Risiko Kinderarmut Was stärkt Kinder? Emden, 31.10.2008 Dr. Antje Richter, Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.v.
Armut stellt die unterste und zugleich weit reichendste Form von Benachteiligung dar. Sie schränkt die Handlungsspielräume des Menschen gravierend ein und schließt eine gleichberechtigte Teilhabe an den Aktivitäten und Lebensbedingungen der Gesellschaft aus. Armut hat Unterversorgung in wesentlichen Lebensbereichen zur Folge.
Armut in Deutschland Jede/r 8. (jeder 4.) Deutsche lebt in Armut Quote relativer Armut in Deutschland 13% Armutsschwelle bei Alleinstehenden bei 781,- (60%-Grenze) Armutsschwelle einer vierköpfigen Familie bei 1640,-(60%-Grenze) Reich ist, wer als Alleinlebender im Monat mehr als 3418 Euro netto oder als Familie mit zwei Kindern mehr als 7178 Euro netto zur Verfügung hat Quelle: Alle Zahlen aus dem 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
Kinderarmut in Deutschland Im Juni 2007 sind deutschlandweit 1,9 Mio. Kinder (16,3%) im Hartz IV-Bezug. Im Dezember 2007 sind 2,2 Mio. Kinder (17,4%) im Hartz IV-Bezug Kinder erwerbsloser Eltern sind zu 48% arm (3. Armuts- und Reichtumsbericht)
Armut in Niedersachsen 2005 Quote relativer Armut in Niedersachsen 14,9% Stetiger Anstieg der Armutsquote 13,7% (2003), 14,5%(2004) 14,9% (2005) Soziale Mitte nimmt stetig ab (NLS)
Kinderarmut in Niedersachsen 2007 Im Juni 2007 leben in Niedersachsen 200 460 Kinder unter 15 J. im Haushalt von Hartz IV- Empfängern Jedes 6. Kind oder 16,2% der Altersgruppe in Niedersachsen ist auf Hartz IV angewiesen Armutsbetroffenheit hat je nach Wohnort und Region Spannweite von 9,8% bis zu 30,2% Quelle: Nds. Landesamt für Statistik 11/2007
Klassenwiederholung 91,6% 70,7% 29,3% 8,4% Arm Nicht-arm Nein Ja Quelle: Holz/Richter/Wüstendorfer/Giering: Zukunftschancen für Kinder. Berechnungen des ISS.
Bildungslaufbahn Bildung bzw. Ausbildung sind nach wie vor ein zentrales Merkmal der Chancenzuweisung. Soziale Ausgrenzung trifft vermehrt die ohnehin schon benachteiligten Bevölkerungsgruppen (Böhnke 2005). Kinder mit Migrationshintergrund werden beim Übergang in die weiterführenden Schulen fast automatisch abgestuft (Gomolla 2003). Vertikale Ungleichheiten bestehen hartnäckig fort. Quelle: HIS 2004
Kindertagesbetreuung Deutschland gesamt 89,9% 1) Thüringen 96% 2) Baden-Württemberg 95,5% 15) Niedersachsen 84,2% 16) Schleswig-Holstein 83,5% Kindertagesbetreuung*: Kinder zwischen 3 und 5 Jahren in Kindertagesbetreuung am 15. März 2007 und in (vor-) schulischen Einrichtungen im Schuljahr 2006/2007 Quelle: Statistisches Bundesamt; Pressemeldung Nr. 054 vom 13.02.2008
Informationsdefizite Sozial Benachteiligte wissen wenig über Risikoverhalten und die Bewältigung von gesundheitlichen Problemen Gesundheitsförderung allgemein und die Umsetzung von Empfehlungen in den Alltag Die Regelversorgung und die relevanten Ansprechpartner Bedarfe von Kindern und Jugendlichen und besondere Fördermöglichkeiten Ihre Rechte.
