Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-1 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) 10 Staatliche Umverteilung 101 Umverteilung im Sozialplanermodell Für einen sozialen Planer folgt ein Umverteilungsmotiv aus jeder sozialen Wohlfahrtsfunktion, die einen positiven Grad der Ungleichheitsaversion hat (ρ > 0; vgl Kap 324) Selbst bei einer additiven sozialen Wohlfahrtsfunktion (ρ = 0) folgt ein Umverteilungsziel dann, wenn alle Individuen die gleiche Nutzenfunktion haben und der Grenznutzen des Einkommens sinkt Aber: Umverteilung mit Einkommensteuern und Transfers führt zu Effizienzverlusten durch Steuervermeidung (Substitution von unbesteuerter Freizeit für besteuerten Konsum) Dies gilt sowohl für Nettozahler als auch für Nettoempfänger des staatlichen Umverteilungsplans = Dadurch ergibt sich für den sozialen Planer ein Zielkonflikt zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit (equity-efficiency trade-off) A Okun (1975): Bild des Eimers mit Loch (leaky bucket): beim Transport/Transfer geht etwas verloren Die formale Lösung dieses Problems erfolgt in der Theorie der optimalen (umverteilenden) Einkommensbesteuerung (Mirrlees, 1971) Hier werden nur der Ansatz und die Ergebnisse vorgestellt
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-2 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Theoretisches Modell (Acocella, Kap 114, vereinfachte Version) zwei Individuen i {1, 2} mit unterschiedlichen Produktivitäten bzw Bruttolohnsätzen w 1 < w 2 reines Umverteilungsziel des Staates: lineare Einkommensteuer mit Steuersatz t finanziert einheitlichen Transfer g für jedes Individuum 2-stufige Maximierung (Lösung durch Rückwärtsinduktion): 1 Sozialplaner maximiert soziale Wohlfahrtsfunktion und legt optimalen Steuersatz t und damit (über Budgetausgleich des Staates) pro-kopf-transfer g fest 2 beide Individuen maximieren Nutzen über Freizeitkonsum f i = 1 l i und Güterkonsum c i = ω i l i + g mit ω i w i (1 t) als Nettolohn Ergebnis: Der Steuersatz und der Transfer sind hoch, wenn 1 der soziale Planer eine hohe Ungleichheitsaversion hat (ρ ist groß) Aufgabe 5 auf Übungsblatt 2 2 die Nettolohnelastizität des Arbeitsangebots bei beiden Individuen gering ist (geringes excess burden) Abbildung 101
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-3 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) A w w(1 t) l B w w(1 t) l A: unelastisches Arbeitsangebot B: elastisches Arbeitsangebot Abbildung 101 Excess burden der Besteuerung
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-4 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Empirische Evidenz Tabelle 101 zeigt: 1 Weitgehend konstante Belastung des durchschnittlichen Arbeitseinkommens 2 Stark reduzierte Steuersätze auf Kapitaleinkommen Gründe für diese Entwicklung: Hohe internationale Mobilität des Faktors Kapital Steuerwettbewerb um die Ansiedlung von Unternehmen führt zu stark sinkenden Körperschaftsteuersätzen Geringe internationale Mobilität des Faktors Arbeit Gegenläufige Entwicklungen: Versuch der steuerlichen Entlastung, um Arbeitslosigkeit zu senken, aber gleichzeitig hoher Finanzierungsbedarf des Staates = Diese Entwicklungen sind mit dem Sozialplanermodell gut zu beschreiben, da die Elastizität der Kapitalsteuerbasis gestiegen ist ( Abbildung 101) Es ergeben sich aber potenziell negative Rückwirkungen auf die Homogenität der Einkommensverteilung Abschnitt 103
