Strafrecht Allgemeiner Teil I 9 Das vorsätzliche vollendete Begehungserfolgsdelikt Schuld Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi, LL.M., RA Vgl. DONATSCH/TAG, S. 268 ff.; STRATENWERTH, 10 N 85 ff, 11
Schuld Einordnung der gesetzlichen Regelungen I. Tatbestand II. Rechtswidrigkeit III. Schuld 1. Schuldfähigkeit a. fehlt bei: Schuldunfähigkeit (Art. 19 Abs. 1 StGB; Kindesalter) b. Sonderfall: «actio libera in causa» (Art. 19 Abs. 4 StGB) 2. (potentielles) Unrechtsbewusstsein ( kein unvermeidbarer «Irrtum über die Rechtswidrigkeit» i.s.v. Art. 21 StGB) 3. Zumutbarkeit normgemässen Verhaltens, diese fehlt bei a. entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB) Entschuldigungsgründe b. entschuldbarer Notstand (Art. 18 Abs. 2 StGB) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 2
Tötungsdelikt in Embrach Notwehrrecht weit überschritten Strafbar wegen vorsätzlicher Tötung? Silvan B., Fitnesstrainer, besuchte am 1. Dezember 2012 seine Freundin im Asyl-Durchgangszentrum Embrach. Sie standen am Hintereingang. Ausserhalb des Zentrums tauchten zwei Männer auf. Der eine, Anwar A., sei grundlos sehr aggressiv gewesen, habe das «Halsabschneiderzeichen» gemacht, seine Jacke ausgezogen, sei plötzlich über den Zaun gesprungen und bedrohlich auf S zugelaufen. S zog seine geladene Pistole, gab aus 2-3 Metern Abstand zwei Schüsse auf den Oberkörper von A ab, A blieb tot liegen. «Das unbewaffnete Opfer (A.) habe sich aggressiv verhalten, räumte der Gerichtsvorsitzende [ ] ein. Mit zwei Schüssen auf den Oberkörper [ ] habe der geübte Schütze aber das Notwehrrecht weit überschritten.» Blick vom 11.9.2015 (Vgl. OGer ZH, Urteil SB150117 vom 11. 9. 2015) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Seite 3
Tötungsdelikt in Embrach Notwehrrecht weit überschritten Strafbar wegen vorsätzlicher Tötung? Silvan B., Fitnesstrainer, besuchte am 1. Dezember 2012 seine Freundin im Asyl-Durchgangszentrum Embrach. Sie standen am Hintereingang. Ausserhalb des Zentrums tauchten zwei Männer auf. Der eine, Anwar A., sei grundlos sehr aggressiv gewesen, habe das «Halsabschneiderzeichen» gemacht, seine Jacke ausgezogen, sei plötzlich über den Zaun gesprungen und bedrohlich auf S zugelaufen. S zog seine geladene Pistole, gab aus 2-3 Metern Abstand zwei Schüsse auf den Oberkörper von A ab, A blieb tot liegen. «Das unbewaffnete Opfer (A.) habe sich aggressiv verhalten, räumte der Gerichtsvorsitzende [ ] ein. Mit zwei Schüssen auf den Oberkörper [ ] habe der geübte Schütze aber das Notwehrrecht weit überschritten.» I. TB: (+) II. Rechtswidrigkeit Rechtfertigung durch Notwehr (Art. 15 StGB)? 1. Bestehen einer Notwehrlage Angriff gegen jemand der gerade stattfindet oder unmittelbar droht Rechtswidrigkeit des Angriffs 2. Abwehrhandlung in die Rechtsgüter des Angreifers eingreifend in einer den Umständen angemessenen Weise: (-) Notwehr (-) Erforderlichkeit der Abwehrhandlung Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein Rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB)? (-), weil: III. Schuld: Entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB)? HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Seite 4
«Entschuldbare Notwehr» (Art. 16 StGB), sog. Notwehrexzess 1 Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr nach Artikel 15, so mildert das Gericht die Strafe. 2 Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff, so handelt er nicht schuldhaft. Strafzumessungsregel Schuldausschluss Prüfungsstufe Rechtswidrigkeit: Abwehrender überschreitet die Grenzen des Notwehrrechts = Art. 15 StGB (-), Abwehr ist rechtswidrig Prüfungsstufe Schuld: Kann dem Abwehrenden die rechtswidrige Überschreitung der Notwehr persönlich zum Vorwurf gemacht werden? Art. 16 Abs. 2 StGB: Überschreiten der Grenzen der Notwehr + in entschuldbarer Aufregung/Bestürzung über den Angriff = Freispruch HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 5