Gesundheitliche Einschränkungen sozial benachteiligter Mädchen und Jungen Sehen und Hören Sprachentwicklung Bewegungskoordination Bewältigungsverhalten Ernährung(-sverhalten), Zahnerkrankungen und Übergewicht Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen Impfbereitschaft
Adipositas bei Kindern und Jugendlichen (Messwerte) 16 Sozialstatus: Niedrig Mittel Hoch 14,6 12 11,2 Prozent 8 7,3 6,9 7,0 6,9 4,7 5,4 4,8 4 3,6 2,6 1,7 0 3-10 J. 11-17 J. 3-10 J. 11-17 J. Jungen Mädchen Folie und Quelle: KIGGS-Studie des Robert-Koch Instituts 2007
Armut und Ernährung Arme Kinder nehmen häufiger Limonaden, Chips und Fast-Food- Produkte zu sich als andere und leiden entsprechend häufiger an Übergewicht. Arme Kinder erhalten weniger gesunde Lebensmittel und haben schlechtere Verzehrgewohnheiten. Sie essen weniger Vollkornbrot, Obst und Gemüse. Verzehr von frischem Obst und Gemüse ist eindeutig einkommensabhängig. Ernährung ist mit 20-25% einer der größten Einzelposten im Haushaltsbudget ärmerer Haushalte Mütter aus Armutshaushalten versuchen die armutsbedingten Belastungen soweit wie möglich von ihren Kindern fernzuhalten, indem sie selbst auf vieles (auch auf eigene Nahrung) verzichten.
Quelle: Reiches Land-Arme Kinder, Regionalverbund der Erwerbsloseninitiativen Weser-Ems, 2006
Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund (FKE) Quelle: Ernährungsumschau 9/2007 Die Lebensmittelkosten für ein Kind im Alter von 4-6 Jahren(10-12 J.) liegen bei durchschnittlich 3,14 Euro (4,65 Euro). Das sind -18,22% bzw. -44,78%: Mit dem derzeitigen Ernährungsbudget kann auch bei preisbewusstem Verhalten eine gesunde Kost nicht realisiert werden. Für die Kosten der Schulernährung muss der gesamte Regelsatz (78,66 Euro) zur Deckung herangezogen werden.
Gesundheit von Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund (KIGGS 2008) Chronische Krankheiten Akute Krankheiten Ansteckende Kinderkrankheiten Allergische Krankheiten Unfallverletzungen Schmerzen Rauchen Alkoholkonsum Mundgesundheitsverhalten (Defizite) Ernährung (Defizite) Stillen (Defizite) Impfungen (Defizite) Jungen Mädchen Folie und Quelle: KIGGS- Studie des Robert-Koch Instituts 2008 Signifikant häufiger bei Migranten Signifikant häufiger bei Nicht-Migranten
Kindliche Gefährdungspotenziale im Kontext von Armut Besonders Lernbehinderungen, aber auch Sprachbehinderungen und Verhaltensauffälligkeiten Organisch bedingte, geistige, körperliche oder sinnesspezifischen Behinderungen Ausprägungsgrad der Defizite und Schädigungen höher Armut ist ein Risikofaktor!
Als Risikofaktor bezeichnet man. Bedingungen und Variablen, die die Wahrscheinlichkeit positiver oder sozial erwünschter Verhaltensweisen senken oder mit einer höheren Wahrscheinlichkeit negativer Konsequenzen einhergehen. Die Wahrscheinlichkeit einer Störung ist erhöht, aber nicht determiniert; d.h. Risikofaktoren müssen nicht zwangsläufig zu einer negativen Entwicklung führen. 6.11.2008
Kauai-Studie Prof. Emmy E. Werner et al. Begleitung einer Geburtskohorte (1955) der Insel Kauai (N=698) Längsschnittstudie (p.p., 2., 10., 18. und 30. Lebensjahr) Nutzung zahlreicher Datenquellen: Verhaltensbeobachtungen; Befragungen der Mütter, Kinder, LehrerInnen; Schul-, Polizei-, Krankenhausakten; psychologische und medizinische Tests Untersuchung mit einem interdisziplinären Team
Kauai-Studie Prof. Emmy E. Werner et al. Ursprüngliches Ziel: Erfassung der negativen Auswirkungen biologischer und psychosozialer Risikofaktoren; Definition: 4 oder mehr Risikofaktoren bis zum 2. Lebensjahr = Risikokind die Mehrheit entwickelt Lern- und Verhaltensstörungen aber: ein Drittel der Risikokinder (42 Mädchen und 30 Jungen) entwickelten sich normal invulnerable Kinder
Resilienz Unter Resilienz versteht man die psychischen Widerstandskräfte von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken.
