Philosophische Fakultät Institut für Soziologie, Lehrstuhl für Methoden der empirischen Sozialforschung Ringvorlesung Einführung ng in die Methoden der empirischen ischen Sozialforschung I Theorien e der Befragung g Literatur: Häder, Empirische Sozialforschung (2010) S. 185-205 Dresden, 19./26. Januar 2010
Klassifikationen von Befragungen 1) Zugang zu den Zielpersonen Mündliche Befragungen (PAPI, CAPI) Vermutung: am ehesten gültige und verlässliche Daten, universell einsetzbar Schriftliche Befragungen (zumeist postalisch) Probleme: Wer füllt den Bogen aus, Rücklauf Telefonische Befragungen gegenwärtig am häufigsten benutztes Design, CATI Befragung per Internet, PDA, Fax und Diskette Access-Panel Forschungsbedarf! TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 2
Beliebtheit verschiedener Formen der Befragung Befragung... Zuhause 3.3 n = 14 In der Öffentlichkeit it 22 2.2 n = 68 Postalisch 2.5 n = 82 Telefonisch 2.6 n = 231 1: sehr angenehm... 5: sehr unangenehm nur Personen, die über Erfahrungen mit der jeweiligen Befragungsart verfügen Quelle: CATI-Befragung, TU Dresden, 2005 TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 3
2) Einzel- und Gruppeninterviews, Gruppendiskussionen 3) Art und Weise der Interviewführung weiche Interviews harte Interviews neutrale Interviews 4) Grad der Strukturierung (Kontinuum mit Mischformen) wenig strukturiert teilstrukturiert voll standardisiert TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 4
Umfragegestaltung galt als Kunstlehre, nun dazu auch Theorien und Entwicklung von systematischen Standards Befragung = und die Soziale Situation, die durch die Kommunikation strukturiert wird bestimmte Merkmale aufweist: a) planmäßig (versus spontan) b) wissenschaftlich (versus alltäglich) c) einseitig (versus wechselseitig) d) künstlich (versus natürlich) e) unter Fremden (Distanz!) f) folgenlos Voraussetzungen: Kooperationsbereitschaft eitschaft und gemeinsamer kultureller Kontext, Konversationsnormen beachten TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 5
Theorien der Befragung - Drei Ansätze zur Erklärung des Antwortverhaltens 1) Klassische Annahme (Holm 1974) Antwort = Wahrer Wert (Zieldimension) + Zufallsfehler + Systematischer Fehler (Fremddimensionen) + Soziale Erwünschtheit Beispiel: Wie sympathisch oder unsympathisch ist Ihnen Frau Merkel? Sagen Sie es mir bitte anhand einer Skala von 1 bis 7 (Meinungsfrage) Die Dimensionen von Frau Merkel: Weiblich, aus dem Osten, wertekonservativ, 50+ Jahre alt, geschieden, keine Kinder, protestantisch, blond, mittelgroß, CDU-Chefin, Kanzlerin usw. Antwort: 4 ZP projiziert ihr geistiges, multidimensionales Kontinuum auf die begrenzten Antwortvorgaben einer Skala. TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 6
2) Kosten-Nutzen-Ansatz (Esser 1986) Interviewverhalten wird erklärt über Soziale Anerkennung (= Nutzen) und Vermeidung von Missbilligung (= Kosten) Verständnis der Interviews als Soziale Situation Bei der die Fragen interpretiert ti t werden Der Interviewer beobachtet wird Und die ZP jene Handlungsstrategie wählt, von der sie meint, dass sich damit am ehesten ein bestimmtes Handlungsziel erreichen lässt TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 7