Grenzen der Notwehr Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren. Voraussetzungen der rechtfertigenden Notwehr (Art. 15 StGB) 1. Bestehen einer Notwehrlage Angriff gegen jemand der gerade stattfindet oder unmittelbar droht (zeitliche Grenze) Rechtswidrigkeit des Angriffs 2. Abwehrhandlung gegen den Angreifer gerichtet in einer den Umständen angemessenen Weise Erforderlichkeit der Abwehrhandlung Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein 3. Handeln mit Abwehrwillen extensiver Exzess (zu früh, zu spät) intensiver Exzess (zu heftig) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 6
Voraussetzungen des entschuldbaren Notwehrexzesses (Art. 16 Abs. 2 StGB) Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff, so handelt er nicht schuldhaft. 1. Überschreitung der Grenzen der Notwehr unstreitig (+), wenn sich der Notwehrübende bei gegebener Notwehrlage nicht auf eine angemessene Verteidigung beschränkt (intensiver Notwehrexzess) Anwendbarkeit von Art. 16 StGB umstritten, wenn eine Notwehrlage gar nicht gegeben ist (extensiver Notwehrexzess) 2. in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff entschuldigungstauglicher Affekt: (+) bei asthenischem Affekt (Affekt aus der «Schwäche»; Furcht, Schrecken, Panik etc.) ( ) bei sthenischem Affekt (Affekt aus der «Stärke»; Wut, Zorn, Rache etc.) immerhin Strafmilderung nach Art. 16 Abs. 1 StGB Entschuldbarkeit der Aufregung oder Bestürzung über den Angriff HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 7
Tötungsdelikt in Embrach Strafbarkeit von B. wegen vorsätzlicher Tötung? «Das Opfer (A.) sei aber ohne Jacke sichtbar unbewaffnet und der 25 Kilogramm schwerere Täter ihm körperlich klar überlegen gewesen. Zur Abwehr hätte er niemals schiessen oder höchstens einen Warnschuss abgeben dürfen, aber als geübter Schütze sicher nicht aus nur zwei bis drei Metern Distanz zwei Schüsse auf den Oberkörper. Eine Notwehrsituation habe zwar bestanden, der Täter habe aber unangemessen reagiert. Ein entschuldbarer Notwehrexzess könne ihm nicht zugestanden werden. Seine Tat zeuge vielmehr von einer krassen Geringschätzung des Lebens.» NZZ vom 11.9.2015 I. TB: (+) II. RW: (+) III. Schuld: Entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB)? 1. Überschreitung der Grenzen der Notwehr: (+), unangemessene (zu heftige) Abwehr bei gegebener Notwehrlage 2. in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff: entschuldigungstauglicher Affekt: (-) Schuld (+) Ergebnis: Strafbarkeit von B nach Art. 111 StGB Strafzumessung: immerhin Notwehrlage, weshalb Unrecht und Schuld der Tat erheblich vermindert sind Art. 16 Abs. 1 StGB: Strafmilderung HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Seite 8
Entschuldbarkeit der Aufregung oder Bestürzung über den Angriff gemäss Bundesgericht: muss es der rechtswidrige Angriff sein, «welcher allein oder doch vorwiegend die Aufregung oder die Bestürzung des Täters verursacht hat» müssen «Art und Umstände des Angriffs derart sein, dass sie die Aufregung oder die Bestürzung entschuldbar erscheinen lassen.» muss die Aufregung/Bestürzung hinreichend erheblich sein: erforderlich ist «dass es dem Täter aufgrund der Aufregung oder Bestürzung über den Angriff nicht möglich war, besonnen und verantwortlich zu reagieren» «umso höherer Grad entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung, je mehr die Reaktion des Täters geeignet ist, den Angreifer zu verletzen oder gefährden» (zu allem BGer, Urteil 6B_853/2016 v. 18.7.2017, E.2.2.4 m.w.n.) kann sich der Angegriffene nicht auf eine entschuldbare Aufregung für einen Angriff berufen, auf den er sich vorbereitet hat (z.b. in Erwartung eines Angriffs vorsorglich bewaffnet; vgl. BGer 26.9.2003, 6S.138/2003, E. 4.2) Vgl. auch BGE 102 IV 7; 109 IV 7 HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 9
