Selbsthilfegruppen: Wichtige Ressourcen in der Integrierten Versorgung Peter Nowak Kongress Integrierte Versorgung, 7.5.2014, Linz
Überblick» Die Rolle der Bevölkerung in der Gesundheit und Krankheit» PAO-Studie: Selbsthilfegruppen in Österreich» Der mögliche Beitrag der Selbsthilfe in der integrierten Versorgung» Schlussfolgerungen zur Weiterentwicklung Nowak 2014 2
Vier Funktionen der Bevölkerung in der Entstehung von Gesundheit» Produktion der eigenen Gesundheit» Selbstbehandlung vor der Konsultation des professionellen Gesundheitswesen» Koproduktion in professioneller Behandlung akuter Krankheitsepisoden» Selbstmanagement von chronischen Erkrankungen in allen vier Funktionen können Selbsthilfegruppen eine wichtige Unterstützung sein Nowak 2014 3
Selbsthilfegruppen - Patientenorganisationen Definition:» Gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen sind charakterisiert durch» Betroffenheit durch ein gemeinsames gesundheitliches Problem» Freiwilligkeit des Engagements (unbezahlt, ehrenamtlich)» stark informellen Charakter und persönliche Kommunikationsformen» keine kommerziellen Interessen» keine bestimmende Rolle von Expert/inn/en (Forster et al. 2009; vgl. auch Trojan 2003, S. 325ff) Nowak 2014 4
Die PAO-Studie - www.univie.ac.at/pao/ Ziele:» Umfassende Beschreibung des Sektors» Handlungsoptionen für öffentliche Unterstützung und Beteiligung an der Gestaltung des Gesundheitswesens» Beiträge zu theoretischen Fragen, insbesondere zu Beteiligungsfragen Methodik: umfassende Fragebogenerhebung; Interviews mit ausgewählten Gruppen u. relevanten Stakeholdern Fragebogenerhebung 2008» 1550 identifizierte Gruppen; Rücklaufquote: 40% (N=625)» Instrument baut auf Fragebögen aus UK, D und CH auf» Grundinhalte: Organisationale Strukturen, Aktivitäten, Ressourcen, Beziehungen zu anderen Gesellschaftsbereichen Nowak 2014 5
Grundbeschreibung der Selbsthilfe in Österreich Verbreitung: 20 Gruppen / 100.000 EW (D: 55-80 Gruppen) Bestandsdauer: 50% der Gruppen in den letzten 10 Jahren gegründet Problembereich:» 57% somatische Erkrankung» 18% psychische Erkrankung» 8% psychosoziale Belastungen» 4% Sucht Zielgruppe» 75 % direkt Betroffene» 12% Betroffene u. Angehörige» 12% Angehörige Organisationsgrad» 42% Informelle Gruppen» 41% Formelle Gruppen» 17% Organisationen Ressourcen: unbezahlte ehrenamtliche Arbeit als wichtigste Ressource; 66% haben ein Jahresbudget unter 2000 Euro Nowak 2014 6
Erfahrungsexpertise als grundlegender Beitrag von Selbsthilfegruppen Grundlegende Differenz von zwei Wissensformen:» Erfahrungswissen (Laienwissen): persönliches, existentielles, spezifisches und konkretes Wissen, das durch persönliche (reflektierte) Erfahrung mit einem Phänomen entsteht» Formales (Experten-) Wissen: verbalisiertes Wissen (meist als geschriebener Text), das beansprucht die Wirklichkeit zu beschreiben. Üblicherweise durch Lehrer und Forscher an Universitäten produziert» Erfahrungsexpertise ( Experiential expertise ) : Entwickelt sich durch den Austausch von Erfahrungswissen in Gruppen von Betroffenen Alleinstellungsmerkmal der Selbsthilfe Nowak 2014 7
Anwendung von Erfahrungsexpertise in drei Grundfunktionen der Selbsthilfe 1. Wechselseitige Unterstützung: klassische Selbsthilfe» Im Verstehen der Erkrankung und im Umgang mit der Krankheitsbehandlung» In der Alltagsgestaltung und Identitätsfindung» Im Aufbau unterstützender sozialer Netzwerke 2. Selbsthilfegruppen als Dienstleister für individuelle Unterstützung (Fremdhilfe)» Medical literacy: expert-patient, disease-management» Health literacy: Beratung für ein gesundes Leben mit der Erkrankung 3. Selbsthilfegruppen als Interessenvertretung in» patientenorientierter Qualitätsentwicklung und Systemgestaltung» Entwicklung von gesundheitsfördernden Gesundheitseinrichtungen, Lebenswelten und Gesamtpolitik Nowak 2014 8
Typen von Selbsthilfegruppen in Österreich nach Grundfunktionen (häufig durchgeführte) Aktivität Typ Wechselseitige Unterstützung Selbsthilfe 18 % Individuelle Unterstützung Fremdhilfe 38 % Kollektive Interessenvertretung 29 % Interessenvertretung Beratung Gesprächsgruppen zum Erfahrungsaustausch Nowak 2014 9