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-5 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) statutory corporate tax wedge income tax rate on labour Country 1980 2001 1980 2001 Australia 500 300 183 188 Austria 613 340 299 367 Belgium 480 402 416 479 Canada 448 356 183 254 Denmark 400 320 370 371 Finland 602 290 374 424 Germany 622 383 361 418 Greece 434 375 174 358 Ireland 450 100 279 193 Italy 363 403 436 407 Japan 526 409 143 223 Luxembourg 455 375 291 227 Netherlands 480 350 438 376 Spain 330 350 346 345 Sweden 604 280 467 448 U Kingdom 520 300 314 239 United States 496 393 294 240 OECD average 488 333 313 319 Average tax rate faced by a manufacturing employee on average income Includes personal income taxes, social security contributions and payroll taxes Quelle: Haufler, Klemm, Schjelderup (2006) Tabelle 101: Besteuerung in der OECD: Kapital vs Arbeit
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-6 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) 102 Umverteilung im Medianwählermodell 1021 Theoretisches Modell (Persson/Tabellini, Political Economics, 2002, Ch 31) Die Gesellschaft besteht aus einem Kontinuum von Bürgern, die sich im Einkommensniveau y i unterscheiden Alle Einkommen sind in diesem Modell exogen Die Gesamtbevölkerung ist auf n 1 normiert Der Staat erhebt eine lineare Einkommensteuer mit Satz τ und verwendet die Einnahmen für ein öffentliches Gut g, das von allen Bürgern im gleichen Umfang genutzt wird Alle Individuen haben die gleiche Nutzenfunktion u i = c i + ln g (101) Die individuelle Budgetbeschränkung ist c i = (1 τ)y i (102) Die Einkommensverteilung ist durch f(y i ) mit der kumulativen Verteilungsfunktion F (y i ) gegeben Der Medianwähler ist durch das Einkommen y m bezeichnet und implizit durch F (y m ) = 1/2 definiert
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-7 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Die Einkommensverteilung ist linkssteil, so dass y m < ȳ gilt, wobei ȳ das Durchschnittseinkommen ist (Dies ist ein weltweites stilisiertes Faktum ) f(y i ) y d y m ȳ y i y d : dichtester Wert, y m : Median, ȳ: Durchschnittswert Abbildung 102: Linkssteile Einkommensverteilung Die Budgetbeschränkung der Regierung ist τ ȳ n = τ ȳ = g (103) Einsetzen von (102) und (103) in (101) ergibt v i (g) = (ȳ g) yi + ln g i (104) ȳ das optimale Niveau von g für Individuum i ist dann v i g = yi ȳ + 1 g = 0 = τȳ = g = ȳ y i i (105)
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-8 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Interpretation von Gleichung (105): 1 Je höher das Einkommen von Individuum i ist, umso geringer ist das präferierte Niveau von g und damit auch der Steuersatz τ Reiche Bürger präferieren also einen kleinen Staat, arme Bürger einen großen Staat 2 Diese Präferenz ergibt sich hier, weil reiche Bürger einen höheren absoluten Steuerbetrag bezahlen, wenn der Steuersatz steigt Dagegen sind die Präferenzen für das öffentliche Gut bei allen Bürgern gleich (und der Grenznutzen von g ist abnehmend) 3 Wenn der Medianwähler die Politikentscheidung bestimmt und y m < ȳ gilt, dann ergibt sich das politisch gewählte Niveau von g aus (105) zu g = ȳ y m > 1 (106) Dieses Niveau von g ist höher, als es sich bei einer Gleichverteilung aller Einkommen ergeben würde: g = ȳ/ȳ = 1 4 Dieses Ergebnis ergibt sich sowohl im Grundmodell der direkten Demokratie als auch im Standardmodell der indirekten (repräsentativen) Demokratie Letzteres gilt, weil zwei stimmenmaximierende Parteien beide die Position des Medianwählers zum Programm erheben werden ( Kapitel 6 und 7)
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-9 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) u (g) y i g Abbildung 103: Bereitstellung öffentlicher Güter im Medianwählermodell Fazit: Unterschiedliche Gründe für umverteilende Steuerpolitik: beim Sozialplaner ist es der höhere soziale Grenznutzen armer Individuen (selbst dann, wenn es nicht mehr arme als reiche Individuen gibt); im Medianwählermodell gibt dagegen die größere Zahl armer Individuen den Ausschlag