Fallbeispiel: Messerstiche Aus heiterem Himmel beginnt der körperlich weit unterlegene B damit, den A mit Faustschlägen zu traktieren. Der völlig überraschte A zieht ein Springmesser und sticht auf B ein. B geht schwer verletzt zu Boden. Aus seiner kampfbedingten Erregung heraus versetzt A dem am Boden liegenden B noch einen Messerstich. B wird gerettet. Strafbarkeit des A? Vgl. BGE 93 IV 81; 102 IV 1; 109 IV 5; BGer, Urteil 6B_345/2013 v. 24.10.2013, E. 4.3; BGer, Urteil 6B_853/2016 v. 18.7.2017, E.2.2.4 (Fall Godzilla) Strafbarkeit von A nach Art. 123 Ziff. 1 StGB wegen des Messerstichs auf den stehenden B? I. TB: (+) II. RW: keine RFGs ersichtlich, insbesondere: Notwehr nach Art. 15 StGB (-), weil Notstand nach Art. 17 StGB (-), weil III. Schuld: Entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB)? 1. Überschreitung der Grenzen der Notwehr: 2. in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff: entschuldigungstauglicher Affekt: Entschuldbarkeit der Aufregung oder Bestürzung über den Angriff: Ergebnis: HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 10
Fallbeispiel: Messerstiche Aus heiterem Himmel beginnt der körperlich weit unterlegene B damit, den A mit Faustschlägen zu traktieren. Der völlig überraschte A zieht ein Springmesser und sticht auf B ein. B geht schwer verletzt zu Boden. Aus seiner kampfbedingten Erregung heraus versetzt A dem am Boden liegenden B noch einen Messerstich. B wird gerettet. Strafbarkeit des A? Vgl. zum restriktiven Ansatz des BGer: Urteil 6B_853/2016 v. 10.10.2017, E. 2.2.1 m.w.n. (Fall Godzilla) Strafbarkeit von A nach Art. 123 Ziff. 1 StGB wegen des Messerstichs auf den liegenden B? I. TB (+) II. RW: (+), insbesondere keine Notwehr mangels Notwehrlage III. Schuld: Entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB)? 1. Überschreitung der Grenzen der Notwehr? Problematisch: Angriff war zu diesem Zeitpunkt bereits beendet (extensiver Exzess) Anwendbarkeit von Art. 16 StGB umstritten: restriktiv: extensiver Exzess nicht erfasst (z.t. die Lehre, neuere BGer-Praxis!) grosszügig: extensiver Exzess bei geringfügigen zeitlichen Abweichungen mit umfasst (z.b. Stratenwerth 10 N 86, BSK-Seelmann, Art. 16 N 4) differenzierend: nur nachzeitiger extensiver Exzess bei geringfügigen zeitlichen Abweichungen mit umfasst (z.b. Donatsch/Tag, S. 237) Streitentscheid erforderlich Wenn Anwendbarkeit (-): Schuldspruch und KEINE Strafmilderung nach Art. 16 Abs. 1 StGB Wenn Anwendbarkeit (+) weiter mit: 2. in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff? Ergebnis: HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 11
Schuld Einordnung der gesetzlichen Regelungen I. Tatbestand II. Rechtswidrigkeit III. Schuld 1. Schuldfähigkeit a. fehlt bei: Schuldunfähigkeit (Art. 19 Abs. 1 StGB; Kindesalter) b. Sonderfall: «actio libera in causa» (Art. 19 Abs. 4 StGB) 2. (potentielles) Unrechtsbewusstsein ( kein unvermeidbarer «Irrtum über die Rechtswidrigkeit» i.s.v. Art. 21 StGB) 3. Zumutbarkeit normgemässen Verhaltens, diese fehlt bei a. entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB) b. entschuldbarer Notstand (Art. 18 Abs. 2 StGB) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 12
Einführung HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 13
Fallbeispiel: Im Schlaf erschossen Frau R, die aus dem Kosovo stammt, hatte in der Schweiz ihren Landsmann J geheiratet, sie wurden Eltern von fünf Kindern. 1989 liess sich die Familie im Wallis nieder. Da war die Ehe schon weitgehend zerrüttet und die Beziehungskrise spitzte sich zu. Ab 1993 begann J, R jede Woche mit einem Staubsaugerkabel zu schlagen. Er verbat ihr, das Haus zu verlassen, solange Spuren von den Schlägen sichtbar blieben. Ihren Pass zerriss er und drohte ihr, sie in den Kosovo zurückzuschicken, wo sie getötet werde. Im Januar 1993 sagte J zu seiner ältesten Tochter, R würde im Verlaufe des Jahres sterben. Am 30. Januar warf J ein Fleischermesser nach R und verletzte sie am Bein. R s Bruder griff ein und alarmierte die Polizei. R musste 2 Wochen hospitalisiert werden. Am 15. März 1993 kaufte J einen Revolver und teilte R mit, er werde sie damit umbringen, und dass er das auch schon getan hätte, wenn die Kinder nicht geschrien hätten. In der folgenden Nacht schlief er mit dem Revolver unter dem Kopfkissen. R nahm die Waffe an sich und überlegte lange, ob sie J umbringen solle. Sie kam zu dem Schluss, dass es für die Kinder besser wäre, wenn sie bei ihr aufwachsen würden und erschoss den schlafenden J. Strafbarkeit von R? (vgl. BGE 122 IV 1; 125 IV 55 = Pra 85 (1996) Nr. 191; vgl. auch ROSCH, AJP 2003, 549 ff.) HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 14