Resilienz umfasst eine positive, gesunde Entwicklung trotz hohem Risiko-Status die beständige Kompetenz unter extremen Stressbedingungen die positive bzw. schnelle Erholung von traumatischen Erlebnissen.
Was schützt? eine warme, enge Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson die kognitiven Fähigkeiten des Individuums Körperliche Gesundheitsressourcen ein aktiver Problembewältigungsstil das Ausmaß an Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Das Gefühl von Selbstwirksamkeit
Was schützt? das Ausmaß an wahrgenommener sozialer Unterstützung Erfolg und Leistung nicht nur durch gute Schulnoten, sondern auch durch soziale Aktivitäten, die Verantwortung und Kreativität erfordern das Geschlecht - wobei sich entscheidende Wirkungen nicht per se entwickeln, sondern erst in Interaktion mit anderen entfalten
Wirkung von Schutzfaktoren abhängig vom Geschlecht und Alter Alter Kleinkind Mädchen Umgängliches Temperament Jungen Höheres Bildungsniveau, positive mütterliche Interaktion, familiäre Stabilität Mittlere Kindheit Späte Jugend (nonverbale) Problemlösefähigkeiten und das Rollenvorbild einer Mutter mit Schulabschluss und Berufstätigkeit Hohe Selbstachtung, internale Kontrollüberzeugung, und realistisches Bildungsziel Emotionale Unterstützung durch die Familie, Anzahl der Kinder in der Familie, Anzahl Erwachsener außerhalb des Haushaltes mit denen das Kind gerne verkehrt Vorhandensein eines Lehrers als Mentor oder Rollenvorbild und regelmäßige Aufgaben und Verantwortung im Familienalltag (nach Petermann u.a. 1998)
Geschlechtsspezifische Unterschiede - abhängig von anderen Faktoren Zusammenwirken von Geschlecht und Lebensalter Erziehungsorientierungen in der Familie Mädchen verfügen eher über personale Ressourcen als Jungen (Temperament, Problemlösefertigkeiten, Selbstwertgefühl) Für Jungen ist soziale Unterstützung durch andere Menschen besonders wichtig Geschlecht, Armut und Bewältigung Mädchen im Kindesalter profitieren sehr von Bewältigungsfähigkeiten der Mutter Mädchen können eher soziale Unterstützung mobilisieren (Netzwerkbildung) Mädchen verfügen eher über aktives Problembewältigungsverhalten
Faktor Alter Entwicklungsübergänge - bei Armut besonders belastend Schwangerschaft, Geburt - biologische Risiken wie niedriges Geburtsgewicht Übergang Kita Grundschule - psychosoziale Risiken im familiären und schulischen Bereich Pubertät - psychosoziale Risiken im familiären und schulischen Bereich
Faktor Alter Entwicklungsübergänge - Resilienz trotz zahlreicher Aufgaben und erhöhter Anforderungen Säuglingszeit: Sicheres Bindungsverhalten - Weniger angeborene Temperamentseigenschaften als Folge positiver oder negativer Erziehungsreaktionen Schulalter: Soziokulturelle Ressourcen - Altersangemessenes Kommunikationsvermögen, gutes Sprach- und Lesevermögen, Impulskontrolle, etc. Jugendalter: Soziale Kontakte
Schutzfaktorgruppen Persönlichkeitsmerkmale des Kindes Merkmale der engeren Umgebung des Kindes Merkmale des außerfamiliären Stützsystems (nach Garmezy)
