Daten ÜV Internationale Beziehungen, 21.1.03 Von der Theorie zur Empirie: Das Nord-Süd-Verhältnis Die Dritte Welt existiert nicht (mehr), starke regionale Ausdifferenzierung zwischen Schwellenländern (NICs), Entwicklungsländern (LDC) und ärmsten Ländern der Erde (LLDCs), vgl. Menzel 1992 Entwicklungshilfe (ODA): 1990: $ 43.2 Mrd. 1999: $ 41.6 Mrd. Frankreich: 0,39 % BSP Deutschland: 0,26 % BSP Niederlande: 0,79 % BSP USA: 0,1 % BSP Durchschn.: 0,24 % BSP Globalisierung oder OECDisierung? Ausländische Direktinvestitionen (FDI) 1999: Welt: $ 884 Mrd. davon in entwickelte Länder: $ 699 Mrd. In Länder mit niedrigem Einkommen: $ 10 Mrd. In Länder mit mittlerem Einkommen: $ 176 Mrd. Euroland: $ 207 Mrd. Afrika südlich der Sahara $ 8 Mrd. Welthandels- und Weltfinanzströme im wesentlichen zwischen den entwickelten Ländern des Nordens, vor allem die ärmsten Länder der Erde (LLDCs) weitgehend von der ökonomischen Globalisierung abgehängt und von staatlicher Entwicklungszusammenarbeit abhängig (Beispiel Afrika südlich der Sahara: ODA = 4 % des regionalen GDP) Was ist Unterentwicklung, und wie ist sie zu erklären? Ist der Süden arm, weil der Norden reich ist? Oder ist der Süden arm, weil der Süden in traditionellen Strukturen verharrt bzw. von autoritären Herrschern regiert wird?
Erklärungsansätze Entwicklungstheorie: nicht nur IB, sondern auch Entwicklungsökonomie, vergleichende Politikwissenschaft, Entwicklungssoziologie, vergleichende Kulturwissenschaft etc. 1. Modernisierungstheorie (1960er Jahre) als Variante liberaler Ansätze: Orientierung an einem einheitlichen (westlichen) Entwicklungsmodell mit parallel verlaufenden politischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Entwicklungsstufen Ursachen der Unterentwicklung (Rostow 1960; Huntington 1968): traditionelle politisch-gesellschaftliche Strukturen des Südens : religiöse Herrschaft, rigide soziale Strukturen, keine Anreize für Innovation und Effizienz, Dominanz ländlicher Produktionsformen Modernisierung durch Weltmarktintegration: Eingliederung des Südens in den Weltmarkt vorteilhaft für wirtschaftliche Entwicklung Durchsickerungseffekte Säkularisierung, Urbanisierung, diversifizierte Arbeitsteilung etc. Kausale Logik: interne Ursachen der Unterentwicklung Weltmarktintegration als Therapie, um traditionelle Strukturen aufzubrechen Probleme: eurozentrisches Weltbild mit geschöntem Bild der europäischen Industrialisierung Beschönigung der ökonomischen Macht des Nordens, Vernachlässigung der externen Ursachen von Unterentwicklung 2
2. Dependenztheorien als Variante kritischer Theorie (u.a. Cardoso und Faletto 1979; Frank 1967; Amin 1977; Senghaas 1972, Senghaas 1974; vgl. auch die Weltsystemtheorie Wallersteins): Umkehrung der kausalen Logik der Modernisierungstheorie: externe Ursachen der Unterentwicklung (Weltmarktintegration) Süden (Peripherie) arm, weil der Norden (kapitalistische Zentren/Metropolen) reich ist Nord-Süd-Verhältnis als Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis strukturelle Heterogenität in vielen Ländern des Südens (starkes Entwicklungsgefälle Stadt-Land; exportorientierte/ weltmarktintegrierte Wirtschaftssektoren vs. traditionelle Strukturen) gegen These vom Durchsickerungseffekt gegen Freihandelstheorem: These vom ungleichen Tausch Emmanuel 1972): Nord-Süd-Handel basiert auf Austausch von Rohstoffen/ einfachen Fertigwaren des Südens gegen industrielle Fertigwaren/technologische Spitzenprodukte des Nordens Produkte des Südens verbilligen sich im Vergleich zu Produkten des Nordens terms of trade verschlechtern sich Entwicklungsstrategien: radikale Variante: autozentrierte Entwicklung und Abkopplung vom Weltmarkt (vgl. Senghaas 1977) reformerische Variante: Neue Weltwirtschaftsordnung (UNCTAD, Gruppe der 77, Rohstoffkartelle) Probleme: Zur Theorie: Stimmt der behauptete Zusammenhang zwischen dem Reichtum des Nordens und der Armut des Südens? Differenzierungsprozess der Dritten Welt Strukturalismus und Vernachlässigung der internen Ursachen von Unter- bzw. Fehlentwicklung 3
4 3. Ende der Dritten Welt - Scheitern der großen Theorien? (Menzel 1992) Differenzierungsprozeß im Süden (südostasiatische Entwicklungserfolge; Scheitern der lateinamerikanischen Importsubstitution; Verelendung und Entstaatlichung weiter Teile Afrikas) Ende der Dritten Welt? Scheitern der NWWO Verschuldungskrise der 1980er Jahre und Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank (Reduzierung der Staatsquote, Privatisierung, Liberalisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen neoliberale Theorie) Verschlechterung der Lebensverhältnisse in vielen Ländern des Südens Umsteuerung seitens Weltbank und anderer Entwicklungsinstitutionen in Richtung auf nachhaltige Entwicklung (Brundtland-Kommission 1987): breitenwirksame Wachstumstrategie, Umweltverträglichkeit, Demokratisierung und Anti-Korruptionsstrategien ( good governance ) Folgen für Entwicklungstheorie: - interne und externe Ursachen von Unter-/Fehlentwicklung und deren Zusammenwirken - neue Betonung politischer und kultureller Faktoren - Zusammenhang von Demokratie und Entwicklung: Demokratisierung und Förderung von Zivilgesellschaft als Voraussetzung statt Folge von Entwicklung (= Umkehrung des Kausalpfades der Modernisierungstheorie) - Entwicklungspolitik als Beseitigung von Massenarmut, Förderung von Zivilgesellschaft (NGOs) und good governance - sanfte Weltmarktintegration der Länder des Südens, u.a. Reform des Weltagrarmarktes in der nächsten WTO-Runde
Literatur 5 Amin, Samir 1977: Imperialism and Unequal Development, New York. Cardoso, Fernando Henrique und Enzo Faletto 1979: Dependency and Development in Latin America, Berkeley, CA. Emmanuel, Arghiri 1972: Unequal Exchange: A Study of the Imperialism of Trade, New York. Frank, Andre Gunder 1967: Capitalism and Underdevelopment in Latin America: Historical Studies of Chile and Brazil, New York. Huntington, Samuel P. 1968: Political Order in Changing Societies, New Haven. Menzel, Ulrich 1992: Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der Großen Theorie, Frankfurt/M. Senghaas, Dieter, (Hrsg.) 1972: Imperialismus und strukturelle Gewalt, Frankfurt/M. ---, (Hrsg.) 1974: Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung, Frankfurt/M.