Fallbeispiel: Im Schlaf erschossen Strafbarkeit von R wegen vorsätzlicher Tötung gem. Art. 111 StGB durch den Schuss auf J? I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit: 1. Notwehr: (-) 2. Rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB)? Vorliegen einer Notstandslage Individualrechtsgut unmittelbare Gefahr nicht anders abwendbare Gefahr(strikte Subsidiarität der Nottat) Notstandshandlung: Abwehrhandlung zur Wahrung höherwertiger Interessen (-) Rechtswidrigkeit (+) III. Schuld: 1. entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB)? 2. entschuldbarer Notstand (Art. 18 Abs. 2 StGB)? HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 15
«Unmittelbarkeit» der Gefahr beim rechtfertigenden / entschuldbaren Notstand Eine Gefahr ist unmittelbar, wenn sie «aktuell und konkret» ist. Davon ist auszugehen, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt überhaupt nicht mehr oder nur unter erheblich grösseren Risiken abgewendet werden könnte. Entscheidend ist also nicht, ob ein Schaden unmittelbar bevorsteht, sondern ob zur Abwendung eines Schadens sofortiges Handeln erforderlich ist! Sofortiges Handeln ist daher auch dann «erforderlich», wenn eine permanente Gefahr gegeben ist, deren Schadensrealisierung zeitlich nicht exakt bestimmbar ist, die also jederzeit in einen konkreten Schaden umschlagen kann. «unmittelbar» ist somit auch eine sog. Dauergefahr, solange sie eben andauert Vgl. BGE 122 IV I = Pra 85 (1996) Nr. 191 HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 16
Voraussetzungen des entschuldbaren Notstands (Art. 18 StGB) 1 Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um sich oder eine andere Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib, Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen oder andere hochwertige Güter zu retten, wird milder bestraft, wenn ihm zuzumuten war, das gefährdete Gut preiszugeben. 2 War dem Täter nicht zuzumuten, das gefährdete Gut preiszugeben, so handelt er nicht schuldhaft. 1. Vorliegen einer Notstandslage (Interessenkollision) hochwertiges Individualrechtsgut (des Täters oder einer anderen Person) betroffen unmittelbare Gefahr nicht anders abwendbare Gefahr: strikte Subsidiarität der Nottat gegenüber jeder anderen Abhilfe 2. Unzumutbarkeit der Preisgabe des gefährdeten Gutes wenn (+): Art. 18 Abs. 2 StGB: Täter handelt nicht schuldhaft wenn ( ): Art. 18 Abs. 1 StGB: Täter wird milder bestraft 3. Handeln mit Rettungswillen («um zu») HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 17
Unzumutbarkeit der Preisgabe des gefährdeten Gutes Beachte: wenn ein Überwiegen des durch die Abwehr geschützten Interesses gegeben ist, liegt ein rechtfertigender Notstand vor für den entschuldigenden Notstand verbleiben die Fälle, in denen die geschützten Interessen entweder gleichrangig sind oder sogar das durch die Abwehr beeinträchtigte Interesse überwiegt entscheidend (und noch nicht abschliessend geklärt) ist, wo man in diesen Fällen die Grenze der Zumutbarkeit setzt HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 18
Fallbeispiel: Im Schlaf erschossen Strafbarkeit von R gem. Art. 111 StGB durch den Schuss auf J? I. Tatbestand (+) II. Rechtswidrigkeit: 1. Notwehr: (-) 2. Rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB)? Vorliegen einer Notstandslage Individualrechtsgut unmittelbare Gefahr nicht anders abwendbare Gefahr (strikte Subsidiarität der Nottat) Notstandshandlung: Abwehrhandlung zur Wahrung höherwertiger Interessen (-) Rechtswidrigkeit (+) III. Schuld: 1. entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB): (-) 2. entschuldbarer Notstand (Art. 18 Abs. 2 StGB)? Vorliegen einer Notstandslage (Interessenkollision) hochwertiges Individualrechtsgut unmittelbare Gefahr nicht anders abwendbare Gefahr (strikte Subsidiarität der Nottat) Unzumutbarkeit der Preisgabe des gefährdeten Gutes Handeln mit Rettungswillen Ergebnis: HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 19