AWO Beratungsstelle Schülerhilfe Caritas Hort im Haus des Lebens Kirchen Kindergruppe Begu Begegnungsstätte,Kinder gruppe, Fußballgruppe N=1 N=6 N=8 Kinderschutzbund Brake Beratungsstelle, Hort, Kinderbüro, Schülerhilfe, Ferienpass, Multikulturelle Kindergruppe N=6 N=20 Vereine: Sport z.b. Turnen, Fußball Handball N=5 0 N=9 Vereine: Kultur Jugendgruppe Niederdtsch. Bühne Vereine: Freizeit Jugendfeuerwehr, Schützenverein Spiel/Sportplätze Schwimmbad N=20 N=21 B`98 KIND 6 12 J. N=17 N=7 Kreismusikschule Städtische oder katholische Bibliothek Gleichaltrige N=21 N=21 N=4 1 Spielmannzug Familie (außer Eltern u. Geschwister), wie Großeltern, andere Verwandte Grundschulen wilde Spielplätze z.b. Kaje, Bahngleise, Sieltief, Innenstadt Quelle: Antje Richter: Wie erleben und bewältigen Kinder Armut? Shaker Verlag, Aachen 2000
AWO Beratungsstelle Schülerhilfe Caritas Hort im Haus des Lebens Kirchen Kindergruppe N=1 N=3 Kinderschutzbund Brake Beratungsstelle, Hort, Kinderbüro, Schülerhilfe, Multikulturelle Kindergruppe N=6 N=8 Vereine: Sport z.b. Turnen, Fußball Handball Vereine: Kultur Jugendgruppe Niederdtsch. Bühne Begegnungsstätte Kindergruppe, Fußballgruppe N=1 Vereine: Freizeit Jugendfeuerwehr Schützenverein N=4 Spiel/Sportplätze Schwimmbad N=19 N=20 A`98 KIND 6 12 J. N=2 N=1 Kreismusikschule Städtische oder katholische Bibliothek Gleichaltrige N=19 N=21 N=11 Spielmannzug Familie (außer Eltern u. Geschwister) wie Großeltern und andere Verwandte Grundschulen wilde Spielplätze z.b. Kaje, Bahngleise, Sieltief, Innenstadt Quelle: Antje Richter: Wie erleben und bewältigen Kinder Armut? Shaker Verlag, Aachen 2000
Argumente für Partizipation An den Rand gedrängt Am stärksten marginalisiert sehen sich jene Befragten, bei denen prekäre Versorgungslagen wie Armut, niedriger Lebensstandard oder Arbeitslosigkeit zusammentreffen und mit dem Verlust sozialer Beziehungen in und außerhalb von Familien einhergehen. (Petra Böhnke 2005).
Lokale Settings nutzen! Schulen Kindertagesstätten Jugendzentren Elternschulen Kultureinrichtungen Mütterberatung Familienzentren Gesundheitszentren Bürgertreffs Gemeinden (nicht nur christliche) Ist Ihre Einrichtung auch dabei?
Strategien gegen Kinderarmut Impulse für die Praxis
Die Zehn Schritte 1. Existenz von Kinderarmut auf kommunaler und regionaler Ebene wahrnehmen 2. Mehr als materielle Armut: Kinderarmut richtig einschätzen 3. Runden Tisch Kinderarmut vor Ort einrichten 4. Regelmäßige Berichterstattung über Kinderarmut einführen 5. Leistungsfähiges Netzwerk Früher Hilfen ausbauen 6. Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder ausbauen 7. Konzepte zur Elternbildung entwickeln 8. Konzepte zur Gesundheitsförderung für Kinder in Kitas, Schulen und Wohnumfeld entwickeln 9. Teilhabe sichern mittels finanzieller Unterstützung durch die Kommunen 10. Qualitätssicherung dieses Prozesses gewährleisten
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