 72 70 60 50 40 30 20 10 0 Deutschland Finnland Niederlande Frankreich Großbritannien Österreich Belgien Dänemark Schweden Quelle: AVR 2016
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Hier die Auswertung für die 189 Präparate ohneerstattungsbetrag mitherstellerrabatt, Rabatte für Preiserhöhungen etc. 100 92 92 81 80 78 78 77 Deutschland Finnland Niederlande Frankreich Großbritannien Österreich Belgien Dänemark Schweden 72 70 Quelle: AVR 2016 und ergänzend de Auswertungen
... und hierfür die 61 Präparate miterstattungsbetrag(basis: Listenpreis!) 100 100 90 89 80 84 70 60 79 79 79 76 69 65 50 40 30 20 10 0 Deutschland Finnland Großbritannien Österreich Niederlande Belgien Frankreich Dänemark Schweden Quelle: AVR 2016
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0... und hierfür die 61 Präparate miterstattungsbetrag unterberücksichtigungvon Erstattungsbetrag und anderer gesetzlicher Rabatte 100 75 89 84 79 79 79 Deutschland Finnland Großbritannien Österreich Niederlande Belgien Frankreich Dänemark Schweden 76 69 65 Quelle: AVR 2016 und ergänzend de Auswertungen
Vereinfachtes Schema für Arzneimittelbewertung mit Preis (z.b. Schweden oder UK) ohne Preis (ins. Deutschland und Frankreich) Nutzen (auch für Subgruppen & einzelne Indikationen) Zusatznutzen (im Vergleich; auch für Subgruppen & einzelne Indikationen) Kosten-Nutzen (im Vergleich; auch für Subgruppen) Preis erstattungsfähig nur erstattungsfähig für bestimmte Patientengruppen Indikationen Versorgungszentren nur erstattungsfähig im Rahmen von Forschung (zur Gewinnung weiter Daten) nicht erstattungsfähig
Vereinfachtes Schema für Arzneimittelbewertung mit Preis (z.b. Schweden oder UK) ohne Preis (insb. Deutschland und Frankreich) Nutzen (auch für Subgruppen & einzelne Indikationen) Zusatznutzen (im Vergleich; auch für Subgruppen & einzelne Indikationen) erstattungsfähig Kosten-Nutzen (im Vergleich; auch für Subgruppen) nur erstattungsfähig für bestimmte Patientengruppen Indikationen Versorgungszentren nur erstattungsfähig im Rahmen von Forschung (zur Gewinnung weiter Daten) nicht erstattungsfähig Preis I II III IV V wesentlicher therapeutischer Fortschritt deutliche Verbesserung mäßige Verbesserung geringfügige Verbesserung keine Verbesserung Preissetzung/ -verhandlung in Abhängigkeit von (Zusatz-)Nutzen Zusatznutzen
Unser Problem: Trotz Subgruppen-Analysen erstatten wir Arzneimittel für alle Subgruppen nicht-kosten-effektiver Einsatz; erschwert Fortschritte für personalisierte Medizin
Zulassung (europ.) Erstattungsfähigkeit (nat.) Die Arzneimittelversorgung in der deutschen GKV weist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine sehr geringe Verzögerung zwischen Marktzulassung eines neuen Arzneimittels und der tatsächlichen, öffentlich finanzierten Nutzung dieses Präparates auf. Eine Erstattungsfähigkeit besteht für praktisch alle Präparate und je Produkt für alle zugelassenen Indikationen, während Einschränkungen auf bestimmte Indikationen oder Patientengruppen in anderen Ländern häufig auftreten.
Verfügbarkeit von 2006-2010 neu zugelassener Medikamente Erstattungsfähigkeit/ Verfügbarkeit >95%; <3 Monate 85%; 6Monate Ca. 50%; 9 Monate Durchschn. Zeit nach Zulassung (Monate)
Verfügbarkeit von 2015 neu zugelassener Medikamente und das ist auch seit dem AMNOG noch so hier Daten zur Erstattung und zum Preis der 2015 in Europa neu eingeführten Arzneimittel mit Stand November 2016 (IMS): In Deutschland waren 24 von 29 (83%) erstattungsfähig verfügbar in Dänemark und Großbritannien 26, in den Niederlanden 22, in Schweden 12, in Italien 9, in Spanien 6 und in Frankreich 5 (17%). 14 der 24 Präparate (58%) erzielten gegenüber der Vergleichstherapie einen um mind. 21% höheren Preis (zum Vergleich: in Dänemark 11 der 26 und in Großbritannien 12 von 26; Schnitt aller Länder = 50%).
Letztes Thema: Vertriebswege von Medikamenten und ihre Vergütung Herstellerabgabepreis Großhandels- (höchst)preis Apothekenverkaufspreis Apotheke Hersteller Großhändler Versandhandelsapotheke Patient Krankenhaus 22. Juni 2016 Management im Gesundheitswesen - Industrie 41
Apotheken, Apotheker - und ihre Vergütung Apotheken erhalten 3% und feste Summe von 8,35 pro Medikament; nur ausländische Versandapotheken dürfen Rabatt geben Versandhandelsverbot wäre falsche Antwort gewesen (und entgegen den Bedürfnissen vieler chronisch Kranker) Stattdessen sollten Aufgaben für Apotheken & Apotheker sowie die entsprechende Vergütung reformiert werden: unterschiedlicher Aufschlag nach Beratungsaufwand, Pauschale/ chronischer Patient Vergütung als %- Aufschlag AT, FI, GR, IT PL, ES, SE Feste Vergütung/ Medikament + %-Aufschlag DE, FR, IE, PT Trennung der Vergütung für Abgabe und Beratung, weitere vergütungsfähige Leistungen NL, UK DE bis 2003 DE in Zukunft?
Statt einer Folie mit Schlussfolgerungen (die es so wegen der Vielfältigkeit nicht geben kann) jetzt bitte Diskussion
Folien unter www.mig.tu-berlin.de Kapitel 7