Können Befragte lügen (Nein!?) und gibt es überhaupt einen wahren Wert? Man kann zusammenfassen, dass Verzerrungen von Antworten nach sozialer Erwünschtheit sich als kombiniertes Resultat von Motiven, Bedürfnissen und Bewertungen einerseits (...) und gewissen Erwartungen über den Zusammenhang einer Antwort mit gewissen Konsequenzen erklären lassen. (Esser 1986:6) Typisierung i des Interviewers und der Fragen bezüglich des behandelten Themas Diese Orientierungen bestimmen die Beurteilung möglicher Handlungsalternativen (Abbruch vs. Fortsetzung, Antwort A vs. B usw.) Entscheidung ist vom Ziel einer konfliktlosen Abwicklung des Interviews geleitet Ergebnis: Die tief verankerte Einstellung ist nur ein möglicher Orientierungspunkt bei der Wahl einer Antwort, eine Vielzahl von Dimensionen sind wichtig. TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 8
Schematische Darstellung: U 1, U 2,... U n A 1, A 2,... A m p 11... p mn Verschiedene Zielsituationen (soziale Anerkennung, Bekenntnis einer politischen Haltung usw.) Handlungsalternativen in diesen Situationen (z.b. Antwortmöglichkeiten) werden bewertet Erwartungen, dass eine bestimmte Handlung A i zum Ziel U j führt Annahmen: 1. Für jede Handlungsalternative A j (Antwortmöglichkeit) erfolgt eine Gewichtung der dazugehörigen Wahrscheinlichkeit (das Produkt aus A j und p ij ). 2. Wahl der Handlung, Bildung der Summe der Produkte p ij U j (Subjektive Nutzenserwartung SEU) und Auswahl der Handlungsalternative mit der größten subjektiven Nutzenserwartung TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 9
Beispiel (frei nach Esser 1986:13): Handlungsvarianten bei einer Befragung Handlungsalternativen: A 1 = Zustimmung zu einer Aussage (z.b. positives Verhältnis zum Joggen) A 2 = Unentschieden A 3 = Ablehnung einer Aussage (z.b. negatives Verhältnis zum Joggen) Zwei Ziele: U 1 = Bekenntnis einer sportlichen Lebensweise U 2 = Erlangung sozialer Anerkennung gegenüber dem Interviewer Berechnung der subjektiven Wahrscheinlichkeiten (fiktiv) p ij : A 1 und U 1 :.80 Äußerung eines positiven Verhältnisses zum Joggen und Bekenntnis einer sportlichen Lebensweise (p 11 ) A 1 und U 2 :.00 Äußerung eines positiven Verhältnisses zum Joggen und Erlangung sozialer Anerkennung (p 12 ) A 2 und U 1 :.40 Äußerung eines neutralen Verhältnisses zum Joggen und Erlangung sozialer Anerkennung (p 21 ) A 2 und U 2 :.20... neutrales Verhältnis... soziale Anerkennung (p 22 ) A 3 und U 1 :.00... negatives Verhältnis... sportliche Lebensweise (p 31 ) A 3 und U 2 :.40... negatives Verhältnis... soziale Anerkennung (p 32 ) TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 10
Intensität der Ziele (fiktiv): U 1 : 10 = Wichtigkeit, eine sportliche Lebensweise zu signalisieren U 2 : 5 = Wichtigkeit, soziale Anerkennung durch den Interviewer zu erlangen Subjektive Nutzenserwartung (SEU) p i1 p i2 p i1 U 1 p i2 U 2 p ij U j = SEU i A 1.80.00 (.80) 10 (.00) 5 8 + 0 = 8 A 2.40.20 (.40) 10 (.20) 5 4 + 1 = 5 A 3.00.40 (.00) 10 (.40) 5 0 + 4 = 4 A 1 wird gewählt = Ich habe ein positives Verhältnis zum Joggen. Weil: Größter subjektiver Nutzen. TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 11
3) Das kognitionspsychologische Modell (Strack/Martin 1987) Zielpersonen müssen: 1) Frage verstehen 2) relevante Informationen aus dem Gedächtnis abrufen 3) auf dieser Basis ein Urteil bilden 4) dieses Urteil in ein Antwortformat einpassen / gegebenenfalls muss das Urteil vor der Weitergabe an den Interviewer editiert werden TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 12
Comprehension Retrieval Judgement Response Verständnis der Frage Abruf relevanter Urteilsbildung Formulierung Informationen der Antwort TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 13