Super-GAU am Sihlsee-Staudamm Der Sihlsee-Staudamm bei Einsiedeln wurde durch ein Erdbeben irreparabel beschädigt. Der Bruch der Talsperre steht kurz bevor. Für Zürich bedeutet das: Die Wassermassen des Sihlsees werden sich 40 Kilometer weit in das Sihltal ergiessen. Nach einer Stunde und 25 Minuten wird die Flut Leimbach erreichen. Nach einer Stunde und 50 Minuten hat sie die Innenstadt acht Meter hoch unter Wasser gesetzt. Die Überflutung Zürichs wird vier bis fünf Stunden andauern. Einen Evakuationsplan hat die Stadt Zürich nicht, die Menschen müssen sich selber helfen. Abwenden liesse sich dieses Szenario allein dadurch, dass das Wasser in eine spärlich besiedelte Richtung umgeleitet wird; allerdings würden dann die in jener Gegend wohnenden Familien (112 Personen) mit Sicherheit getötet. 20-Minuten-online vom 9. Februar 2010 HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 20
Macht sich L (Leiter des Teams für den Katastrophenschutz) nach Art. 111 StGB strafbar, wenn er das Wasser umleitet? I. Tatbestand (+), Tod von 112 Personen infolge der Wasserumleitung II. Rechtswidrigkeit: (+), insbesondere kein rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB): Vorliegen einer Notstandslage Individualrechtsgut unmittelbare Gefahr nicht anders abwendbare Gefahr (strikte Subsidiarität der Nottat) Notstandshandlung: Abwehrhandlung zur Wahrung höherwertiger Interessen (-) III. Schuld: entschuldbarer Notstand (Art. 18 Abs. 2 StGB)? Vorliegen einer Notstandslage hochwertiges Individualrechtsgut unmittelbare Gefahr nicht anders abwendbare Gefahr (strikte Subsidiarität der Nottat) Unzumutbarkeit der Preisgabe des gefährdeten Gutes Handeln mit Rettungswillen Ergebnis: Macht sich L wegen vorsätzlicher Tötung durch Unterlassen (Art. 111 i.v.m. Art. 11 StGB) strafbar, wenn er das Wasser NICHT umleitet und deswegen 20 000 Bewohner der Zürcher Innenstadt in den Fluten sterben? HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 21
Fallbeispiel: In den Zwängen der Mafia Ein 38-jähriger Litauer L hat zwischen Januar 2007 und Juli 2014 diverse «Rammbock-Einbrüche» begangen. Die Beteiligten fuhren mit gestohlenen Fahrzeugen die Türen von Fotofachgeschäften und Bijouterien ein und leerten dann die Auslagen. L wurde gefasst und in BaselvorGerichtgestellt.In der Hauptverhandlung erklärte L: «Ich wurde dazu gezwungen, Straftaten zu begehen, die russische Mafia hat mich unter Druck gesetzt». Fakt ist auch: Zwei seiner früheren Komplizen leben nicht mehr. Einer beging Suizid, der andere starb «unter unklaren Umständen». Strafbarkeit von L? HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 22
Nötigungsnotstand Szenario: Täter wird durch Drohungen für seine eigenen Rechtsgüter oder diejenigen einer ihm nahestehenden Person von einem anderen dazu veranlasst, ein Delikt zu verüben Streitpunkt: Kann eine solche Tat bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen der Art. 17 / 18 StGB überhaupt gerechtfertigt oder immer «nur» entschuldigt sein? pro Rechtfertigung: bei Wahrung des höherwertigen Interesses darf Genötigter für die Gefahrenabwendung auf Solidarität der Rechtsgenossen zählen pro Entschuldigung: Rechtfertigung würde dem Dritten das Notwehrrecht nehmen; Handeln auf Seiten des Unrechts allenfalls entschuldbar Straflosigkeit des Genötigten, wenn bei ihm die Voraussetzungen des Notstandes erfüllt sind (dies ist zu prüfen!). Aber keine «Strafbarkeitslücke»: Der Nötigende ist dann als mittelbarer Täter der von ihm veranlassten Tat zu betrachten und wegen dieser Tat strafbar (mehr dazu bei der mb Täterschaft). Vgl. DONATSCH/TAG, S. 247 f., 297 ff. HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 23