Einschätzung der Ressourcensituation nach ihren Grundfunktionen Selbsthilfe finanzielle Mittel von außen unbezahlte, ehrenamtliche Arbeit 16 40 23 74 37 10 finanzielle Mittel von außen Fremdhilfe unbezahlte, ehrenamtliche Arbeit 22 62 73 19 19 5 finanzielle Mittel von außen Interessenvertretung unbezahlte, ehrenamtliche Arbeit 45 74 53 23 3 2 0 20 40 60 80 100 nicht ausreichend ausreichend wird nicht benötigt Anteil der Gruppen in % Nowak 2014 10
Wie eigenständig ist die Position der Selbsthilfe in Österreich?» Produktion von Erfahrungswissen ist für fast alle Selbsthilfegruppen zentral, aber erstaunlich große Bedeutung von Fachwissen» Weite Verbreitung enger Beziehungen zu professionellen ExpertInnen» Kooperation geht einher mit tendenziellem Vorrang von Fachwissen gegenüber Erfahrungswissen Aufwertung von Erfahrungswissen» Beteiligung an Systemgestaltung scheint auf formales Wissen und enge Beziehungen zu medizinischen ExpertInnen angewiesen Entwicklung einer eigenständigen Vertretungsposition Nowak 2014 11
Zusammenfassung Beiträge und Ressourcen der Selbsthilfegruppen» SHG bieten Erfahrungsexpertise (und Fachwissen)» 2/3 der SHG setzen Aktivitäten der Fremdhilfe und Interessenvertretung» Enge Verbindung zu medizinischen Experten» Ressourcen von außen sind im Bereich Fremdhilfe und Interessenvertretung tendenziell nicht ausreichend Forderungen aus der und an die Selbsthilfe, eine zentrale Rolle in Versorgung und Systemgestaltung zu übernehmen Risiko der Überforderung & Instrumentalisierung Nowak 2014 12
Schlussfolgerung 1: Aufwertung von gesundheitsbezogenem Erfahrungsexpertise» Unterstützung des eigenständigen Aufbaus Erfahrungsexpertise in den Selbsthilfegruppen Ausbildung für GruppenleiterInnen» systematischer Aufbau von generalisiertem Erfahrungswissen» zu Gesundheitsförderung, Alltagsbewältigung und Systemnavigation Kapazitätserweiterung der Unterstützungsstellen (Länder & Bundesebene) für Wissensentwicklung Nowak 2014 13
Schlussfolgerung 2: Entwicklung Gesundheitsdienste Einbau von Erfahrungswissen in das professionelle System» Aufbau von Kenntnissen über SHG» Weitergabe von Informationsmaterialen und Verweise» Berücksichtigung von Erfahrungswissen in Behandlungsroutinen Aus- und Weiterbildung von Profis Präsenz der SHG im professionellen System (SH-freundliches Krankenhaus) Entwicklung von Kooperationsroutinen in den Organisationen, z.b. im Rahmen des Entlassungsmanagements Finanzierung von Beratungsleistungen? Nowak 2014 14
Beispiel: Selbsthilfefreundliche Gesundheitseinrichtungen (Trojan et al. 2012)» Verpflichtende Standards und Kriterien für selbsthilfefreundliche Gesundheitseinrichtungen» Anknüpfung an das Qualitätsmanagement» Nominierung von Ansprechpersonen» Formelle Kooperationsvereinbarungen» Unterstützungsstellen auf Landesebene (Kontaktanbahnung, methodische Hilfen)» Ressourcen für Koordination und Unterstützung Nowak 2014 15
Schlussfolgerung 3: Entwicklung einer eigenständigen Vertretungsposition» Entwicklung in der Selbsthilfe» Klärung von Vertretungs- und Legitimationsfragen» Ausbildung für Vertretungskompetenz und Systemwissen» Unabhängige Bereitstellung von Ressourcen für Beteiligung» Regelungen für gleichzeitige Inanspruchnahme von öffentlichen und privaten Förderungen ( Code of Conduct )» Weiterentwicklung der Gestaltungsprozesse in der integrierten Versorgung» Einrichtung von Patientenbeiräten» Spezifische Unterstützungsstrukturen für diese Beiräte Nowak 2014 16
Beispiel: Beteiligung in der Systementwicklung im PIK-Projekt (Greiner/Keclik 2004)» 3 Jahre aktive Mitgestaltung von integrierter Versorgung» Eigene Unterstützungsstruktur als Fokusgruppe Patienten» Aufgaben: Erfahrungen einbringen, eigene Maßnahmen entwickeln, Evaluationsdaten bewerten, Strukturen für eine nachhaltige PatientInnenbeteiligung entwickeln 3-5 PatientInnen GESAMTPROJEKTGRUPPE 2 PatientInnen Teilprojekt 2 PatientInnen Teilprojekt 2 PatientInnen Teilprojekt FOKUSGRUPPE Patienten Nowak 2014 17
Vielen dank für Ihre Aufmerksamkeit! peter.nowak@goeg.at Nowak 2014 18