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-10 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) 1022 Empirische Evidenz Corneo und Grüner (2002) überprüfen die Hypothesen des Medianwählermodells anhand von Umfragedaten zur Einstellung gegenüber Umverteilung Die zentrale Fragestellung ist dabei, ob ein systematischer Zusammenhang zwischen der Höhe des eigenen Einkommens und der Einstellung gegenüber Umverteilung besteht, wie es das Medianwählermodell voraussagt [Gleichung (105)] In Studien, die mehrere Länder umfassen, kann diese Hypothese nicht bestätigt werden Der Grund ist, dass hier länderspezifische Effekte dominieren So ist die Ungleichheit in den USA deutlich größer als in Deutschland und dieser Effekt müsste dazu führen, dass in USA die Forderung nach Umverteilung stärker ist als in Deutschland Das Gegenteil ist aber der Fall Tabelle 102
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-11 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Antworten auf die Frage (%): It is the responsibility of the government to reduce differences in income (strongly) neither agree (strongly) agree nor disagree disagree Australien 43 20 37 Deutschland (West) 65 15 20 Deutschland (Ost) 89 5 6 USA 38 20 42 Ungarn 75 14 11 Norwegen 60 16 24 Polen 76 11 13 Russland 65 10 25 Neuseeland 53 16 31 Kanada 48 21 31 Quelle: Corneo und Grüner, 2002, Tabelle 1 Tabelle 102: Zustimmung zu Umverteilung: Internationaler Vergleich
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-12 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) In Studien innerhalb eines Landes wird die Hypothese aber bestätigt In Deutschland ist die Forderung nach Umverteilung negativ und signifikant mit dem eigenen Einkommen korreliert Die Forderung nach Umverteilung ist außerdem geringer für Männer als für Frauen und geringer für Westdeutsche als für Ostdeutsche Schließlich hat die Zustimmung gegenüber Umverteilung zwischen 1992 und 1999 signifikant abgenommen Schätzergebnisse (Logit) für die Forderung nach Einkommensumverteilung: Gesamtdeutschland, 1992-1999 Koeffizient Standardabweichung Einkommen -0434*** 0082 Ausbildungsjahre -0016*** 0005 Mann -0226** 0089 Alter 0003 0003 Verheiratet -0049 0085 Beschäftigt 0073 0112 Frage in 1999-0645*** 0102 Ostdeutsche(r) 1271*** 0133 Ost 1999-0229 0193 *, **, *** = signifikant zum 10%, 5%, 1% Niveau Quelle: Corneo, 2004, Tabelle 7 Tabelle 103: Determinanten der Forderung nach Umverteilung: Deutschland
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-13 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) 103 Einkommensverteilung und ihre Messung (aus: Nicholas Barr: Economics of the Welfare State, 3rd ed 1998, Kap 64) Konzept der Lorenz Kurve: Die Lorenz Kurve gibt eine graphische Gesamtdarstellung der Einkommensverteilung in einem Land/einer Region Sie wird folgendermaßen konstruiert: 1 Alle Einkommen werden von unten nach oben gereiht 2 Das Gesamteinkommen des Landes/der Region wird ermittelt 3 Jeder Punkt auf der Lorenz Kurve gibt den kumulierten Anteil am Gesamteinkommen an, den der kumulierte Anteil der von unten gereihten Individuen bezieht zum Beispiel: Die einkommensschwächsten 40% der Bevölkerung haben einen Anteil von 15% am Gesamteinkommen Eine Lorenz Kurve kann sowohl für Flussgrößen (Einkommen) als auch für Bestandsgrößen (Vermögen) aufgestellt werden Abbildung 104
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-14 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) B 80 X 60 40 Per cent of income a 0 20 40 60 80 A Per cent of population Abbildung 104: Lorenz Kurve 20 015 Fläche zwischen Winkelhalbierender und Lorenz-Kurve (= X) als Maß für Ungleichheit: große Fläche = mehr Ungleichheit Maximaler Wert von X: gesamte Dreiecksfläche unter der Winkelhalbierenden = 05 Gini-Koeffizient: G = 2X mit 0 < G < 1 G=0: vollständige Gleichverteilung aller Einkommen G=1: vollständige Ungleichverteilung: das reichste Individuum besitzt das gesamte Einkommen