Theorien paralleler Verarbeitungswege Verständnis der Frage Abruf relevanter Urteilsbildung Informationen Formulierung der Antwort Abruf eines fertigen Urteils TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 14
Beachte: Eindeutige und knappe Frageformulierung können im Widerspruch stehen. Für die Interpretation der Frage werden zahlreiche Quellen benutzt (z.b. Skalenbeschriftung). Informationssuche (Zufallsauswahl?) wird irgendwann abgebrochen, zuerst erinnerte Informationen haben dann besondere Bedeutung (Kontexteffekte). Unterscheide chronisch und situativ verfügbare Information. Erinnerungsleistungen und Urteilsprozesse sind zu vollbringen. Urteile liegen nur selten bereit, sie müssen zumeist erst während der Befragung g gebildet werden (Sonntagsfrage). Abrufe aus dem Gedächtnis unterliegen einer aktiven Informationsverarbeitung unter Zuhilfenahme weiterer Informationen. Einfluss von Fragestellung und Antwortvorgabe TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 15
Das Optimizing/Satisficing Modell Comprehension Retrieval Judgement Response Verständnis der Frage Abruf relevanter Urteilsbildung Formulierung Informationen der Antwort Wahrnehmung der Frage Urteilsheuristik Aktivierung von Informationen Hinreichende Antwort Bei schwierigen Aufgaben, niedriger Motivation, Ermüdung usw. Ergebnis: Wahl der Mittelkategorie Zustimmungstendenz weiß nicht -Antworten t te Abbruch TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 16
Theorien der Befragung Vier Ansätze zur Erklärung des Teilnahmeverhaltens h lt 1) Teilnahme als rationale Entscheidung ZP berechnen die Summe aus individuell gewichteten Anreizen (altruistische Gründe, Neugier, Interesse, Verfolgung individueller Ziele) und verringern sie um die Kosten (Esser 1986b:41). Mittelstandsbias: niedrige soziale Schichten: Nutzen wird gering bewertet hoch gestellte Personen: hohe Opportunitätskosten TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 17
2) Teilnahme als heuristische Entscheidung ZP investieren wegen Indifferenz und Konsequenzlosigkeit wenig Zeit und kognitiven Aufwand Heuristiken: pragmatische Entscheidungsregeln, die mit geringem kognitiven Aufwand in der Mehrzahl der Fälle zu einem sinnvollen Ergebnis führen (Stroebe/Jonas/Hewstone 2002:147) Die (Nicht-) Teilnahme an einer Befragung wird so nahezu zum Zufall TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 18
3) Teilnahme als sozialer Austausch Orientierung an den vermuteten Kosten und den vermuteten Nutzen Entscheidungstheoretisches Modell unter Unsicherheit Faktor Vertrauen beschreibt die Wahrscheinlichkeit, dass die Belohnungen die Kosten auch tatsächlich aufwiegen (Dillman 2000:14) TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 19
4) Handlungstheoretische Ansätze (Ajzen/Fishbein 1980) ToPB a) Verhaltenskonsequenzerwartungen x Bewertung der Konsequenzen b) Erwartungen der Bezugsgruppen x Bedeutung der Bezugsgruppen c) Verhaltenskontrolle x Bewertung der Wirksamkeit Verhaltensabsicht Verhalten TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 20
Teilnahme an einer Befragung: verfestigte Einstellung oder zufällige Entscheidung? Einstellung zu Umfragen -.02.03 Häufigkeit der Teilnahme an einer Umfrage.29*** Häufigkeit der Nichtteilnahme an einer Umfrage Fazit: Die (Nicht-)Teilnahme an einer Umfrage erfolgt offenbar situationsabhängig. TU Dresden, 26.01.2010 Theorien der Befragung Folie 21