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-15 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Empirische Ergebnisse: Ländervergleiche Luxemburger Einkommensstudie erhebt international vergleichbarer Stichprobendaten Gini Koeffizienten der OECD im Durchschnitt um 03, höher in UK und USA, niedriger in Skandinavien deutlich höhere Gini Koeffizienten in anderen Ländern (zb Russland um 05) Abbildung 105 Entwicklung seit 1960 Abnahme des durchschnittlichen weltweiten Gini Koeffizienten von 1960-1980 (Wieder-) Zunahme der Ungleichheit seit 1980 Gini Koeffizient 1960 1970 1980 1990 Zahl der Länder 49 61 68 76 Durchschnittswert 0432 0416 0394 0409 Maximum 0640 0619 0632 0623 Minimum 0253 0228 0210 0227 Standardabweichung 0100 0094 0092 0101 Quelle: K Caminada and K Goudswaard (2001): International trends in income inequality and social policy, International Tax and Public Finance 8 (4), 395-416 Tabelle 104: Weltweite Entwicklung der Gini Koeffizienten
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-16 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Gründe für den Anstieg der Ungleichheit seit 1980: Zunehmende Lohndifferentiale zwischen qualifizierter und einfacher Arbeit (wage gap) Zwei exogene Schocks: 1 Arbeitssparender technischer Fortschritt reduziert Nachfrage nach einfacher Arbeit 2 Globalisierung (=Integration der Transformations- und Schwellenländer in die Weltwirtschaft) erhöht Angebot an einfacher Arbeit auf unregulierten Arbeitsmärkten führen diese Schocks dazu, dass der Reallohn für einfache Arbeit sinkt ( angelsächsisches Modell ) Abbildung 106a auf regulierten bzw gewerkschaftlich dominierten Arbeitsmärkten führen die gleichen Schocks zu höherer Arbeitslosigkeit von gering Qualifizierten ( kontinentaleuropäisches Modell ) Abbildung 106b empirische Evidenz für qualifikationsabhängige Arbeitslosigkeit Abbildung 107
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-17 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Lohnsatz einfache Arbeit Abbildung 106a: Arbeitsmarkt: Angelsächsisches Modell Lohnsatz einfache Arbeit Abbildung 106b: Arbeitsmarkt: Kontinentaleurop Modell
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-18 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) 16 14 12 10 in % 142 119 119 Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquote im internationalen Vergleich (30-bis 44-jährige Männer, 2001 1) ) weniger als höhere Sekundarbildung (kein Berufsschulabschluss oder kein Abitur) höhere Sekundarbildung (Berufsschulabschluss oder Abitur) 107 Hochschulbildung 8 6 4 2 0 70 26 Deutschland 39 22 Großbritannien 71 28 47 35 81 32 22 76 46 34 Finnland Frankreich Belgien Spanien 75 Japan USA Italien Irland Schweden Österreich Korea Quelle: OECD, Education at a Glance 2002: S117, Tabelle A112 36 20 74 44 18 Griechenland 1) Belgien, Niederlande, Norwegen und Österreich: Referenzjahr 2000 71 38 39 63 20 16 63 47 29 62 23 12 49 35 27 47 51 42 40 23 32 30 14 16 24 30 14 23 31 18 Dänemark Niederlande Portugal Norwegen aus: Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten?, 8 Aufl 2004, Abbildung 42 Abbildung 107: Arbeitslosigkeit und Qualifikationsniveau
Grundzüge der Wirtschaftspolitik 10-19 Prof Andreas Haufler (SoSe 2009) Auswirkungen ungleicher Vermögensverteilung: Vermögensaufbau nach dem 2 Weltkrieg wird in sehr ungleicher Form an die Nachfolgegenerationen verteilt Artikel in ZEW news, Juni 2005 Geringe Besteuerung von Kapital und Vermögen ( Abschnitt 101) Keine Ausweitung der Sozialpolitik Gründe: Budgetprobleme und die Erkenntnis, dass großzügige Sozialsysteme negative Anreizwirkungen haben